Margret Bernreuther: geist

Jeden Morgen wenn ich die Wohnung verlasse entdecke ich unten auf der Ablage bei den Briefkästen neue Figürchen oder andere Haushaltsgegenstände.
Oft sind es kitschige aber nicht besonders hochwertige Porzelanfiguren. Manchmal ein Gewürzglasrondell, gestern stand ein Kochbuch zur Anleitung für fettreduzierte Ernährung dort.

All diese Gegenstände sind sehr bunt zusammengewürfetlt. So war neulich auch mal ein aufwendig bestickter Fächer in einer mit Stoff bezogen Schachtel dort zu finden. Auf dem Fächer zwei Pandabären die unter einem blühenden Kirschbaum spielen. Die Kiste mit goldenen und roten Stoff besponnen. Auf den ersten Blick, insgesamt ein hübsches Ding, aber trotzdem konnte die Verpackung und Gestaltung dieses Fächers, dennoch nicht die mangelnde Wertigkeit der Sache verbergen.
Es wirkte bei genaueren hinschauen eher wie ein Gegenstand aus einem günstigen Souvenirladen der gar einem AsiaShop aus der Innenstadt, bei dem neben der Tütensuppe und den Gewürzsossen, das ein oder andere Handwerkszeug verscherbelt wird.

So wie all die Dinge die dort stehen keinen kostspieligen, aber im ganzen doch vielleicht ideellen Wert darstellen. 

Hinunterstellen tut sie unser Nachbar. Da bin ich mir sehr sicher. Ich habe ihn zwar noch nie direkt dabei erwischt. Aber da wir ansonsten ein sehr junges Haus haben, bin ich mir sicher, daß die Gegenstände aus seiner Wohnung stammen.
Herr Schag wohnt im Stock über uns. Er ist über 80 Jahre alt und ist derjenige der schon immer hier gewohnt hat. Unzählige WGs und junge Menschen hat er schon ein und ausziehen erlebt.
Die früher noch regelmäßigen Hoffeste hat er immer wohlwollend vom Balkon aus mit erlebt, konnte sich aber trotz mehrmaligen einladen, nie dazu aufraffen zu uns hinunter zu kommen.

Zusammen mit seiner Frau standen sie dann also manchmal für längere Zeit am Balkon und schauten sich an, was da so alles los war in unserem Hof.
Noch nie gab es auch eine Beschwerde wenn eine Feier länger dauerte, oder gar das aufräumen am nächsten Tag allen beteiligten sehr schwer fiel und es sich bis in die kommende Woche hineinzog, das alles wieder an Ort und Stelle war.

Mit der Zeit und mit den Jahren lies aber auch die Anteilnahme vom Balkon aus immer stärker nach.
Seiner Frau ging es nicht mehr so gut. Sie wurde dement und ihr gemeinsames Konstrukt fing an zu bröckeln. Wir im Haus hatten schon einiges an Erfahrung mit dementen Bewohnerinnen.
In der Wohnung nebenan wohnte eine italienische Nona, die trotz hochgradiger Demenz noch bis ins hohe Alter in Schlappen auf ihrer Vespa zum einkaufen gefahren ist. Manchmal hat sie sich verfahren und dann gab es wieder große Sorge und die Kinder haben sie mit uns zusammen gesucht.
Irgendwann wurde den Kindern klar, daß sie ihre Mutter nicht mehr in unserer Verantwortung lassen können. Und sie ist, vermutlich zum sterben nach Italien gebracht worden.

Frau Schag die freundliche Nachbarin, ereilte kein so schönes Schicksal. Ihr Mann versuchte es eine zeitlang damit, sie einzusperren. Aber nachdem sie auch in der Wohnung dann Dinge nicht mehr so hinterlassen hat, wie er es gewohnt war und man sich nicht mehr darauf verlassen konnte, dass sie das Essen richtig kocht und überhaupt die Dnige tut, wozu man doch so eine Frau hat, hat Herr Schag sie ins Altenheim gebracht. Ich verwende seine Worte.
Ich weiß nicht wieviel Liebe da jemals im Spiel war. Und auffällig fand ich es schon immer, das wir noch nie eines der 3. Kinder bei uns im Haus angetroffen haben.

Dieses alte Pärchen, deren Leben nach Erzählungen von Frau Schag nur aus Arbeit bestand. Ich kann nicht beurteilen, ob sie glücklich waren oder nicht. Und noch weniger kann ich die Dinge beurteilen die Herr Schaag nun langsam aus der Wohnung räumt.
Für ihn anscheinend wertlose Dinge, die seiner Frau gehören.
Sie wird nicht wieder zurück kommen und er hat keine Verwendung dafür. Aber direkt in die Mülltonne werfen möchte er sie auch nicht. Dafür hängt vielleicht der Geist seiner Frau zu sehr an diesen Dingen.
So machen sie vielleicht nochmal eine Zwischenstation. In einer der WG’s. Oder so wie bei uns. Der kleine Fächer mit den spielenden Pandabären.

Würde Herr Schaag in anstatt ihn zu verschenken, seiner Frau ins Altenheim mitbringen, würde sie sich vielleicht an die Reise nach China erinnern, die sie vermutlich nie gemacht haben.


 

Margit Heumann: Nacht(un)ruhe

Tock-tock-tock. Was klopft mit dem Mitternachtsschlägen vom Kirchturm um die Wette? Pünktlich zur Geisterstunde ein Gespenst?

„Blödsinn“, denkt Alfred, „das ist mein überreiztes Gehirn.“

Tag und Nacht lassen den Waffenproduzenten seine Geschäfte nicht los. Irgendwo ist immer Krieg und es wird nicht einfacher, Exportverbote für Rüstungsgüter zu umgehen und sowohl Aggressoren als auch Verteidiger zu beliefern. Deswegen leidet er unter chronischer Schlaflosigkeit, schon seit Wochen, keine Nacht macht er ein Auge zu. Was Wunder, dass er an Halluzinationen leidet.
„Ich brauche dringend einen Arzt“, murmelt er vor sich hin.

Es klopft wieder. Diesmal an der Tür. Länger und lauter.
„Wer kann das sein?“ Seufzend wirft sich Alfred einen Mantel über und öffnet.

„Da bin ich!“ Draußen steht eine hagerer, fast durchscheinende Gestalt, Stethoskop um den Hals, OP-Maske, OP-Haube, Stirnlampe, Brille. Offensichtlich ein Arzt. In weißem Kittel mit goldenen Knöpfen, wohl ein Professor oder Primarius. „Sie haben mich gerufen?“

„Das ist … das ist ja wie Geisterbeschwörung“, stammelt Alfred. „Aber wenn Sie schon mal da sind: Ich schlafe schlecht, seit Wochen mache ich keine Nacht ein Auge zu. Ich höre und sehe schon überall Gespenster …“

„Ihnen kann geholfen werden“, antwortet der Arzt. „Schuld ist die Seele.“

„Zum Teufel mit der Seele! Ich glaube nicht an Esoterik.“

„Jeder Mensch ist von Natur aus beseelt“, erklärt der Arzt.

„Und Sie können Seelen kurieren?“

„Kurieren nicht, aber davon befreien.“

„Eine Operation?“ Der Gedanke gefällt Alfred nicht.

„So ähnlich, aber völlig schmerzfrei.“

„Ich kann es mir nicht leisten, lange auszufallen.“

„Keine Sorge! Ich verfüge über genügend Mittel, die ihre Geschäfte erst richtig anzukurbeln.“

Alfred bekommt glänzende Augen. „Solche Mittel gibt es? Her damit!“

„Moment. Sie müssen mir dafür Ihre Seele verkaufen.“

„Herzlich gern.“ Als Manager weiß er, dass es kein Geschäft ohne Gegengeschäft gibt. „Und was sind das für Mittel?“

„Kokain. Opium. Ecstasy. Speed. Sie erleichtern den Soldaten die Kriegsführung.“

Alfred begreift das Geschäftsmodell im Handumdrehen. „Genial. Je mehr Ihrer Rauschmittel ich umsetze, desto mehr Waffen werden gebraucht.“

„Und umgekehrt! Eine Win-win-Situation für uns beide. Und ohne Seele schlafen Sie trotzdem gut.“ Er hält ihm die Hand hin. „Deal?“

Alfred zögert keinen Augenblick. „Deal!“, bestätigt er und schlägt ein.
„Eine Frage noch, reine Neugier: Was wird aus meiner Seele?“

Im Weggehen macht der Mann eine gleichgültige Handbewegung. „Sie haben es ja selbst gesagt: Zum Teufel mit der Seele.“

Der Arztkittel weht hinter ihm her und das Klopfen eines Pferdehufs hallt durch die Nacht. Alfred schlottern die Knie. Er friert, als hätte ihm jemand die Kleider vom Leib gerissen.

„Da hol mich doch der Teufel“, stößt er zähneklappernd hervor und geht zurück ins Bett. „Aber das ist mir meine Nachtruhe wert.“

Das Ein-Uhr-Läuten der Kirchturmuhr hört er schon nicht mehr.

Fabian Lenthe: Langeweile

Da ich nun schon seit sechzehn Stunden im Bett lag und außer, dass ich das Radio an und wieder aus, sowie lauter und leiser gestellt, nichts getan hatte, bis auf mir zwischenzeitlich ein großes Stück Salami abzuschneiden, auf dem ich gelangweilt herumkaute, beschloss ich den Rest des Tages ebenfalls nichts zu tun. Wenn ich es geschafft hätte im Schlaf zu sterben, wäre daran nichts verwerfliches gewesen.
Im Gegenteil, man hätte mir das Stück Salami aus dem Rachen entfernt und mich wie jeden anderen leblosen Gegenstand aus der Wohnung getragen. Vermutlich hätten die Angestellten der Möbelspedition bei Kaffee und Zigarette genervt auf die Uhr gesehen, weil sich der Fahrer des städtischen Bestattungsunternehmens ausgerechnet an diesem Tag für einen Umweg entschied. Dann wäre alles ganz schnell gegangen.

Sobald sich der Reißverschluss des Leichensackes über meinem Gesicht zugezogen hätte, wären die kläglichen Überreste meiner Existenz in einem großen, leeren LKW verschwunden, in dem noch mindestens zehn ähnliche Leben Platz gefunden hätten. Doch dann klingelte es an der Tür. Ich stand nicht sofort auf, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich zuhause sei, sondern setzte ein Fuß nach dem anderen auf den Boden, schlich mich zur Tür, und spähte durch den Türspion. Zu meiner Erleichterung war niemand zu sehen. Etwas Wichtiges konnte es ohnehin nicht gewesen sein. Für wichtige Dinge sind andere Leute zuständig. Leute, denen es nichts ausmacht sich mit wichtigen Dingen zu beschäftigen. Auf dem Weg zurück ins Bett schnitt ich mir noch ein extra großes Stück Salami ab, damit ich bis zum nächsten Morgen keinen Grund mehr hatte, um aufzustehen. Dann schlief ich ein.

Margret Bernreuther: Sucht

Mit dieser Art von Einsätzen hatte ich wirklich meine Probleme.
Aber sich drücken ging nicht. Sind wir doch mal ehrlich. Niemand aus unserer Truppe hat Lust auf so einen Einsatz.
Der Ablauf ist in der Regel immer der Gleiche.
Ein Nachbar ruft an und beschwert sich wegen eines schlimmen, bestialischen, alle Alarmsignale weckenden Geruchs aus der Nachbarwohnung.
Natürlich sind da auch manchmal so Scherzbolde dabei, die anrufen um sich über die Kochgerüche der arabischen Nachbarn aufzuregen.
In so einem Fall gibt’s dann gern mal eine Anzeige, wegen grundlosen Rufens der Polizei.
Im heutigen Fall zeichnete es sich aber schon ab, das wir es mit einer gerechtfertigten Anzeige zu tun hatten.
Die Wohnung war uns zumindest nicht unbekannt. Zumindest die vermeintlichen Bewohnerinnen.
Die beiden Schwestern hatten schon mehrere kleinere Anzeigen bei uns im Computer, wegen kleinerer Delikte. Kleinere Diebstähle, Erregung öffentlichen Ärgernisses.

Die Nachbarn hatten uns informiert, dass aus der Wohnung ein furchtbarer Gestank zu vernehmen sei. Klingeln und Klopfen hätten nichts gebracht. Keine der beiden Damen öffnet die Tür.

Die Polizei kann eine Wohnung gegen den Willen des Inhabers nur betreten, wenn dies zum Schutz eines Einzelnen oder des Gemeinwesens gegen dringende Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung erforderlich ist.

Gefahr in Verzug. Umgangssprachlich.
In diesem konkreten Fall. Die Sorge der Anwohner, dass jemand in der Wohnung gestorben ist.
Ich bezweifle das. So schnell stirbt man nicht.
Trotzdem müssen wir hin und mein Kollege und ich werden zugeteilt.
Auf der Fahrt zu der Wohnung sprechen wir wenig. Mein Kollege spricht eigentlich generell wenig mit mir, aber er ist kein Arsch. Dem ist zum Glück auf eine gesunde Art alles wurst.

So eine Einstellung bewundere ich. Dienst nach Vorschrift, sich nichts zuschulden kommen lassen. Alles immer korrekt bei dem. Und noch dazu, sich deswegen nicht wichtig machen.
Hätte ich heute diesen Einsatz abgelehnt, wäre das sicher so rüber gekommen. Dass ich mich wichtig machen will. Ab und zu dürfen wir das.
Einsätze verweigern, ohne Angabe von Gründen.
Das ist ein kleiner Trick den unser Dienstleiter sicher aus irgendeinem Motivations-Seminar hat.

Lassen Sie in einfachen Dingen auch mal Fünfe gerade sein

Allzu oft brauchst du das aber nicht bringen. Und ich will auch nicht, dass jemand Verdacht schöpft, weil ich jedes Mal bei dieser Art von Einsätzen kneife.
Ich habe jetzt in meiner Dienstzeit schon echt ein paar heftige Sachen gesehen. Blut zum Beispiel macht mir überhaupt nichts aus.

Wir sind am Wohnhaus angekommen. Hier gibt es immer mal wieder Randale.
Das Viertel wird gerade von  Hipstern übernommen und die Häuser nach und nach saniert. Das Haus, wo wir heute sind, ist das letzte in dem Strassenzug, das noch nicht renoviert wurde.

Die Wohnung befindet sich im dritten Stock.
Das Eingangstor ist nicht verschlossen.

Der Vorgang ist klar: erstmal nach oben und klingeln und vehement klopfen.
Checken, ob etwas in der Wohnung zu hören ist.
Im zweiten Stock vernehme ich den Geruch schon. Es ist kein Verwesungsgeruch und ich weiß jetzt schon, was uns bevorsteht.
Der Geruch – eigentlich Gestank – ist eine Mischung aus Kompost und Zigarettenrauch.
Süß und herb. Und es reicht eine kleine Prise, um bei mir eine Erinnerungskette in meinem Gehirn freizuschalten. Schon verrückt wie stark das Gehirn auf Gerüche reagiert.
Wie gut man sie sich merken kann.

In meinem Kopf bin ich wieder 8 Jahre alt. Wir lebten damals in einem ähnlichen Mietshaus. Jeden Nachmittag, als ich von der Schule nach Hause kam, empfing mich dieser Geruch.

Meine Mutter war ein Messi.
Jemand der nichts wegschmeissen konnte.

Und da war es vollkommen egal, ob die Dinge, die sie anhäufte, einen Wert hatten.
Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter mir jemals etwas zu essen gekocht hat.

So schnell stirbt man nicht

Das Hämmern an der Tür ließ mich aus meinen Gedanken schrecken.
Die Nachbarin steckte mittlerweile ihre neugierige Nase zur Tür hinaus.
Ja, gut, dass die Polizei endlich da ist. Der Gestank ist ja wirklich nicht mehr auszuhalten.
Die zwei Frauen waren eh nicht mehr ganz sauber, sie wissen schon was ich meine.
Das war ja nur eine Frage der Zeit, bis die sich mal was antun.
„Haben sie mal die Nummer der Hausverwaltung für mich“
„Ja, Guten Tag, wir bräuchten Zugang zu einer ihrer Wohnungen“

„Ja, wir warten“

Ich habe mich immer gefragt, wo meine Mutter all das Zeug eigentlich her hatte.
Wir hatten kein Geld. Nahm ich zumindest an. Meine Mutter hat meines Wissens nach nie gearbeitet.
Ich war mit einem mir unbekannten Mann irgendwann gezeugt worden. Ich hatte noch zwei ältere Geschwister, die schon lange ausgezogen waren.

Mein Therapeut hat mir gesagt, ich muss das von mir loslösen. Meine Mutter war krank.

Der Begriff Messie-Syndrom (abgeleitet von englisch mess „Chaos, Durcheinander“) bezeichnet ein zwanghaftes Verhalten, bei dem das übermäßige Ansammeln von mehr oder weniger wertlosen Gegenständen in der eigenen Wohnung im Vordergrund steht, verbunden mit der Unfähigkeit, sich von den Gegenständen wieder zu trennen und Ordnung zu halten

Ich muss verstehen, dass das wie eine Sucht ist. Der Betroffene kann nicht damit aufhören.
Die Betroffene kann nicht mehr wichtig von unwichtig unterscheiden.
Die Betroffene kann nichts dafür, dass man vor lauter Zeug um sich herum vergisst, dass man ein Kind hat.

Der Hausbesitzer ist mittlerweile eingetroffen. Vorerst verzichten wir auf Verstärkung.
Reicht auch wenn wir die rufen, wenn wir eine oder zwei Tote in der Wohnung finden.
Der Hausbesitzer schließt die Wohnung auf. Die neugierige Nachbarin, die sich direkt hinter mir in Position gebracht hat, fängt unmittelbar das Würgen an.
Es ist genauso wie ich es geahnt habe. 

Ich betrete meine Wohnung. Verrückt, dass sich die Art von Messi-Wohnungen so wenig unterscheiden.
Damals als mich das Jugendamt zusammen mit der Polizei aus der Wohnung geholt hatte, mussten sie sich auch erstmal einen Weg zu mir freiräumen.
Ich war seit drei Tagen nicht mehr in der Schule gewesen und meine Lehrerin hatte Meldung beim Jugendamt gemacht.
Die Polizistin, die mich damals aus der Wohnung getragen hatte, roch ganz betörend gut nach Waschmittel. Manchmal denke ich mir, das ist auch der Grund warum ich Polizistin geworden bin.
Und wenn die Großwäscherei, die unsere Uniformen wäscht, irgendwann das Waschmittel ändert, kündige ich.

Mein wortkarger Kollege kann sich nicht mehr beherrschen. Er flucht, weint geradezu. Wir können die Wohnung nicht betreten.
Mit Tränen in den Augen rufe ich die Verstärkung. 
Ja, sie soll gleich der Entrümpelungsfirma bescheidgeben.

Zwei Tage lang haben die gebraucht um die Wohnung zugänglich zu machen.
Von den Frauen fehlte jede Spur.
Genau wie meine Mutter hatten sie sich in Luft aufgelöst.
Das Jugendamt konnte mir nie sagen wo sie abgeblieben war.

Margret Bernreuther: Lügen

Die Luft in den Kabinen, aus denen sie normalerweise aufs Spielfeld hinaus liefen, war zum Schneiden.
Sicherlich wird es heute noch regnen.
Auch nachdem sie die engen Gänge verlassen hatten und die Tribüne betreten hatten, veränderte das wenig an der vorhandenen Luftqualität.

Das Stadion war bis auf den letzten Platz gefüllt. Es war laut. Ich hatte sein Hemd und das Sakko bereits durchgeschwitzt und die Veranstaltung hatte noch nicht einmal begonnen.
Vier Stunden lang wird alleine der offizielle Teil der Veranstaltung dauern.
Mittlerweile ist etwas Wind aufgezogen.
Auf den Rängen sitzen tausende Menschen und singen und tanzen.
Es ist ein schöner Anblick.
Jahrelang habe ich ein bei der „University of Lecturers“ ein Fernstudium betrieben, um mich auf diesen Tag vorzubereiten. Ich bin der Beste, den sie kriegen konnten. Ich werde heute meinem Land Ehre erweisen. Auf dieser Veranstaltung, die im ganzen Land, ja in der ganzen Welt zu sehen sein wird.

Ich bin schon lange wach. Wenn ich ehrlich bin, habe ich überhaupt nicht geschlafen heute Nacht. Nachdem ich weiß, wie streng die Sicherheitsvorkehrungen sein werden, habe ich mich früh auf den Weg zum Stadion gemacht. Meine Frau und meine Kinder haben noch geschlafen. Sie werden die Übertragung später im Fernsehen ansehen.
Ich habe nicht gefrühstückt. Ich wollte niemanden wecken.
Ich kann mich nicht setzen. Die Stühle sind alle mit prominenten und wichtigen Namen versehen.
Immer wieder entdecke ich bekannte Gesichter. Schon oft habe ich bei wichtigen Anlässen gedolmetscht, aber das heute schlägt alles.
Vor 5 Tagen starb Nelson Mandela, heute wird sich die Welt von ihm verabschieden. Und ich werde derjenige sein, der die Nachricht in die Welt trägt.

Über die Stadionlautsprecher wird durchgesagt, dass Barack Obama im Stadion angekommen ist.
Die Menge rastet förmlich aus. Der schwarze amerikanische Präsident, ist für uns alle die große Hoffnung, dass sich vielleicht doch noch irgendwas in unserer Welt verändern wird.
Das Geschrei und die Gesänge sind ohrenbetäubend. In diesem Moment wünschte ich mir selbst, ich wäre taub. Meine Kehle ist staubtrocken.
Ich verstehe nicht, warum ich nichts zu trinken bekomme. Nur weil ich nicht rede?

Und nun setzte der Regen ein. Eigentlich hatte es seit Tagen nicht aufgehört zu regnen. Ein Zeichen dafür, dass auch der Himmel trauert. Die Menschen in den Rängen spannen ihre Schirme auf.
Nun werden meine Schweißflecken sicherlich niemandem mehr auffallen.
So viele Menschen sind gekommen. Staatsmenschen aus der ganzen Welt.
In ganz Johannisburg gibt es kein einziges freies Hotelzimmer mehr.
Alles musste sehr schnell gehen. Ein Freund hat mir erzählt, dass er Gäste aus seinem Hotel hatte werfen müssen, damit er Platz für den deutschen Bundespräsidenten hatte. Ich habe mir seinen Namen nicht gemerkt.
Ich muss mich nun auf meine Aufgabe konzentrieren. Das, was von mir erwartet wird.
Ich werde heute alle Reden der wichtigsten Menschen der Welt und die der Angehörigen von Nelson Mandela in die Welt übersetzen.
Gebärdensprache ist, wenn man so will, die universellste Sprache die es gibt. 


Eine Sprache, die die Welt vereint. 

Allen gehörlosen Menschen auf der Welt ist es möglich, diese Sprache zu verstehen. Ich spreche zu allen von ihnen.
Das hat mich damals auch dazu bewogen, meinen Abschluss in Gebärdensprache zu machen.
Ich wollte eine Sprache, die alle verstehen können. Und lernte sie an der Komani Schule. Ich wurde schon auf viele Feste als Dolmetscher eingeladen.

Der Regen wird immer stärker und in die Blasinstrumente der Kapelle fließt das Wasser. Gar nicht so einfach, einen Schirm und eine Tuba gleichzeitig zu halten.
Die Nationalhymne verklingt und die Trauerfeier hat nun offiziell begonnen.
Obwohl noch längst nicht alle Gäste im Stadion angekommen sind. Aber Obama, Obama ist da.
Unser Präsident ergreift das Wort.
„Mandela hat sich Regen gewünscht. Denn Regen bedeutet, dass du im Himmel willkommen bist“
Der Jubel der Gäste ist dieses Mal so laut, das es mir beinahe schwarz vor Augen wird.
Ich versuche mich, auf die Worte unseres Präsidenten zu konzentrieren.
Aber es ist so laut. Ich verstehe ihn nicht richtig. Aber ich kenne die Sprache die ich spreche.
Ich habe schon so viel Erfahrung und ich werde das einzig Entscheidende in diesem Moment machen: ich werde den Menschen Mut machen mit meinen Worten. Mit meinen Zeichen. Die Zeichen, die mir der Engel in den oberen Rängen zu verstehen gibt.

Wir alle beten gemeinsam. Wir alle singen gemeinsam. Der Regen wird immer heftiger.
Und auf einmal ist das zuvor Geschehene, als wäre es nur eine Art Aufwärmtraining gewesen.
Barack Obama betritt die Bühne und ab diesem Moment bin ich taub.
  

Şafak Sarıçiçek: Wodnew

Die Kartographen haben uns verschlafen.

Prolog

„Sie sollen Ihren Namen nennen.“
„Anton Wodnew.“
„Wo wurden sie geboren und in welchem Jahr?“, übersetzt die Dolmetscherin.
„St. Nichts-Burg, 1. Oktober 1994.“
„Sprechen Sie mir nach. Hiermit schwöre ich die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen.“
Ich spreche es nach, laut und deutlich.
„Setzen Sie sich.“

Der Richter aus dem Tao-Land blickt mich ernst an. Ich blicke unbeeindruckt zurück.

Sie wollen jetzt selbstverständlich wissen, wie ich, gebürtiger Wodnew aus Groß-Nordland, vor einem Tao-Land-Gericht gelandet bin.

Dazu müssen wir nach St. Nichts-Burg zurück. Und zwar viele Wochen. Wochen, die ich in ihrem Verlauf so nicht erwartet hätte. Nicht in meinen absonderlichsten Träumen. Das ist ganz ernst gemeint: Gestern etwa träumte ich von einem Groß-Nordland-Agenten, der eine Matrjoschka war und auseinandergezogen wurde und dessen kleinere Imitate beständig Reigen tanzten, mit Trunkenheitsflaschen in der Hand. Nein, was mir die vergangenen Wochen zustieß, ließ meine Träume alt aussehen.

TEIL I

St. Nichts- Burg

Wie schon gesagt, bin ich im immerzu frierenden Osten Groß-Nordlands, in St. Nichts-Burg geboren. Irgendwann muss die staatliche Kartographiebehörde unsere Stadt vergessen haben. Ich stelle mir vor, wie der für unseren Bezirk zuständige Beamte, kurz vor der Verzeichnung meiner Heimatstadt, einen Krampf in der Wade bekommt, der ihn schon ewig plagt und jetzt sein Fass zum Überlaufen bringt. Der gehässige Beamte beschließt, die nächste zu registrierende Stadt zu vergessen.
So muss es gewesen sein. Meine Kindheit, wie auch meine Jugendjahre verliefen zum größten Teil in diesem blinden Fleck der Weltkarte. In der Umgebung gab es einfach nichts, was für einen jungen Mann wie mich von Interesse gewesen wäre. An der Stadtgrenze sollte stehen: „Willkommen in St. Nichts-Burg. Eine famose Lebenszeit im Nichtstun erwartet Sie. Ihre  Bürgermeisterin. P.S: Wie haben Sie nur hergefunden? Die Kartographen haben uns verschlafen.“

Meine Mutter starb, als ich noch sehr klein war. Darum kann ich mich nicht an sie erinnern. Wie Sie sehen, ist es so eine Sache mit der Erinnerung in St. Nichts-Burg.

Ich weine meiner Mutter nicht nach. Es erfüllt mich nur mit einer ständigen Wut.
Früh habe ich verstanden, was die Welt für ein hungriger Ort ist, essen oder gefressen werden, auch wenn Sie das als gebildetes Publikum vielleicht belächeln.

Es ist mir äußerst zuwider, belächelt zu werden.

Dem Lachen entkomme ich zumeist, indem ich mitlache. Nur manchmal gelingt es mir nicht und Entsetzen erfasst mich, weil man mein wahres Abbild sehen könnte.

Sehen Sie, ich habe manchmal kuriose Gedanken. 

Und ich habe mich in meinem Inneren schon immer für ein Krokodil gehalten.

Denken Sie jetzt nicht, ich habe den Verstand verloren. Nein, biegen Sie ihre Mundwinkel nicht zu diesem höhnischen Lachen. Ich will mich kurz erklären.

Für mich ist das Krokodil ein Jäger, der zum Gejagten wurde. Ein wahrer Herrscher, den man in Käfige steckte, als Delikatesse verzehrte, zu einer Kinderattraktion verkommen ließ. 

Ein König in Fesseln. Ein Prädator, den man fälschlicherweise nach St. Nichts-Burg verschiffte, weil ein Beamter mit einem fiesen Krampf in der Wade zwischenzeitlich wohl in das Ministerium für Zooangelegenheiten gewechselt war und an seiner persönlichen Vendetta gegen St. Nichts-Burg weiter Gefallen fand.

Aber ich schweife ab. Wenden Sie sich nicht fort!

Ich bin mir dessen bewusst, nur eine einfache Putzkraft zu sein. Jawohl, ich stehe dazu, die Kloaken und kotverschmierten Toiletten, den von Essensresten fettigen Boden einer Fast-Food-Kette St. Nichts-Burgs vertraglich gebunden reinigen zu müssen.

Aber ich bin gebildeter Abschaum. Wissen Sie, in der Vergemeinschaftungszeit Groß-Nordlands bildete man das Proletariat aus und es gab Volksschulen. Ich schweife ab. Jedenfalls hatte mein Vater zuhause Bücher vorrätig. Jack London insbesondere. Aber auch den einen oder anderen Tolstoi und Dostojewskij. Die las mein Vater früher.
Der Sergej Wodnew, Held der Groß-Nordländischen Arbeit. Jetzt Alkoholiker.
Jawohl, er ist Alkoholiker. Ein elender Trinker.
Ich sag es offen und schreie es ihm auch gerne ins Gesicht. Elendiger ALKOHOLIKER! Zum Kotzen bist du! Zum Kotzen ist diese beschissene Bude! Ich hasse dich. Verdammt.
Es tut mir leid, ich bin zu ablenkbar, zu fahrig.

Eben ist die Staatsanwältin aufgestanden und ich muss sagen, sie ist verdammt attraktiv. Die Toilettenreinigung. Genau. Bei einer Fastfoodkette die es nur in St. Nichts-Burg gibt. Mit drei Filialen. Allesamt weiß, wie der die Stadt unter sich begrabende Schnee. Mit großen rosafarbenen Smileyinstallationen auf dem Dach, die unaufhörlich  zwinkern. Und die Reinigung obliegt mir.
Dort nahm es seinen Lauf.

An einem Montag war ich auf dem Weg zu einer Filiale. Der rosa Smiley drehte sich und grinste mir zu. Ich betrat das Gebäude. Ich machte einige Schritte in Richtung Putzkammer. Diese befand sich in der Toilette.

Ein blutverschmierter Mann lag in der Ecke der Filiale am Boden.
Sein Anzug war khakifarben. Die Krawatte mit Flecken, die ungewollt erschienen. Die Kassiererin, wie auch der einzige weitere Bedienstete des Geschäfts waren nicht zu sehen. Als wäre alles abgesprochen. Es waren keine anderen Leute im Geschäft. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit nicht verwunderlich. Die Tür zur Küche schwang dann auf und heraus trat eine mit einer Skimaske vermummte Gestalt. Nicht besonders groß, aber außergewöhnlich breit. An der Skimaske hing noch das Verkaufsetikett. Er hielt ein Jagdgewehr in der Hand und richtete es auf mich.

„Ich putze hier nur.“ sagte ich unbeholfen, noch nicht ganz begreifend, was hier passiert war.

„Dann fange in der Toilette an“ antwortete mir mein Gegenüber. Seine Stimme klang nach Stimmbandproblemen. Sie raspelte. Er war in einen schweren Pelz eingewickelt und der Saum streifte den verdreckten Boden.

„Bleib dort. Schließe die Tür und halte deine Klappe. Vielleicht erschieße ich dich dann nicht.“ Ich nickte und bewegte mich langsam zur Toilette. 

„Schneller du Scheißhaufen!“

Ich stürzte durch die Toilettentür und schwer atmend verriegelte ich sie mit meinem Angestelltenschlüssel. Es war still. Ich verharrte auf dem Boden und versuchte langsamer zu atmen. Einen kühlen Kopf zu bewahren. Eisige Nachtluft drang aus einem gekippten Fenster. Ich saß auf dem Boden. Aus irgendeinem Grund dachte ich an den Smiley der über mir und über dem Dach in die Dunkelheit von St. Nichts-Burg zwinkerte.
Inzwischen atmete ich wieder regelmäßig und wischte den kalten Schweiß auf meiner Stirn weg. Eine Tür fiel zu. Das Geräusch drang nur schwer und von fern in meinen Kopf.
Dann sah ich die Schraube. Sie lag unter dem Putzschrank.  Ich stand auf und mit dem Aufstehen entwich die Nachtluft aus meinem Kopf. Ein Blick zu dem Lüftungsschacht erhärtete den Verdacht. Mit einem Schraubenzieher aus dem Putzschrank löste ich den metallenen Schutz. Ein lederner Koffer kam zum Vorschein.
Erst traute ich meinen Augen nicht recht, doch meine Instinkte nahmen schnell überhand. Keineswegs war ich zu überrascht gestapelte Groß-Nordland-Rubelbündel vorzufinden.
Meine lebhafte Phantasie hatte diese Möglichkeit selbstverständlich als erste erdacht.

Ich überschlug die Geldbündel grob und kam zu dem Schluss etwa 4 bis 6 Millionen Groß-Nordland-Rubel in der Tasche vor mir zu haben.
Die Tasche steckte ich sofort in den Putzschrank. Schob Waschmittel und Utensilien davor, bis sie verdeckt war. Innerlich dankte ich dem Mann, mich in die Toilette eingesperrt zu haben.
In dem Moment war er für mich ein Botschafter der höheren Vorhersehung. Schicksal, wenn man so will. Die Rettungsleine aus der nicht existenten Stadt.

Was ich mir dabei gedacht habe, als ich die Tasche einsperrte, um sie später mit zu nehmen?
Gar nichts besonderes. Es war die natürlichste Handlung, die es für mich geben konnte. Kein Unterschied dazu, seine Notdurft zu verrichten.

Der Pelzmann hatte die Tasche im Lüftungsschacht nicht gefunden, sonst hätte er mich nicht in die Toilette beordert. Der wahrscheinliche Inhaber war tot, mit einer Kugel in seinem Kopf. Die Polizei würde frühestens am nächsten Morgen oder vielleicht auch niemals da sein. Die Autowege waren verschneit, die Filiale etwas außerhalb von der Stadt und es eilte nicht. 
Ich war arm. Mein Leben bisher ziemlich sinnlos und die Tasche bedeutet ungeahnte Träume, die wahr werden könnten. Einfache Mathematik.

Bei meinem Weg aus dem Fast-Food Laden heraus fiel mein Blick auf die Leiche in der  Blutlache. Das Gesicht des Toten war merkwürdig verzerrt und wirkte ein wenig zufrieden. Der Urheber dieses Ausdrucks war nirgends zu sehen. Leise stahl ich mich davon. Schloss vorher die Tür ab und zog die Rolläden herunter.

Ich habe Recht. Als ich spätabends zurückkomme, ist die Szene unverändert.

Das Blut, in dem der Typ liegt, ist zäher geworden. Die Tasche befindet sich noch immer im Putzschrank. Erleichtert atme ich auf.

Den Abend bis zum Sonnenaufgang verbringe ich am Bahnhof. Niemand ist da. Es fahren zwar Züge in die Stadt und auch welche raus, aber vollkommen ohne Plan. Sie werden von Privaten betrieben, nach dem Prinzip des organisierten Chaos. Wer Kohle hat, kommt raus. Rein kommt man nur aus Versehen oder weil man in St. Nichts-Burg geboren wird.

Ich nutze die Zeit zum Überlegen. Was ich bestimmt weiß ist, dass ich hier weg muss. Nicht nur, dass ich Verdächtiger einer Straftat bin. Ich habe auch selber mit meinem Leben in Groß- Nordland abgeschlossen.
Etwas, ein messerscharfer Gedanke durchtrennt alles was mich hier noch festhalten könnte. ICH MUSS WEG.
Aber wohin? Ich blicke um mich und hoffe auf eine Eingebung von irgendwo her. 
Lasse meine Blicke über die Geschäftsschilder schweifen. WÄSCHE steht da auf Groß-Nordländisch, RESTAURANT in neonfarbenen Buchstaben, dann wandere ich noch einmal mit meinen Augen umher. Und an zwei Wörtern bleibe ich hängen. Völlig aus dem Zusammenhang gerissen. FREE und SHOP.

FREE SHOP denke ich, Free Shop. Wieso Free Shop. Das scheint keinen Sinn zu ergeben. Und wieder fühle ich mich ferngesteuert, eine höhere Macht bedient sich meines neuronalen Schaltwerkes, meiner Synapsen, der Transmitter in meinem Gehirn. 
Die Puzzleteile fallen zusammen: FREE SHOP. Eine Kindheitserinnerung.
Ich war neun und in einer Kneipe. Mein Vater. Er trinkt. Mit seinen Freunden.

Tosendes Gelächter, debiles Stammtischlachen.
Er erzählt einen Witz. Sein Gesicht ist puterrot und Schweiß rinnt seine Stirn herunter.

„Und damals im Grenzland!“ schreit er. „Damals war noch alles gut. Zur Zeit des Groß-Gemeinschaftlichen Paktes.“ Die gesichtslosen Masken der eingeschworenen Trinkrunde nicken einhellig zustimmend. „Damals“, fährt er fort, „gab es die Free Shops. Wisst ihr noch? Da gab es den guten Kram. Das Zeugs, das man wirklich brauchte, aha haha!“.

„Verdammt, ja !“ schreit ihm einer von der gesichtslosen, in den Schatten liegenden, Menschen zu und schlägt auf den Tisch.
Er heißt Kolja, fällt mir in diesem Wachtraum plötzlich dazu ein.

„Haushaltsgegenstände, gute Zigaretten, Schnaps vom feinsten, Whiskey… Jawohl, die Free Shops“.
Mein Vater hebt drohend die Hand.
„Still! Aber…“, erhebt er seine donnernde Stimme, „wir konnten da ja gar nicht hin. Das haben ja die Politbüros so geregelt.“ Einhelliges Nicken.
„Nein. Dazu brauchten wir andere. Andere vom Groß-Gemeinschaftlichen Pakt. Die durften das.“

Eine Kunstpause. ,,Dazu nutzen wir die Tao-Länder! Hohoho, jawohl. Die Exoten waren dazu gut zu gebrauchen. Nicht? Hohoho. Von denen hatten wir ja reichlich Arbeitskräfte.“
Alle stimmen in sein Gelächter ein. ,,Genau, hohoho, die ham das für uns gemacht.“ Das Gelächter verebbt langsam.

Mein Vater wird leiser, die biergetränkte Mannhaftigkeit schwankt: „Aber die ließen sich nicht an der Nase rumführen nicht? Nee. Die waren geschäftstüchtig. Machten aus der Sache ein Geschäft die Schlitzohren. Und wir waren dann die Dummen.“

Er schweigt. Plötzlich brechen alle in ein wohlwollendes Gelächter aus. Er stimmt ein: ,,Hohoho“.

Die Erinnerung stürzt wie ein kaputtes Gebäude zusammen.

Zwei Scheinwerfer scheinen in die Gegenwart, ein Zugzielanzeiger verkündet:

TAO–LAND

Ich steige ein.