Juli Kling: Sommerfrische

Mein Freund Tobi verbringt die Sommerfrische am liebsten in Südengland. Er packt seine Reisetasche, bucht sich ein Zugticket nach London und fährt von dort aus weiter Richtung Cornwall. Am häufigsten zieht es Tobi auf die Halbinsel Lizard, wo man kilometerlang an den Steilküsten entlanglaufen kann und wo die rauen Felswände schimmern wie die Schuppen einer Eidechse. Schon Virginia Woolf hat gerne Urlaub in Cornwall gemacht und wenn sie keine überzeugende Referenz ist, dann ist es Tobi.

Man kann Tobi als einen Mann in den besten Jahren bezeichnen. Er schätzt rohköstliche Ofengerichte, trägt vorzugsweise Bootcut-Jeans und seine größte Schwäche sind Hunde. Für die würde er vermutlich alles andere stehen lassen. Während meiner eigenen Reisen sende ich Tobi hauptsächlich Fotos von Hundebegegnungen, denn damit bin ich garantiert auf der sicheren Seite. Wenn ich ihm Bilder von örtlichen Sehenswürdigkeiten schicke, stellt er mir daraufhin oft Fragen, die ich nicht beantworten kann und dann schäme ich mich, weil ich mich nicht eingehend informiert und stattdessen meinen halbseidenen Gedanken nachgehangen habe.

Manchmal setzen Tobi und ich uns zusammen im Kontumazgarten an die Pegnitz. Wir trinken mitgebrachten Rotwein, essen Snacktomaten und reden über das Leben. Für gewöhnlich geht es bei diesen Gesprächen vor allem um mein Leben, in dem mal wieder irgendetwas im Argen liegt. Tobi besitzt eine hervorragende Beobachtungsgabe und man kann ihm nichts vormachen. Meistens erkennt er bereits auf den ersten Blick, wie es gerade um mich bestellt ist und was man in dieser oder jener Situation tun kann. Falls Tobi nicht sofort einen Ratschlag für mich parat hat, hört er einfach zu. Auch das kann er ausgesprochen gut. Er guckt unterdessen verträumt aufs Wasser, nippt vorsichtig an seinem Weinglas und macht einen ungemein besonnenen Eindruck. Überhaupt ist Tobi ein sehr feingeistiger Mensch und in den Unterhaltungen mit ihm kann man einiges lernen. Mit seiner Kunstexpertise schlägt er mein halb verflossenes Studienwissen um Längen, seine Kenntnisse der Architektur sind bemerkenswert und das britische Königshaus ist sein persönliches Spezialgebiet. Außerdem mag er Filme. Nur keine von und mit Lars Eidinger. Den hasst er abgrundtief, aber das halte ich für absolut berechtigt.

Wenn Tobi Ferien in Cornwall macht, zieht er jeden Morgen seine bequemen Sandalen an und erkundet die Gegend. In meiner Vorstellung trägt er auf seinen Entdeckungstouren ein blau-weiß gestreiftes T-Shirt, rückt ab und zu seine Sonnenbrille zurecht und sieht so richtig nach Urlaub aus. Er besucht Museen und Galerien, bewundert Kirchen und Kapellen und nicht selten verliert er sein Herz an ein Gebäude, das die meisten Menschen schlichtweg übersehen würden. Gelegentlich verläuft er sich in den Irrgärten der englischen Renaissance, doch weil Tobi stets nach rechts und links schaut, findet er schnell einen Weg hinaus. Anschließend wandert er auf dem Küstenpfad an sattgrünen Hügeln und verschlafenen Schafen vorbei bis zu seiner Lieblingsbucht. Sie liegt abgeschieden zwischen zwei malerischen Fischerdörfern und an glücklichen Tagen ist Tobi der einzige Besucher. Kaum am Strand angekommen, zieht er die Sandalen aus, stellt er seine Füße ins Meer und lässt sich den salzigen Wind um die Nase wehen. Und während er andächtig über den stürmischen Ozean blickt und die turmhohen Wolken am Himmel mustert, vergisst Tobi die bedrückende Hitze der Stadt und die Verantwortung auf seinen schweren Schultern und atmet ganz tief und lange ein.

Ich glaube, dass die Sommerfrische in Cornwall sehr heilsam sein kann. Und vielleicht sollte ich mich baldmöglichst um ein Zugticket kümmern und nach Südengland reisen. Vielleicht brauche ich ein bisschen saubere Luft in der Brust, um die es mir momentan viel zu oft eng wird. Eine kühle Brise, die durch die halbseidenen Gedanken rauscht und mächtig Staub aufwirbelt. Eine freie Sicht auf schimmernde Felsen und meterhoch schlagende Wellen, die sogar einen Frachtcontainer voller Erinnerungen im Handumdrehen fortspülen könnten. Nächstes Wochenende treffe ich Tobi wieder und dann werde ich ihn fragen, wo er seine Sandalen gekauft hat.

Jörg Hilse: ABBAstan

Anfangs fühlte sich Jonas Neum etwas unwohl, wenn er daran dachte den Urlaub in einer Stadt zu verbringen, in der es nicht üblich war mit Bargeld zu bezahlen.
Aber als in der Küche immer öfter ABBA statt wie sonst meistens Helene Fischer zu hören war, wenn seine Frau abwusch, sagte er „Na gut, fahren wir“ und Sie buchte im Internet eine Woche Stockholm. Jonas Neum war beruhigt die Sache seiner Frau überlassen zu können und nur seinen Teil der Kosten zu übernehmen. Er fand das Ganze zu kompliziert weil man seinem Gefühl nach, hunderte von Passwörtern dafür zu brauchen schien. So überließ er solche Dinge stets ihr wenn es ging, floh geradezu innerlich davor, fast wie einst der biblische Jona vor den Weisungen Gottes. Um so mehr wusste er, wie sehr er ihr diesen Urlaub schuldig war, denn Sie wollte unbedingt einmal ins ABBA Museum. Und wenn man gerne Bücher liest, so wie er es tat, lernt man viel über die Kraft von Träumen und Wünschen.
Zwei Tage bevor es los ging fand er beim Durchblättern eines Reiseführers etwas das seine Aufmerksamkeit erregte. Das wollte er sich ansehen. Am frühen Dienstagmorgen flogen Sie los und einen Vormittag später öffneten sich für beide die Pforten des ABBA Museums. Für seine Frau war es überwältigend. Sie sahen die Kostüme die die Vier bei ihren Auftritten getragen hatten und hörten von den Videoleinwänden die Entstehungsgeschichte der Band. Am Beeindruckendsten fand sie den Nachbau des ehemaligen Tonstudios mit seinem riesigen Mischpult. Eine Sache erinnerte beide an ihre Urlaube in England. Kein Museum ohne großen Souvenirshop.
„ Mekka nährt sich von den Pilgern und die Pilger nähren sich von Mekka“ meinte Jonas als seine Frau ein ABBA T Shirt mit zur Kasse nahm. Kurz darauf ergab sich allerdings eine ungeahnte Möglichkeit wieder Geld zu sparen. Zurück in der Altstadt, die Gamla Stan genannt wird, entdeckte Sie einen großen IKEA und sagte „ Irgendwie hab ich jetzt Lust auf Köttbullar.“ Deine Idee klingt ein bisschen nach dem Film „ Memphis Belle“ erwiderte Jonas. „ Wie meinst Du das“ fragte Sie. „ Weißt Du noch, die eine Szene : „ Wenn ich nochmal von Deiner Idee höre, das Du nach dem Krieg eine Schnellimbiss-Kette aufmachen willst, hau ich dir eine rein. Niemand will in einer anderen Stadt das Gleiche essen.“ Antwort: „Oh doch, es ist so beruhigend“ Sie lachten und gingen dann hinein. Beim anschließenden Bummel durch die Strassen fragte Jonas: „ Können wir vielleicht zu diesem Denkmal gehen, das ich im Reiseführer gefunden habe?“
Es war gar nicht weit zu dem kleinen Platz mit der Adresse Mosebacketorg 1-3.
Die mannshohe Skulptur zeigte zwei Frauen, Rücken an Rücken stehend, eine von Beiden hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt, die Andere schien etwas zu tragen.
Ein kleines Schild, unten auf dem kurzen Sockel verriet den Namen der Skulptur und des Künstlers der es geschaffen hatte. Systrarna- die Geschwister, Nils Sjögren 1945.
Jonas setzte sich auf eine Bank in der Nähe und las noch einmal den Wikipedia Artikel darüber was den Künstler inspiriert hatte diese Skulptur zu schaffen.
Es erinnerte an ein tragisches Ereignis das sich 1911 in Stockholm ereignet hatte. Zusammengeschnürt, Rücken an Rücken ertränken sich zwei junge Frauen gemeinsam im Hammarby See. Die Zeitung „ Dagens Nyheter“ schrieb das die Beiden „ eine herzliche Freundschaft in Zusammenhang mit etwas Überdrehtem“ gehabt hätten. „ Sie hatten ihre Körper an den Hüften zusammengebunden und ihre Säcke mit Steinen gefüllt, um sie mit ihrem Gewicht in die Tiefe zu ziehen- daraus ging hervor dass die beiden jungen Mädchen gemeinsam den Tod gesucht und gefunden hatten.“ Der Wikipedia Artikel erwähnte noch, dass die Skulptur heute als Symbol der Erinnerung an die Diskriminierung von Schwulen, Lesben und Transgender Menschen in der Queeren Bewegung gilt.
Still saß Jonas auf der Bank in der Sonne und dachte in diesem Moment an viele seiner Kollegen.
An Jens, den Zugbegleiter aus Köln mit dem er seine letzte Schicht vor dem Urlaub nach Brüssel gefahren war. Wie selbstverständlich, begrüßte ihn ein anderer Kollege mit den Worten „ Hallo Jens, wie geht’s Deinem Mann?“ An die Autorin Sabine Brandl aus München, die einmal auf einer Buchmesse gebeten wurde, ihre Bücher vom Tisch ihres Verlages zu entfernen, nur weil Sie lesbische Liebesgeschichten schrieb, an denen nichts auch nur entfernt Anstößiges war. Jonas mochte ihre Erzählungen. Sie handelten von der Suche nach Freundschaft und Liebe , den Schwierigkeiten und den Enttäuschungen die jeder in Sachen Partnerschaft erlebt. Dann kam ihm ein anderes Denkmal in den Sinn, das er einmal zu Hause in Frankfurt gesehen hatte. Es erinnerte an das grausame Schicksal jener KZ Häftlinge die mit einem rosa Winkel an der Kleidung gekennzeichnet wurden, nur weil ihr „ Verbrechen“ darin bestand Männer statt Frauen zu lieben. Nicht wenige von den Juristen die sie damals in die Lager schickten durften nach 1945 weiterhin solcherlei „Recht“ sprechen, der berüchtigte Paragraf 175 wurde erst 1994 endgültig abgeschafft.
Kurz bevor er sich wieder erhob fiel Jonas noch ein Gespräch ein. Einmal, am Kölner Hauptbahnhof hatte er Pause und zwei Kollegen beratschlagten dort ihre Teilnahme am Christopher Street Day.
Sich schrill und laut zu gebärden, so wie dort war eigentlich nie Jonas Sache gewesen, er war nie in der Lage sich in einen derartigen Zustand der Euphorie zu versetzen. Er liebte eben die Stille und seine Bücher.
Doch hier in Stockholms Strassen, vor dieser Skulptur Nils Sjögrens, verstand er warum man dort buchstäblich mit Pauken und Trompeten für die sexuelle Gleichbehandlung demonstrierten musste.
Weil niemals und nie mehr ein Mensch ausgegrenzt, verurteilt oder gar in den Tod getrieben werden durfte, nur weil er anders fühlte und liebte, als der Andere.

Benjamin Weissinger: HOLZ BALANCE MIT [Estragonmilch] weitere Personen

In einer Klasse wird gefragt, was die jeweiligen Großeltern der Kinder besonders gut kochen oder anders zubereiten können – oder konnten. Als Ira als letzte an die Reihe kommt, fällt ihr nichts ein. Sie hat auch gar keine Großeltern. Da sagt sie halb in ihre Hand: „Estragon Milch“. Die Lehrerin ganz laut: „Was? ESTRAGONMILCH? Das kann ich mir ja garnicht vorstellen.“ Ira wird rot, die Kinder feixen, rufen „wäh“, diese Dinge. Doch die Lehrerin kniet sich zu Ira hin und sagt, dass sie es nicht böse gemeint habe und alles gut sei. Dann macht die Klasse mit etwas anderem weiter.

Als Ira mittags nach ihrem Hause eine Straße entlang geht, findet sie nicht, dass alles gut ist. Ich kann mich schon gar nicht daran erinnern, wenn einmal alles gut war. Und das mit der Milch war nicht die Wahrheit, aber etwas Erfundendes ist besser, als wenn man gar nichts hat. Da geht sie an der geöffneten Tür einer Kneipe vorbei, vor der ein riesiges Fahrrad steht. Innen hört sie einen gehörigen Händel und zersplitternde Holzmöbel. Schließlich kommt, ganz zerzaust, der drei Meter große Zimmersmann herausgewankt. Fast läuft er Ira über den Haufen, die sich vor lauter Staunen nicht rühren kann. „Huch“, brummt er, „pass doch auf, sonst walz ich dich noch platt.“ „Schön und gut, aber was war denn da drinnen los“, fragt Ira forsch. Ein Lächeln, das man nicht sehen kann, huscht über das grimmige Gesicht des Zimmersmanns. „Ach, nur ein kleiner Händel. Alles gut, mein Kind.“ „Ich heiße Ira und es IST NICHT ALLES GUT!“ Der Zimmersmann wird ernst. Nach einer Pause sagt er: „nein.“ Und: „hier, eine Kastanie“. Die Kastanie ist sehr groß, schön glatt und sieht als wie poliert, so wunderschön rotbraun leuchtet sie. „Darfst sie behalten, Ira. Hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Ich muss los.“ Als der Zimmersmann gerade losfahren will, ruft Ira: „du bist doch sicher schon an vielen Orten gewesen.“ Er hält an und dreht sich zu ihr um. „Das will ich meinen.“ „Hast du schon mal Estragon M.. magst du Estragon?“ Der Zimmersmann nickt und Ira lächelt zufrieden.

Die Lehrerin hat sich zuhause Estragonmilch in einem Vergleich der Berge gemacht und befüllt ein HOLZ BALANCE MIT ESTRONG MILCH BEHANG VOLL in der zoterharensik und dort gekordelt in den sportkordelonmmnm. ESTRANK heißt das Gemank. Die Lehrerin denkt, mit dem Experment sei alles gut. Doch manchmal ist auch weniger schon Mut.

Andii Weber: Daten


Meine Armbanduhr zeigt 17:08 Uhr an, der Bus ist bereits zwei Minuten zu spät. Der Bahnhofsvorplatz wirkt übersichtlich: Eine Bushalteschleife, ein etwas in die Jahre gekommener Gasthof und irgendwo den Hügel hinunter die große Sehenswürdigkeit: Eine Pyramide aus Trinkgläsern, aufgestellt von der örtlichen Glasfabrik, um sich einen Platz im Guinnessbuch zu sichern. Über die Jahre sind mehr als ein paar dieser Gläser durch bloße Langeweile zersprungen, jetzt hat diese Dorf-Monstranz Löcher und Mäkel und sieht eher traurig als repräsentativ aus.

Ich schaue noch einmal auf den Busfahrplan; Abfahrt 6 nach, stimmt schon. Und sicherlich ist in den letzten 10 Minuten hier kein Bus abgefahren, das hätte ich mitbekommen. “Wo soll’s denn hingehen?” Eine krächzende, zigarettenrauchbelegte Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ich wende meinen Kopf vom Fahrplan ab und blicke in ein Gesicht mit  grau-braunem Schnauzbart, einem Bluetooth-Headset und einer runden Nickelbrille, aus der ein gelbes und ein trübes Auge in unterschiedliche Richtungen herausschauen. Ich möchte nicht reden müssen, aber der knubbelige Mann schaut mich erwartungsvoll an. Vielleicht kann ich einen ortskundigen Rat gerade gut gebrauchen. „Nach Rottenbach, Tiefecker Straße.“ „Ah, da kannst du gleich bei mir mitfahren.“ Der Mann wippt nach vorn, bläst Rauch in die Luft und nickt in Richtung eines geräumigen VW-Busses. „Danke, aber ich glaube, mein Bus müsste gleich kommen. Den nehme ich dann einfach.“ – „Was für ein Bus ist das denn?“ – „Die Linie 13 nach Steigen am Berg.“ – „Ja, das ist meine Linie und wenn du die nehmen willst, steig ein, ich fahr jetzt nämlich los!” Weder der Mann noch das Gefährt sehen nach Linienbus aus: Die Duftbäume im Fenster, die Aufkleber mit Wildmotiven am Heck des Wagens, das schmierige Bluetooth-Headset am Ohr des Mannes, das schiefe Grinsen. Doch es ist bereits 10 nach, und Unpünktlichkeit widerstrebt mir so sehr, dass ich wortlos die Schiebetür des Wagens öffne und mich auf einen der Sitze installiere. Der Mann nickt, steigt ein, dreht das Radio auf und startet.

Zu meinem Erstaunen hält der Bus tatsächlich an jeder planmäßigen Haltestelle, wartet für einige Augenblicke und bewegt sich dann träge weiter zur nächsten. Manchmal stehen auch Menschen an der Bushaltestelle, doch sie scheinen nicht einsteigen zu wollen und blicken nur weiter die Straße hinauf, von wo der Bus herkam. So geht das viele Stationen lang. Ich presse meine Nase gegen die rußverschmierten Fenster und sehe den Schatten der Bäume zu, wie sie am Fenster vorbei getragen werden. Ein kleiner Bachlauf rauscht braun parallel zur Straße. Der immergraue Himmel scheint festgepinnt zu sein von den einzelnen herausragenden Bäumen an den wulstigen Steinkissen, die sich in die Laubhaufen hineinfragmentieren. 

Eine eigenwillige Idee, mich in ein Jagdhaus einzuladen für ein erstes Date. Warum wohnt man in dem Alter wohl so weit draußen im 0? Aber auf eine Art passt es: Lili versteht es, durch eine bemerkenswerte Offenheit und punktuelle Informationslücken eine mysteriös vibrierende Aura um sich zu radiieren. Oft genug blinken die 3 Punkte unterm Namen stundenlang auf, die Schreibaktivität anzeigen, ohne Nachricht. 

Der Bus fährt vorbei an einem verlassen wirkenden Grillhaus und hält dann schließlich. Der Bluetooth-Mann dreht sich eulengleich nach hinten um und bedeutet mir, auszusteigen. Ich blicke auf mein Handy. Unweit der Bushaltestelle muss es einen Eingang in den Wald geben. Der Pfad ist wurzelig, asynchron und windet sich um zahllose gefallene Bäume.

Nach etwa 23 Minuten (laut Google) muss ich den Weg verlassen, um das Haus zu erreichen. Ich vertraue der Triangel auf meinem Display, die mich bisher noch an jedes Ziel gebracht hat und biege ab Vorbei an gefallenen Bäumen mit tetraedrischen Schnittstellen. Auf einer Lichtung dann :::: Ein etwas in die Jahre gekommenes, doch durchaus hübsches Blockhaus mit einer kleinen roten Bank davor und einem Ziegenschädel mit Hörnern, der einen dreieckigen Schatten über die Tür wirft. Es gibt keine Klingel, mein Klopfen hilft nichts. Die Vorhänge sind zu. VVVielleicht gibt es ja einen Hintereingang. Aus der Rückwand kommen dicke, Rote Leitungen aus den Holzwänden und bohren sich wie Würmer in den tiefschwarzen Waldboden. Sind das Starkstromleitungen? Ich gehe wieder zur Tür und klopfe erneut. Es tut sich wieder nichts. Ich drücke die Türklinke hinunter, die Tür gibt nach und geht auf.

Innen riecht es transistorisch-klamm nach feuchtem Filz und angesengtem Plastik. Es ist außerdem erstaunlich warm, obwohl der Ofen nicht eingeheizt ist. Einige pixelige Ölbilder von Wildtieren hängen an der Wand, und am Boden liegen auf dem grünen Teppich Kabel, die von allen Seiten des Raumes Richtung Treppenaufgang laufen. Die Treppe selbst ist steil und klein und kaum benutzbar mit all den bunten Kabeln, die an ihr hoch ins Obergeschoss führen. Vor allem sind es diese gelben LAN-Kabel, die ich nur zu gut von meiner Arbeit kenne. Einmal hat der komplette Server meines Büros den Geist aufgegeben, und es hat mich mehr als 1 Woche gekostet, den Server wieder zum Laufen zu bringen. Das waren die schlimmsten Tage meiner bald 20-jährigen Karriere. In meiner Erinnerung bin ich tagelang damit beschäftigt gewesen, eben solche LAN-Kabel an- und abzuklemmen, bis ich das fehlerhafte Datenkabel endlich ausfindig gemacht hatte und durch ein neues ersetzen konnte. Es war nur ein 1 Meter langes Datenkabel, das meinen Hoheitsbereich, die digitale Infrastruktur meiner Firma und somit den gesamten Betrieb lahmgelegt hatte. 

Die kleine Treppe scheint schier endlos weiter nach oben zu führen, und es werden mit jeder Stufe mehr Kabel um mich herum. Sie winden sich um das Treppengeländer, hängen von der Decke, und je höher ich komme, desto orientierungsloser werde ich. Lange Kabelkanäle knicken ab, führen wieder nach unten. Die Luft wird schwerer und trockener mit jedem Höhenmeter. Ich kann nun nicht mehr aufrecht die Treppe hinauflaufen, sondern muss mich immer weiter herunter bücken, dann schließlich kriechen aber ich suche ja nach nichts festem. Zunehmend verengt sich das Treppenhaus, die Kabel werden größer und dicker, entweder das oder ich werde immer kleiner und dünner. Ich koche gerne. Meine Uhr wird unerträglich heiß und die Ziffern spielen verrückt. Ich meine, neben all dem schmorenden Plastik nun auch eine Note von verbranntem Gras und Salbei zu riechen. Fieberoptik.

Welchen Menschen würdest du gerne einmal treffen (tot oder lebendig)? Da die Stufen nun Schicht um Schicht von Kabeln bedeckt sind, ziehe ich mich mit den Händen an ihnen empor :::  Sunken Cost Fallacy, eigentlich sollte ich umkehren. Ich steige weiter hinauf. Lili muss mich empfangen, ich bin extra diesen Turm hinaufgestiegen, das muss sie doch zumindest anerkennen. Strom zu Binärgold. Einen Kaffee nur, oder was man eben mindestens so macht, wenn ein Gast einen so langen Weg auf sich genommen hat. Schon lange kommt kein Tageslicht mehr in den Schacht doch tausende gelbe und grüne LED-Lichter morsen ein wenig Licht  hinein. Die Profilbilder haben rostrotes Haar, manchmal burschikos und kurz, manchmal fällt es in wallenden rosskastanienfarbenen Lockensträngen bis tief den Turm hinunter ::: Ich werde immer unwichtiger und klettere weiter nach oben. Sie hatte sich als eher konservative Kreatur zwischen den haarfeinen Spalt ::: Entschuldigung für die Unterbrechung. Hier ist die Fortsetzung: weltoffene Träumerin. Neben den zu erwartenden Bands wie Alt-J, Deichkind und The XX fand ich auch Dimmu Borgir und Summoning im Spotify-Profil verlinkt, zusammen mit blinkenden Glasfaserlichtern. Ich bin weltoffen und träumerisch, es könnten nur noch ein paar Mikrometer sein, so hoch war das Jagdhaus doch gar nicht. Vegan, Nichtraucher, keine Kinder, will auch keine. Ich schlüpfte durch die Hohlräume, und immer größer wurde die Menge, die schiere Menge vor mir, hinter mir, unter mir. Untentop, Obenbottom, Switch, Master- und Slaveplatte. Keine Haustiere. Immer mehr Kraft ist nötig, um im Kabelknäuel voranzukommen. Meine Glieder werden kälter und kälter, meine Blutbahnen sind abgeklemmt. Es tut richtig weh, sich durch die haarfeinen Spalten zu pressen. Die Isolationen, die mich vom glühroten Kupfer trennen, werden immer dünner, erscheinen unwichtig —

Als ich die letzte Stufe übertrete, stehe ich am Bahnhofsplatz. 17 Uhr 6. Der Linienbus ist Pünktlich. Der einäugige Busfahrer nickt mir zu. Ich steige ein „Da bist du ja. Schön, dich endlich leibhaftig zu sehen.“

Jörg Hilse: Cosplay

Manche Bewohner Leipzigs schütteln sicher den Kopf, wenn während der Buchmesse wieder so ein Trupp seltsam bunt gekleideter, teilweise recht aufwändig frisierter und geschminkter Gestalten aus dem Hauptbahnhof herauskommt , um in Bahn in Richtung Messegelände zu steigen.
Cosplayer sagt erklärend der eine, ach das ist doch alles Schrott meint der andere. Aber ist die ganze Sache wirklich nur Trash oder steckt nicht diese alte unauslöschliche Sehnsucht dahinter, jemand anders zu sein als man im Leben ist. Tut ein im Verein organisierter Modelleisenbahner, der natürlich nicht damit spielt( !), sondern Fahrbetrieb macht nicht irgendwo das Gleiche? Nur eben ohne Bahner-Uniform ?
Die Dienstbekleidung hat bei der Bahn übrigens die interne Abkürzung UBK und es gibt sogar eine vorgeschriebene Trageordnung.
Bei Victor Schuster befand sie sich seit kurzem im Kleiderschrank , denn er war neuerdings bei der DB angestellt, doch daneben hing auch etwas, das kaum jemand in seiner Garderobe vermuten würde. Der Kimono von Suguro Geto, einer Figur aus Victors Lieblings- Serie Jujutsu Kaisen, einer japanischen Manga- Trickfilm- Reihe. Schon als Kind war Victor einer von den Stillen gewesen, der viel las, um sich dann mit seinen Lego- Steinen eigene Welten zu erschaffen. Schließlich trat eines Tages ein Zauberlehrling auf den Buchmarkt, der den vom alten Goethe um unendliche Längen schlug. Ein Typ mit Nickelbrille und einer seltsamen Narbe auf der Stirn, erdacht von einer Frau die einmal Klassische Altertumswissenschaft an der Universität von Exeter studiert hatte. Er hieß Harry Potter. Und dessen Schulfreund Ron Weasley wurde zu Victor Schusters alter Ego. Er erinnerte sich nicht mehr, wann und zu welchem Anlass er das erste Kostüm bekam . Wohl aber an das Gefühl, als er es anzog. Er fühlte sich frei. Frei der zu sein, der man sein wollte, losgelöst von jeder Fessel, die die Regel der Normalität einem anlegten. Und die Freude daran blieb bis zum heutigen Tag. Ereignisse die andere begeisterten wie zum Beispiel die Bundesliga interessierten ihn nicht die Bohne. Heute Morgen rief allerdings wieder mal die Pflicht. Sein Wecker klingelte kurz vor 5 Uhr früh und er zog die Bahner Uniform an. Dann stieg er ins Auto, fuhr zum Bahnhof und meldete sich im Fahrmeister-Büro zum Schichtantritt für den Frühzug nach Brüssel. „ Morgen Victor “ sagte Karl, der dort hinter einem der beiden Computerbildschirme Dienst tat. „ Dein Restaurantleiter steigt übrigens erst in Köln zu, bis dahin bleibt das Bordbistro geschlossen, hast also erst mal Gastfahrt.“ „ O.K. sagte Victor und hörte wie Karl ihm noch „Gute Schicht“ zurief, als er die Tür schloss. Schnell noch einen Fünferpack Bonrollen mitnehmen, bevor die wieder alle sind, dachte Victor. Gesagt, Getan und kaum das sie im Rucksack verstaut waren machte er sich auf den Weg zum Gleis um in den ICE nach Brüssel zu steigen. Eine Stunde später, in Köln kamen seine zwei Kolleginnen und eine von beiden öffnete die Tür zur Bordküche. Victor sagte Hallo und eine der beiden fragte: „ Bist Du unser Stewart 3 ? Kannst Du den „ Am Platz Service“ für die erste Klasse übernehmen? „Ja, klar“ antwortete Victor, bereitete drinnen die Kaffeemaschine vor und bekam den üblichen Zettel mit dem Code zum Starten des Kassensystems. Währenddessen hatten zwei etwas eigentümlich aussehende Gäste im Restaurant Platz genommen. Der Erste war ein älterer Mann mit spitzem Vollbart in einer Art Kostüm das wohl aus dem Spätmittelalter stammte zu dem er eine weiße Halskrause trug. Einen Tisch weiter, saß ein schwarz gekleideter junger Japaner der eine runde sehr dunkle Sonnenbrille trug. Perfektes Outfit für die Figur von Saturo Gojo aus Juijutsu Kaisen dachte Victor als er zu dem Gast hinüber sah. Kurz darauf, der Zug hatte gerade Aachen verlassen und Victor kam mit ein paar Bestellungen aus der 1. Klasse zurück, als etwas völlig Unerwartetes passierte. Zuerst hörte er den entsetzen Aufschrei von einer seiner Kolleginnen aus der Bordküche, gefolgt vom Geräusch zu Boden fallenden Geschirrs. Während beide wie von Sinnen mit der Zugbegleiterin in Richtung Dienstabteil rannten um sich drinnen zu verbarrikadieren, sah Victor was sich gerade ereignet hatte. Der Kopf des spitzbärtigen Mannes lag, wie mit einem unsichtbaren Scharnier zur Seite geklappt, quer auf seiner Schulter. Und aus der völlig frei liegenden Halsöffnung heraus, ragte ein halbes Stück Schinken- Käse- Baguette, welches der unheimliche Gast mit Hilfe einer Gabel tiefer hinein zu schieben versuchte.
Erstaunt sah Victor zu und ihm dämmerte, wen er da möglicherweise vor sich hatte. Nachdem der seltsame Restaurantbesucher mit einer einzigen Handbewegung seinen Kopf wieder in die alte Position gebracht hatte, fragte Victor: „ Vielleicht noch etwas Tee, Sir Nicolas? Dann rutscht es besser.“ Sie kennen mich?“ fragte der Fremde.“ „ Ja, Sie sind Sir Nicolas de Mimsy Porpington, Hausgeist von Gryffindor aus der Zauberschule in Hogwarts.“ antwortete Victor. „ Es ist sehr freundlich von ihnen mich nicht mit diesem hässlichen Spitznamen „ Der fast kopflose Nick“ anzureden “ erwiderte Sir Nicolas. „ Ach ja, mein Schicksal“ klagte er dann. „ Nun hat mir doch neulich der gute Professor Filius Flitwick einen Zauberspruch verraten, wie ich trotz meiner Geisterexistenz Speisen zu mir nehmen kann. Und wieder funktioniert es nicht richtig. Wie Sie wissen ging ja schon meine Hinrichtung, übrigens ebenfalls wegen eines missglückten Zauberspruchs schief und mein Kopf wurde mir nicht komplett abgetrennt. Inzwischen erreichte der ICE ohne vorherige Ansage durch das Zugpersonal, den Bahnhof von Lüttich. Es war also nicht mehr weit bis Brüssel.
Victor klopfte schließlich an die Tür. „ Soll ich den Gast mit dem Schinken- Käse- Baguette abkassieren?“ fragte er dann. „ Mach was Du willst, sag uns einfach nur Bescheid wenn der gruselige Typ aussteigt“ hörte er die verängstigte Stimme seiner Restaurantleiterin von drinnen. O.K. antwortete Victor und staunte anschließend nicht schlecht, das die Kreditkarte der Gringott’s Bank problemlos auf seinem Kartenleser funktionierte. Fast pünktlich erreichte der Zug die Endstation Brüssel Midi und Sir Nicolas de Mimsy Porpington entschwebte in Richtung Eurostar nach London. Victor Schuster klopfte an die Tür vom Dienstabteil. „ Er ist weg, ich geh mal kurz raus auf den Bahnsteig“. „ Gottseidank, komm aber rechtzeitig wieder“ hieß es erleichtert von drinnen. Draußen stand auf einmal der schweigsame Japaner neben ihm. Seine dunkle Sonnenbrille hatte er gegen eine schwarze Augenbinde ausgetauscht. Und Victor hatte plötzlich die Gewissheit dass, auch er kein Cosplayer war.
„ Da Du gewusst hast wer er war, weißt Du bestimmt auch wer ich bin, nichtsdestotrotz hier ist meine Karte“ sagte der Fremde. Victor nahm sie an sich und stutzte dann doch.“ . „Saturo Gojo, Jujutsu Akademie Tokio“, stand in japanischen wie auch lateinischen Buchstaben auf der Visitenkarte. „ Was wollt ihr denn ausgerechnet von mir?“ fragte Victor gespannt . „ Ich hab einen Job für Dich“ antwortete ihm der junge Mann mit der Augenbinde.
„ Die Akademie sucht einen Gefahrenstufen- Analysten für europäische Fluchgeister und sonstige Phänomene. Wenn Du einverstanden bist, schreib einfach eine Mail an die Adresse auf der Rückseite der Karte. Das Flugticket schicken wir Dir dann.“ Einen Tag nach der Ankunft in Frankfurt schickte Victor die Mail nach Tokio und brach zwei Wochen später auf ins Land seiner Träume, Japan.
Jammerschade , finden manche seiner Kollegen bei der Bahn.

Christian Knieps: Mein Hund, mein Wahnsinn

Ich halte mich für einen glücklichen Mann, wenn alles in seinen rechten Bahnen läuft. Dann entschied ich mich dazu, mir einen Hund anzuschaffen und erschuf gleichzeitig meinen eigenen Wahnsinn.
Der Plan war denkbar einfach: ich hole mir einen Welpen, nehme einen ganzen Monat Urlaub, erziehe ihn und sorge dafür, dass er stubenrein wird, und gehe, wenn das Gröbste überstanden ist, wieder arbeiten. Abends würde mich dann freudestrahlend mein treuer Begleiter erwarten, mit dem ich zum Toben auf die Hundewiese gehen könnte.
Als ich Tommy das erste Mal sah, war ich sogleich dahingeschmolzen. In die sanftmütigen Labradoraugen verliebte ich mich auf den ersten Blick und so zog Tommy bei mir ein. Der erste Monat war dann auch der Himmel auf Erden! Ich hatte Urlaub, konnte den ganzen Tag den kleinen Welpen umsorgen, ihn bespaßen und mit ihm draußen sein.
Alles war perfekt, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich wieder arbeiten ging. Wie jeden Morgen war ich früh mit ihm eine große Runde gegangen, dann aber den ganzen Tag unterwegs gewesen, und als ich abends nach Hause kam, wollte ich die Türe lieber wieder zumachen und gehen.
Tommy stand zwar schwanzwedelnd vor mir und freute sich über alle Maßen über meine Rückkehr, doch meine Wohnung hatte nur noch wenig mit der zu tun, die ich verlassen hatte. Kopfkissen waren zerfetzt, alle Schuhe, die draußen gestanden hatten, waren angenagt – ein erstaunliches Ergebnis, wenn man bedenkt, dass der Kleine erst knapp vier Monate alt war. Vasen lagen auf dem Boden, die Blumen waren angeknabbert, Tischbedeckungen waren zum Teppich umfunktioniert worden und ob ich jemals die Fernbedienung meines Fernsehers wiederfinden würde, stand noch in den Sternen.
Ich wollte ausrasten, durchdrehen, doch Tommy freute sich nur, mich zu sehen. Ich konnte nicht anders, als mich zu ihm zu bücken und ihn zu streicheln. Die Tränen in meinen Augen leckte er weg und ich war augenblicklich wieder verliebt. Trotz des Chaos und trotz des Wahnsinns, der in mir erwachsen war und den ich die nächsten Monate stetig bekämpfen musste.
Ich probierte es mit noch längeren Spaziergängen, Suchspielen, Apportieraufgaben, sogar mit einem Laufband versuchte ich es, doch Tommy war nicht zu stoppen, wenn ich nicht zu Hause war. Ich hatte – man konnte es gar nicht anders sagen – einen hyperaktiven Kontrollfreak großgezogen, der durchdrehte, wenn er nicht wusste, was er mit seiner Energie machen sollte.
Das alles geschah vor drei Jahren. Inzwischen haben wir uns beide mit der Situation arrangiert. Er darf mich kontrollieren und ist ein wenig erwachsener geworden, und ich habe zusammen mit meiner Wohnung einen massiven Veränderungsprozess durchlaufen. Seit neuestem frage ich mich, ob ich durch Tommy unfähig geworden bin, eine Beziehung zu einem anderen Mann einzugehen. Aus Angst vor Tommys Eifersüchteleien.
Doch dann kam das Glück zurück, und Arne trat vor kurzem in mein Leben, der selbst zwei Hunde hat. Zwei Hunde, die so gar nicht wie Tommy sind. Erzogen und mit perfektem Sozialverhalten. Es knallte kurz, als wir alle fünf das erste Mal aufeinandertrafen, doch siehe da – Tommy war auf einmal wie ausgewechselt. Plötzlich hatte er seine Aufgabe im Rudel gefunden. Und so langsam verschwindet auch mein Wahnsinn. Nur auf dem Boden werde ich nichts mehr liegen lassen. Nie wieder! Versprochen!

Christian Knieps: CERN

Mein Mann und ich sind unterwegs zum CERN. Er will da unbedingt hin, während ich nur dabei bin, damit er nicht allein fahren muss. Dafür hat er mir versprochen, beim nächsten Besuch bei meiner Mutter dabei zu sein, denn wenn er dabei ist, ist meine Mutter meistens die Freundlichkeit in Person.
Auf dem Weg zum CERN bekomme ich eine Zusammenfassung seines Wissens, das ich kaum bewerten kann, weil ich weniger als die Hälfte verstehe. Nach den ersten Fragen lasse ich auch das Fragen sein, weil ich merke, wie angespannt er wird, wenn ich zeige, dass ich so gar keine Ahnung von dem Ganzen habe.
Als wir endlich ankommen, freue ich mich auf etwas Bewegung. Wir treten in das Eingangsgebäude und treffen andere Teilnehmer der heutigen Führung. Auf den ersten Blick erkenne ich, dass es nur eine potentielle Leidensgenossin gibt, doch sie ist so gekleidet, dass sie auch Physikerin sein könnte. Also ist Vorsicht geboten.
Die Führung beginnt. Der Mann, der uns Einblick in das Wunderwerk der Technik gibt, ist mir in seiner leicht verpeilten Art direkt sympathisch. Meinen Mann nervt sein nasaler Tonfall. Wir werden durch das Gebäude geführt, die meisten, die den Eindruck machen, dass sie wissen, was hier geschieht, wirken von der Führung gelangweilt. Ich hingegen finde sie sehr interessant, da sie nur wenig Wissen voraussetzt. Zudem spüre ich, wie der Vortragende eine Begeisterung für diese Forschungseinrichtung versprüht, wie es Männer normalerweise nur für ihren Fußballverein machen.
Als sich die Führung zum Ende neigt, bin ich positiv überrascht, während mein Mann mir schon verraten hat, dass das hier pure Zeitverschwendung für ihn sei. In den Gesichtern der anderen Teilnehmer sehe ich eine ähnliche Meinung, auch in dem Gesicht der einen Frau, von der ich nicht erahnen konnte, mit welchem Wissenstand sie hier angereist ist. Zum Glück habe ich mit ihr kein einziges Wort gewechselt.
Die Führung wird beendet und es gibt zurückhaltenden Applaus. Schnell gehen alle auseinander, nur ich trete an den Wissenschaftler heran und sage ihm, dass mir seine Führung sehr gefallen hat, wenn ich nicht sogar begeistert davon bin. Wir kommen ins Gespräch und ich vergesse meinen Mann, der irgendwo im Verkaufsladen nach Fachliteratur sucht, von der er wohl kaum etwas verstehen wird. Hauptsache, er zeigt, wie sehr er in dem Thema drin steckt. Nach außen, versteht sich.
Wir beide hingegen machen uns über die Besucher lustig. Ich kann offen zugeben, dass ich nicht mal alles das verstanden habe, was der Wissenschaftler uns erklärt hat, aber er ist sich sicher, dass die anderen Besucher auch nicht mehr verstanden haben, es nur nicht zugeben wollen.
Auf dem Nachhauseweg schweigen mein Mann und ich lange, bis er äußert, wie enttäuscht er von dem Besuch ist. Ich überlege kurz, ob ich ihm die Wahrheit sage, doch ich weiß auch, dass er noch weitere solche Besuche in seinem Kopf hat. Und so entscheide ich mich zu einem nichtssagenden Geräusch, das bei ihm als Bestätigung ankommt.

Ferenc Liebig : Die Wirklichkeit in kleinen Teilen

Man würde mich in die Berge schicken, dort, so sagte man, habe man eine neue Methode entwickelt, Prozesse des Unsichtbaren sichtbar zu machen. Ein gewisser Professor Beringer hatte erst vor kurzem eine Abhandlung geschrieben, in der es hieß, man könne nun in die Welt der Moleküle hineinschauen, Anregung und metastabile Zustände definieren. Sein Fazit lautete, ab jetzt bliebe nichts mehr im Verborgenen. Die Geheimnisse der Welt würden sich auflösen, wie ein vorher undurchsichtiger Nebel. Mein Doktorvater meinte, diese poetischen Abschlusszeilen hätte man sich sparen sollen. Darin ließe sich nicht die nötige Ernsthaftigkeit finden, die dieses Thema verdient hätte. Aber die Auswertung der vorliegenden Messdaten beeindruckten ihn. Die Modellrechnungen zeigten, so war er sich sicher, den Ursprung einer Veränderung in unserer Wahrnehmung. Man könnte meinen, dass wir an dieser Stelle den Nullpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft setzen werden. „Es wäre eine Schande“, sagte er, „ihre Überlegungen und bisherigen Ergebnisse nicht mit diesem System untersuchen zu lassen.“
Man begleitete mich zum Flughafen und sagte mir, dies könnte der größte Durchbruch sein, den die Wissenschaft bisher erlebt hat. Vom Eifer gepackt, standen wir mit meinen Koffern neben der Haltebucht und glaubten, spätere Biographen würden diesen historischen Moment meines Abflugs mit großen Worten bedenken. „Was es bedeuten würde, wenn wir die Zusammenhänge verstehen könnten. Eine Energiewende, eine Revolution in der Pharmaindustrie, unendliches Leben vielleicht.“ Mein Doktorvater drückte mir einen Brief in die Hand. „Für Professor Beringer.“ Er sah mich nachdenklich an und gab mir den Hinweis mit auf den Weg, es würde sich um einen sehr scheuen Mann handeln, der in der Welt der Wissenschaft nicht immer ganz unumstritten war und dem man einen schweren Charakter und ein gewisses Dasein als Eigenbrötler zuschrieb. Nicht ohne Grund hätte er mich ausgewählt. Nicht wegen meiner Leistungen auf dem Gebiet der Elektronenverschiebung, sondern aufgrund meiner Diplomatie, den Umgang mit Kritik, meinen schier endlos ausrollbaren Geduldsfaden. Es wäre hilfreich, ihm nicht zu widersprechen.

Mit einem Stapel gebündelter Publikationen saß ich im Flugzeug und blickte aus dem ovalen Fenster auf die feuchte Landebahn. In Der entzauberte Regenbogen behauptete Richard Dawkins, dass das Wunderbare nicht weniger wunderbar wird, wenn wir es erklären können. Aber was würde geschehen, wenn sich die Komplexität der Welt herunterbrechen ließe, auf eine einzige Formel, wenn Heisenbergs Vermutung sich als richtig herausstellen würde, sein Ansatz nur falsch gedacht war, alles plötzlich erklärbar wäre, wie würden wir damit umgehen, wenn wir in den Nachthimmel schauen, ohne Faszination, ohne den Glauben an mehr, was würde das aus uns machen, wenn die Neugier nur noch ein Artefakt, die Existenz eines Gottes nur noch eine Randnotiz ist. Ein Gewitter hatte sich zusammenbraut. Kurz beschäftigte die Passagiere die Frage, ob der Flug überhaupt stattfindet, aber zur Erleichterung aller, entschied sich der Pilot für einen Start. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Zahlen, Buchstaben, Symbole erschienen mir in ungeordneter Reihenfolge, als würden sie verlangen, sortiert, zu einem höheren Sinn zusammengesetzt zu werden, aber es war mir nicht möglich, sie zu greifen. Als das Flugzeug abhob, begannen die Kopfschmerzen. Die Euphorie schlug in Mattigkeit um. Die Augen wieder öffnend, lag unter mir das winzige Berlin, eine Miniaturstadt, wie ein Modell, ohne Menschen, ohne Leben, dennoch wunderschön anzuschauen.
Mit anbrechender Dunkelheit knackste der Lautsprecher. Der Pilot sprach von Turbulenzen. Nicht sonderlich schweren, aber man wolle Panik vermeiden. Vor zwei Wochen war erst eine Maschine abgestürzt, die Leichenteile in einem Waldstück verteilt gefunden worden. Man wusste, solche Bilder und Information hätten sich noch nicht weit genug aus unserem Gedächtnis entfernt, um der Wahrscheinlichkeit eines Absturzes mit statistischer Logik zu begegnen. Mit Eintritt in die Wolkendecke wurde es holpriger. Ich dachte an die tiefe Falte zwischen den Augenbrauen meines Doktorvaters. Seit meines ersten Gespräches mit ihm, fragte ich mich, ob er diese besonders reinigen würde, mit einem Wattestäbchen zum Beispiel und wie die Haut dazwischen aussah, wenn man die Falte auseinanderschob. Ein Tal der Ungewissheit, dachte ich schmunzelnd, als der Pilot wieder zu uns sprach. Ein Gewitter sei vor uns, nicht möglich zu umfliegen, aber wir sollten uns keine Sorgen machen, man hätte schon häufiger solche Situation erlebt und wie man bemerken würde, bisher auch alle überlebt. Ein grunzendes Lachen beendete die Durchsage.
Es wurde einiges durcheinandergeschüttelt. Koffer regneten aus den Ablagefächern, eine Stewardess stolperte und hielt sich ungünstiger Weise an dem Kopf eines Passagiers fest, dessen Frau nicht besonders amüsiert darüber erschien, als ihre Brüste seine Wangen streiften, ein paar Sauerstoffmasken baumelten hinab und Gläser, ob gefüllt oder leer, fielen zu Boden und rollten nun kreuz und quer zwischen Gang und Sitzen entlang. Der Herr neben mir, ein hochdekorierter Anthropologe, der auf dem Weg zu einem Kongress in einen Nachbarort meines Zieles war, begann Stoßgebete zu flüstern, bis ich ihn vorübergehend beruhigen konnte. Mit simpler Mathematik erklärte ich ihm, dass die eigentliche Differenz zwischen Leben und Tod so gering sei, dass man schon die Nachkommastellen beachten müsste. Auch erzählte ich ihm von meiner Idee, der Nichtzugehörigkeit von Elektronen, diesem wimmelnden Wirrwarr an Energie, diesem Theorem, dass falls die Messungen ähnliche Tendenzen aufwiesen, dies der Welt der Physik den Atem stocken lassen würde. Ob er verstünde, fragte ich ihn, aber anstatt staunend zu applaudieren, wendete er seinen Blick ab und sprach wieder zu Gott, der doch an seine Familie denken sollte, die Kinder und Enkelkinder und die Trauer und wie viel noch entdeckt werden muss, er müsse noch so vieles entdecken und diesmal unterbrach ich ihn nicht, schaute aus dem Fenster in die Lichtblitze, die sich in den Wolken sammelten und spürte im Angesicht dieser Schönheit ein seltsames Glück, dass nur mit einer Theorie zu vergleichen ist, die sich von der Praxis belegen lässt.
In der Schule noch mit Niels Bohr konfrontiert, der seine Elektronen auf Kreisbahnen um den Kern schickte, kam später Erwin Schrödinger in die Bücher, der über ein mathematisches Modell die Aufenthaltswahrscheinlichkeiten der Elektronen im Atom bestimmen konnte. Mittels Wellenfunktionen ließen sich die räumliche und zeitliche Entwicklung des Zustandes eines Quantensystems beschrieben. Als ich erstmal davon hörte, war ich endlos begeistert. Ich versuchte zu lesen, was es zu lesen gab. Fachbücher, Publikationen, Abrisse, biografische Notizen, Tagebucheinträge. Und je mehr ich las, desto ergriffener wurde ich. Meine Anschauung, mein alltägliches Verständnis von einfachsten Ausführungen, mein Bewusstsein für Details veränderte sich mehr und mehr und an Tagen, an denen ich hunderte Seiten studierte, in die Beschreibungen versank. Die Welt stellte sich anders dar, nicht mehr nur dreidimensional, sondern als ein Gebilde, eine Membran, in der sich alle Kräfte und Teilchen aufhielten. Daran musste ich denken, als der Pilot wiederholt zur Ruhe ermahnte und seine zehntausend Flugstunden als Garantie hergab, dass wir uns in sicheren Händen befanden. Leider konnten seine Worte herzlich wenig ausrichten, als der rechte Flügel einknickte und der Rumpf sich wie eine Treppenläuferspirale zu verziehen drohte.

Bei brennenden Triebwerken öffnete ich den Brief meines Doktorvaters. Ich wusste, er würde es nie erfahren. Wer sollte es ihm verraten, dachte ich grinsend, während sich das Flugzeug vornüber neigte und der hochdekorierte Anthropologe nun zitternd Bibelverse zitierte. Ich entnahm den Brief aus seinem Umschlag und entfaltete das Papier. Von draußen hörte man das geisterhafte Surren des Windes, das Rauschen von Geschwindigkeit, im Innern das Kreischen und Übergeben von Insassen, die jedwede Hoffnung aufgegeben hatten, dieses Flugzeug unbeschadet zu verlassen. Lieber Herr Beringer, stand da, mein Student, Sie werden ihn zu schätzen wissen, hat in den letzten drei Jahren seiner Promotion interessante, ich würde sagen, Erleuchtungen gehabt, wie ich vorher noch keinen meiner Promovierenden habe Erleuchtungen sehen gehabt, aber dies ist nicht das eigentlich Aufregende, das wirklich Aufregende ist, dass er erst am Anfang steht, selbst noch nicht weiß, zu was er fähig ist und ich Ihnen zusichern kann, er wird seinen Durchbruch erleben, bestenfalls mit Ihrer Hilfe. Gemeinsam wird es möglich sein, seine Vision zu vervollständigen und eine komplett neue Auffassung für unser Universum zu erlangen. Aber seien Sie streng mit ihm. Er neigt zu Höhenflügen und verschiebt schon durch leichte Ablenkungen seinen Fokus. Mit freundlichsten Grüßen, Prof. Dr. Dr. Mathuren. Ein wenig stolz auf diese Einschätzung, schloss ich den Brief und konnte nun schon flache Berge erkennen, auf die wir ungebremst zurasten.

Kurz vor dem Aufprall, dachte ich an meine Mutter, wie sie in der Küche vor einem übergroßen Suppentopf stand. Sie sagte, „komm schon mein Sohn“ und ich ging auf sie zu und sie wies mich an, einen Blick in den Topf zu werfen. „Dort ist deine Lösung“, rief sie aus. Ich beugte mich vor, doch anstatt kleingeschnittenes Gemüse vorzufinden, war es der Moment vor dem Urknall, den sie mit einer gemächlichen Bewegung herbeirührte. Ich wünschte mir, ihr rechter Arm hätte nicht mein Sichtfeld eingeschränkt, dennoch konnte ich eindeutig den Punkt erkennen, in dem sich die gesamte Energie sammelte und nicht nur das, ich verstand auch, warum sie sich genau in diesem Punkt sammeln musste, warum es keine andere Möglichkeit als diese gab. Unsere Blicke trafen sich. „Bis gleich“, sagte meine Mutter und ließ den Topfdeckel fallen.

Philip Krömer: ErlangenHORROR

Und wenn der Vollmond wieder glitzert, wachsen den Werschweinen im Buckenhofer Forst Daumen. Dann steigen sie über ihren Zaun und traben in die Innenstadt, kratzen die Mülltonnen aus und ängstigen den Türsteher vom Zirkel. Aber der lässt sie nicht rein, keine Chance, nicht in dem Outfit. Halte deine Fenster und Türen geschlossen, Erlangen, bis der Mond morgen wieder abnimmt.

Habt ihr im Wiesengrund die niedergewalzten Büsche bemerkt? Die Risse im Asphalt des Radwegs? Das war der Lurch. Der hat beim geheimen Areva-Reaktorexperimenten zu viel vom Kühlwasser geschluckt. Jetzt misst er acht Meter von Schnauze bis Schwanzspitze und weiß mit seiner neuen Kraft nichts anzufangen. Wenn die Reiher vorübersegeln, legt er sich noch immer bewegungslos ins Gras.

Ein Sausen erfüllt die Luft und gurgelnd schluckt ein Strudel alles Wasser aus dem Dechsendorfer Weiher. Da ist ein Riss entstanden. Fische zappeln am matschigen Ufer, das bald bis an den tiefsten Punkt reicht. Und dort kommt … ein Gebäude zum Vorschein. Nein, eine Anordnung abstrakter Formen. Ein Tempel, in dessen innerster Kammer der schreckliche Cthulhu seinen ewigen Schlaf schläft. Leise jetzt. Den wollt ihr nicht wecken!

Tief aus den Bierstollen unterm Burgberg hallen seine Schritte, dringt sein hirnloses Gebrabbel. Wer unvorsichtig nachsehen geht, den schnappt er sich zur Zwischenmahlzeit. Erst wenn das Fest wieder anhebt und die Fässer angezapft werden, kommt der Troll heraus. Unter den Besuchern fällt er kaum auf. Dann steckt er Brezen in sich rein für zwei Fußballmannschaften und trinkt das Bier fässerweise. Wer ihn bei der Nahrungsaufnahme stört, bereut das bald. Das nimmt er krumm. Seine Fäuste sind nicht von Pappe.