Ferenc Liebig : Die Wirklichkeit in kleinen Teilen

Man würde mich in die Berge schicken, dort, so sagte man, habe man eine neue Methode entwickelt, Prozesse des Unsichtbaren sichtbar zu machen. Ein gewisser Professor Beringer hatte erst vor kurzem eine Abhandlung geschrieben, in der es hieß, man könne nun in die Welt der Moleküle hineinschauen, Anregung und metastabile Zustände definieren. Sein Fazit lautete, ab jetzt bliebe nichts mehr im Verborgenen. Die Geheimnisse der Welt würden sich auflösen, wie ein vorher undurchsichtiger Nebel. Mein Doktorvater meinte, diese poetischen Abschlusszeilen hätte man sich sparen sollen. Darin ließe sich nicht die nötige Ernsthaftigkeit finden, die dieses Thema verdient hätte. Aber die Auswertung der vorliegenden Messdaten beeindruckten ihn. Die Modellrechnungen zeigten, so war er sich sicher, den Ursprung einer Veränderung in unserer Wahrnehmung. Man könnte meinen, dass wir an dieser Stelle den Nullpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft setzen werden. „Es wäre eine Schande“, sagte er, „ihre Überlegungen und bisherigen Ergebnisse nicht mit diesem System untersuchen zu lassen.“
Man begleitete mich zum Flughafen und sagte mir, dies könnte der größte Durchbruch sein, den die Wissenschaft bisher erlebt hat. Vom Eifer gepackt, standen wir mit meinen Koffern neben der Haltebucht und glaubten, spätere Biographen würden diesen historischen Moment meines Abflugs mit großen Worten bedenken. „Was es bedeuten würde, wenn wir die Zusammenhänge verstehen könnten. Eine Energiewende, eine Revolution in der Pharmaindustrie, unendliches Leben vielleicht.“ Mein Doktorvater drückte mir einen Brief in die Hand. „Für Professor Beringer.“ Er sah mich nachdenklich an und gab mir den Hinweis mit auf den Weg, es würde sich um einen sehr scheuen Mann handeln, der in der Welt der Wissenschaft nicht immer ganz unumstritten war und dem man einen schweren Charakter und ein gewisses Dasein als Eigenbrötler zuschrieb. Nicht ohne Grund hätte er mich ausgewählt. Nicht wegen meiner Leistungen auf dem Gebiet der Elektronenverschiebung, sondern aufgrund meiner Diplomatie, den Umgang mit Kritik, meinen schier endlos ausrollbaren Geduldsfaden. Es wäre hilfreich, ihm nicht zu widersprechen.

Mit einem Stapel gebündelter Publikationen saß ich im Flugzeug und blickte aus dem ovalen Fenster auf die feuchte Landebahn. In Der entzauberte Regenbogen behauptete Richard Dawkins, dass das Wunderbare nicht weniger wunderbar wird, wenn wir es erklären können. Aber was würde geschehen, wenn sich die Komplexität der Welt herunterbrechen ließe, auf eine einzige Formel, wenn Heisenbergs Vermutung sich als richtig herausstellen würde, sein Ansatz nur falsch gedacht war, alles plötzlich erklärbar wäre, wie würden wir damit umgehen, wenn wir in den Nachthimmel schauen, ohne Faszination, ohne den Glauben an mehr, was würde das aus uns machen, wenn die Neugier nur noch ein Artefakt, die Existenz eines Gottes nur noch eine Randnotiz ist. Ein Gewitter hatte sich zusammenbraut. Kurz beschäftigte die Passagiere die Frage, ob der Flug überhaupt stattfindet, aber zur Erleichterung aller, entschied sich der Pilot für einen Start. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Zahlen, Buchstaben, Symbole erschienen mir in ungeordneter Reihenfolge, als würden sie verlangen, sortiert, zu einem höheren Sinn zusammengesetzt zu werden, aber es war mir nicht möglich, sie zu greifen. Als das Flugzeug abhob, begannen die Kopfschmerzen. Die Euphorie schlug in Mattigkeit um. Die Augen wieder öffnend, lag unter mir das winzige Berlin, eine Miniaturstadt, wie ein Modell, ohne Menschen, ohne Leben, dennoch wunderschön anzuschauen.
Mit anbrechender Dunkelheit knackste der Lautsprecher. Der Pilot sprach von Turbulenzen. Nicht sonderlich schweren, aber man wolle Panik vermeiden. Vor zwei Wochen war erst eine Maschine abgestürzt, die Leichenteile in einem Waldstück verteilt gefunden worden. Man wusste, solche Bilder und Information hätten sich noch nicht weit genug aus unserem Gedächtnis entfernt, um der Wahrscheinlichkeit eines Absturzes mit statistischer Logik zu begegnen. Mit Eintritt in die Wolkendecke wurde es holpriger. Ich dachte an die tiefe Falte zwischen den Augenbrauen meines Doktorvaters. Seit meines ersten Gespräches mit ihm, fragte ich mich, ob er diese besonders reinigen würde, mit einem Wattestäbchen zum Beispiel und wie die Haut dazwischen aussah, wenn man die Falte auseinanderschob. Ein Tal der Ungewissheit, dachte ich schmunzelnd, als der Pilot wieder zu uns sprach. Ein Gewitter sei vor uns, nicht möglich zu umfliegen, aber wir sollten uns keine Sorgen machen, man hätte schon häufiger solche Situation erlebt und wie man bemerken würde, bisher auch alle überlebt. Ein grunzendes Lachen beendete die Durchsage.
Es wurde einiges durcheinandergeschüttelt. Koffer regneten aus den Ablagefächern, eine Stewardess stolperte und hielt sich ungünstiger Weise an dem Kopf eines Passagiers fest, dessen Frau nicht besonders amüsiert darüber erschien, als ihre Brüste seine Wangen streiften, ein paar Sauerstoffmasken baumelten hinab und Gläser, ob gefüllt oder leer, fielen zu Boden und rollten nun kreuz und quer zwischen Gang und Sitzen entlang. Der Herr neben mir, ein hochdekorierter Anthropologe, der auf dem Weg zu einem Kongress in einen Nachbarort meines Zieles war, begann Stoßgebete zu flüstern, bis ich ihn vorübergehend beruhigen konnte. Mit simpler Mathematik erklärte ich ihm, dass die eigentliche Differenz zwischen Leben und Tod so gering sei, dass man schon die Nachkommastellen beachten müsste. Auch erzählte ich ihm von meiner Idee, der Nichtzugehörigkeit von Elektronen, diesem wimmelnden Wirrwarr an Energie, diesem Theorem, dass falls die Messungen ähnliche Tendenzen aufwiesen, dies der Welt der Physik den Atem stocken lassen würde. Ob er verstünde, fragte ich ihn, aber anstatt staunend zu applaudieren, wendete er seinen Blick ab und sprach wieder zu Gott, der doch an seine Familie denken sollte, die Kinder und Enkelkinder und die Trauer und wie viel noch entdeckt werden muss, er müsse noch so vieles entdecken und diesmal unterbrach ich ihn nicht, schaute aus dem Fenster in die Lichtblitze, die sich in den Wolken sammelten und spürte im Angesicht dieser Schönheit ein seltsames Glück, dass nur mit einer Theorie zu vergleichen ist, die sich von der Praxis belegen lässt.
In der Schule noch mit Niels Bohr konfrontiert, der seine Elektronen auf Kreisbahnen um den Kern schickte, kam später Erwin Schrödinger in die Bücher, der über ein mathematisches Modell die Aufenthaltswahrscheinlichkeiten der Elektronen im Atom bestimmen konnte. Mittels Wellenfunktionen ließen sich die räumliche und zeitliche Entwicklung des Zustandes eines Quantensystems beschrieben. Als ich erstmal davon hörte, war ich endlos begeistert. Ich versuchte zu lesen, was es zu lesen gab. Fachbücher, Publikationen, Abrisse, biografische Notizen, Tagebucheinträge. Und je mehr ich las, desto ergriffener wurde ich. Meine Anschauung, mein alltägliches Verständnis von einfachsten Ausführungen, mein Bewusstsein für Details veränderte sich mehr und mehr und an Tagen, an denen ich hunderte Seiten studierte, in die Beschreibungen versank. Die Welt stellte sich anders dar, nicht mehr nur dreidimensional, sondern als ein Gebilde, eine Membran, in der sich alle Kräfte und Teilchen aufhielten. Daran musste ich denken, als der Pilot wiederholt zur Ruhe ermahnte und seine zehntausend Flugstunden als Garantie hergab, dass wir uns in sicheren Händen befanden. Leider konnten seine Worte herzlich wenig ausrichten, als der rechte Flügel einknickte und der Rumpf sich wie eine Treppenläuferspirale zu verziehen drohte.

Bei brennenden Triebwerken öffnete ich den Brief meines Doktorvaters. Ich wusste, er würde es nie erfahren. Wer sollte es ihm verraten, dachte ich grinsend, während sich das Flugzeug vornüber neigte und der hochdekorierte Anthropologe nun zitternd Bibelverse zitierte. Ich entnahm den Brief aus seinem Umschlag und entfaltete das Papier. Von draußen hörte man das geisterhafte Surren des Windes, das Rauschen von Geschwindigkeit, im Innern das Kreischen und Übergeben von Insassen, die jedwede Hoffnung aufgegeben hatten, dieses Flugzeug unbeschadet zu verlassen. Lieber Herr Beringer, stand da, mein Student, Sie werden ihn zu schätzen wissen, hat in den letzten drei Jahren seiner Promotion interessante, ich würde sagen, Erleuchtungen gehabt, wie ich vorher noch keinen meiner Promovierenden habe Erleuchtungen sehen gehabt, aber dies ist nicht das eigentlich Aufregende, das wirklich Aufregende ist, dass er erst am Anfang steht, selbst noch nicht weiß, zu was er fähig ist und ich Ihnen zusichern kann, er wird seinen Durchbruch erleben, bestenfalls mit Ihrer Hilfe. Gemeinsam wird es möglich sein, seine Vision zu vervollständigen und eine komplett neue Auffassung für unser Universum zu erlangen. Aber seien Sie streng mit ihm. Er neigt zu Höhenflügen und verschiebt schon durch leichte Ablenkungen seinen Fokus. Mit freundlichsten Grüßen, Prof. Dr. Dr. Mathuren. Ein wenig stolz auf diese Einschätzung, schloss ich den Brief und konnte nun schon flache Berge erkennen, auf die wir ungebremst zurasten.

Kurz vor dem Aufprall, dachte ich an meine Mutter, wie sie in der Küche vor einem übergroßen Suppentopf stand. Sie sagte, „komm schon mein Sohn“ und ich ging auf sie zu und sie wies mich an, einen Blick in den Topf zu werfen. „Dort ist deine Lösung“, rief sie aus. Ich beugte mich vor, doch anstatt kleingeschnittenes Gemüse vorzufinden, war es der Moment vor dem Urknall, den sie mit einer gemächlichen Bewegung herbeirührte. Ich wünschte mir, ihr rechter Arm hätte nicht mein Sichtfeld eingeschränkt, dennoch konnte ich eindeutig den Punkt erkennen, in dem sich die gesamte Energie sammelte und nicht nur das, ich verstand auch, warum sie sich genau in diesem Punkt sammeln musste, warum es keine andere Möglichkeit als diese gab. Unsere Blicke trafen sich. „Bis gleich“, sagte meine Mutter und ließ den Topfdeckel fallen.

Theobald Fuchs: Denken, trocknen, sammeln, zu Staub, weiter.

Bis heute mache ich das, jeden Tag. Wenn ich wo eine tote Fliege liegen sehe, hebe ich sie vorsichtig auf. Lege sie zu den anderen auf das kleine Häuflein. In jedem Zimmer habe ich so ein Häuflein, in der windstillen Ecke natürlich. Die toten Fliegen sind so leicht, der leiseste Luftzug wirbelt sie davon. Noch immer, nach so vielen Jahren bin ich bei jeder einzelnen toten Fliege erstaunt, wie schwerelos sie ist, wie trocken, wie zerbrechlich. 

Unser Kaiser war damals viel weiter. Im Erkennen, im Verstehen und im Nutzen. Und überhaupt. Er wusste lange vor allen anderen, dass im Gesumm der Fliegen die Wahrheit steckt. Sssssssss…. Er nährte seine Unfehlbarkeit mit der Weisheit der Fliegen. Sssssss…. 

Der Weisheit der dicken schwarzen Fliegen, wohlgemerkt. Der dicken schwarzen Fliegen, deren Flügel so blausamten schimmern. Der dicken schwarzen Fliegen mit diesen grünlich glänzenden Facettenaugen. Der dicken schwarzen Fliegen, die irgendwann ohne Vorwarnung aufhören, zu summen und zu fliegen und gegen die Fensterscheibe zu dotzen. Dotz, dotz, dotz. 

Sondern tot aus der Luft fallen. Und noch während des Fallens auf die Erde so trocken wie Staub und so leicht wie Spinnengespinst werden. 

Meine Aufgabe war, die verbrauchten Fliegen, die rings um den Kaiser auf dem Boden lagen, aufzusammeln und im Saal der verbrauchten Gedanken zu verwahren. Wie die Verpackungen guter Ideen, die man vielleicht noch einmal benutzen kann. Weihnachten, Geburtstagsgeschenk und so. Ich brachte sie in den riesigen Saal, ganz mit weißem Marmor ausgekleidet, ohne Fenster, nur eine einzige Tür. Von der Decke blickte ein gewaltiges Facettenauge, das ich selbst dorthin gemalt hatte, auf die winzigen Körper herab und bewachte sie. Kein Luftzug störte die Ruhe der leeren Hüllen. 

Oft lagen am Morgen, wenn der Kaiser bis tief in die Nacht über schwierigsten Fragen gegrübelt hatte, um seinen schlafenden Körper in etlichen spitzkegeligen Haufen die verbrauchten Stubenfliegen. Wie die Patronenhülsen um ein Maschinengewehr, das bis zum Sonnenaufgang in einen dunklen Wald gefeuert hat. 

Ich sammelte vorsichtig die leeren Hülsen ein, stets darauf bedacht, seine Majestät nicht zu wecken. Nach getaner Arbeit stand ich da, betrachtete unseren gottgleichen Herrscher und lächelte, denn ich konnte ihm vertrauen. Er schöpfte seine Weisheit aus dem Gesumme der Fliegen, wie hätte der Erleuchtete da je in die Irre gehen können? Je? In die Irre? Gehen? 

Doch nur: wie hätte es anders? Eines Tages, als ich meinen schlafenden Kaiser betrachtete, sah er nicht aus wie sonst. Kein summender Atem entwich mehr seinem Munde, der ausgetrocknet war, die Lippen rissig. Eine Fliege saß auf seinem Augenlid, kletterte wie auf einer Sprossenwand über die Wimpern, zwischen denen ein halb geöffnetes, totenstarres Auge hervor linste. 

Ich war es, der des Kaisers Leichnam fand und das ganze, riesig weite Land in abgrundtiefe Trauer stürzte. So jedenfalls hätte ich es mir gewünscht. Die meisten Menschen haben aber leider gar keine Ahnung von der Existenz ihres Kaisers. Sie verabscheuen Fliegen, glauben, eigene Gedanken zu haben, und wedeln mit der Hand in der Luft, wenn sie das Summen des Geistes im Ohr bemerken, anstatt aufmerksam hinzuhören, was er ihnen verraten möchte. 

Und jetzt? Ich sammele weiter unermüdlich die Hüllen vergangener Gedanken. Es ist wie beim Pilzesuchen – siehst du einen, siehst du alle. Sie liegen überall herum, vor den Kneipen und Wirtshäusern, in den Straßen, in den U-Bahnen und Bussen, in Pausenhöfen und Konferenzsälen, in der Messe, im Rathaus, im Fußballstadion, in der Bibliothek. Ich schaffe von überall tote Fliegen nach Hause, wo sie inzwischen sämtliche Fenstersimse und Regalbretter bedecken, den Keller verstopfen und die Badewanne blockieren. 

Ich werde weitermachen bis zu dem Tag, an dem die Masse eine kritische Grenze überschreitet. Dann wird der blausamten schimmernde Berg unter seinem eigenen Gewicht in sich zusammenbrechen und mit einer gewaltigen Supernova das bisher denkbare Universum sprengen. 

Eine neue Zeit wird beginnen, denn wir werden unsere Welt neu denken. Und gut daran tun, auf die Fliegen zu hören… sssssss, ssssssss, ssssssss…

Jutta v. Ochsenstein: es fließt

doch spürbar die bleibenden Flügel:
ein Dornenstich in der Brust
am Felsenufer gestrandet

auch dort wohnen Zeichen:
Samenflug, Windrosen
wir atmen mit bleiernen Flügeln

zwischen den Zeilen zittert
die Hand auf der Stirn weiß

Augenblicke springen im Spiegel
das Himmelsblau im Vorüberziehen

Harald Kappel: die Motte

im silbergrauen Regen
aus dem dunklen Moor
unter den niedrigen Kiefern
schlüpfe ich aus der alten Haut
hinterlasse milchweiße Fetzen
krieche rücklings
aber voller Hoffnung
über Wurzeln und Steine

erscheine eigenartig schön
in fremden Augen
in deinen Augen
bleibe ich 
eine heuchelnde Made
ohne Einsehen

so altere ich schnell
unter der grünen Lampe des Waldes
wohne im Bootssteg
tief im Eisenholz
blinzele gelegentlich
in die träge Sonne
nage Bitternis in den Magen
schmecke
rieselnde Verzweiflung
und doch glitzerst du
unsterblich

ich 
werde niemals fliegen
im silbergrauen Regen

Harald Kappel: ans Fenster treten

Ans Fenster treten
das Leben steht still
Vögel fliegen nicht mehr
Seelen schaben die Landschaft
unsere Zeit sinkt in verschimmeltes Brot
Bäume wandern umher
endlich
die Farben brennen
was bleibt ist Asche
tote Halme unter Planen
ans Fenster treten
das Leben 
ich sehe nicht
das Leben
vergessene Spuren
das Leben leben
womit denn
wenn nichts fliegt
wenn Klänge im Vacuum versiegen
womit denn
fühlen 
wenn man Hände
im kalten Meer
Gebeine nennt
ans Fenster treten
tun
was zu tun ist

Matt S. Bakausky: Fliegen umkreisen seinen Körper

“Warum fliegen da fliegen um deinen Freund?”, fragt mich Sabrina.

Ich will es nicht zugeben, aber mein Freund ist tot.

“Er hat’s nicht so mit der Hygiene”, antworte ich selbstbewusst.

“Und wieso bewegt er sich nicht?”

“Er hat gerade eine außerkörperliche Reise, das macht er manchmal” sage ich halbgelogen. Damit ist Sabrina erstmal zufrieden, denke ich. Eine Sichtung der Smartphone-Uhr verrät, dass mein Freund wohl vor etwa zehn Stunden verstorben ist.

“Hast du das Geld?”, versuche ich das Gespräch wieder auf sachliche Bahnen zu lenken.

“Es müffelt ganz schön, wann kommt dein Freund wieder von seiner Reise zurück?”

Ich schreie sie an “Scheiße, er ist tot, siehst du nicht dass er tot ist?”

Jetzt fängt sie an zu weinen. “Gib mir schon das Geld, nimm den Stoff und verzieh dich”, sage ich etwas ruhiger, wobei ich ihr anfangs in die Augen starre und dann zu Boden blicke.

“Hör mal Marc, willst du nicht einen Krankenwagen holen?”

“Ich möchte keinen Krankenwagen holen” antworte ich trocken.

“Scheiße was ist nur aus dir geworden, Marc. Lässt hier einfach deinen Freund verrecken.”

“Ich weiß nicht was ich tun soll”, gebe ich schluchzend zu. “Er hatte einen Bündel Scheine dabei und wollte mehr als sonst”

“Du bist echt das Letzte”, faucht sie mich an, stürmt ins Bad und schließt die Tür von innen ab. Ich setze mich neben die Leiche, nehme seine Hand und fange an zu weinen. Sage ihm, dass er jetzt an einem besseren Ort ist. Sage mir, dass er jetzt an einem besseren Ort ist. Sabrina ist immer noch im Bad.

Ich rufe “Du weißt, dass ich keiner Fliege was zu Leide tun kann. Es war ein Unfall.” Jetzt entsteht ein Plan. Ich muss mich der Situation stellen, doch zunächst muss ich Sabrina auf meine Seite bringen. Ohne ihre Unterstützung geht hier nichts.

“Kannst du mir vielleicht helfen, Sabrina”
Sie antwortet nicht.
“Ich muss da ein paar Sachen wegschaffen, bevor ich die Sanitäter rufe”
Keine Antwort.
“Sabrina?” rufe ich. Ich gehe zum Bad und klopfe an die Tür. “Es tut mir Leid, Sabrina, aber ich könnte wirklich deine Hilfe gebrauchen”
Leises Schluchzen aus dem Bad.

“Es springt auch was für dich raus, Sabrina, mach bitte die Tür auf”

“Okay, du kannst das Zeug haben, alles, du musst es nur mitnehmen”
Sie öffnet die Tür, kommt aber nicht raus. Ich sehe das als Einwilligung. Nehme eine Plastiktüte aus dem Vorratsschrank und packe, die Sachen ein. Gehe durch die Wohnung von Geheimversteck zu Geheimversteck. Laufe mit dem vollen Beutel in den Flur und da steht sie mit rotgeweinten Augen.

“Ach Sabrina”, ich will sie umarmen, jedoch drückt sie mich von sich. Sie packt den Beutel in ihren Rucksack und verschwindet.
Jetzt ist der Moment der Wahrheit gekommen.
Mein Freund sitzt still da, Fliegen kreisen um ihn.

Ich wähle die Nummer.

Michael Ludwig: Fliegen

Wenn sich eine Fliege die Hände reibt, dann sieht das sehr menschlich aus. Sie ist voller Vorfreude, dass sie uns Menschen eines Tages überleben wird. Vielleicht freut sie sich auch gehässig über die Vorstellung, eines Tages ihre Eier in unsere verwesenden Körper zu legen und ihren Kindern, diesen weißen fettigen Maden dabei zuzusehen, wie sie uns auffressen. Der Entomologe nimmt uns aber jeden Spaß, wenn er erklärt, dass die Fliegen nur die Sensoren an ihren Beinen reinigen. Die Entomologie macht wie jede Wissenschaft irgendwann jeden fantasievollen Gedanken kaputt.

Obwohl… das stimmt nicht ganz. Es gibt viele wirklich fantastische Sachen die in der Natur tatsächlich passieren. Die Krötengoldfliege legt ihre Eier in die Nasen von Kröten und die Larven fressen das Hirn der armen Amphibie bei lebendigem Leib auf… aber das dauert etwas… das Futter, in dem Fall die Kröte soll ja nicht gleich verfaulen. Als Kind habe ich fasziniert auf das Schwarz-Weiß-Foto solch einer Kröte im Buch Urania Tierreich Band Insekten geschaut, die traurig und mit angefressenem Hirn in die Kamera schaute.

Solche Sachen haben mich schon als kleines Kind begeistert und ich begann den Insekten mein Leben zu widmen. Fliegen waren da allerdings nicht unbedingt die Nummer eins. Mein Bruder und ich nutzen sie nur in Ermanglung eines echten Hundes oder Katze als Haustier. Wir banden vorsichtig ein Faden um eines ihrer Beine und sahen zu, wie sie schwerfällig an die Decke flogen. Dort konnten wir sie einfach mit dem Faden zurückholen. Später taten sie uns leid und wir wollten sie losbinden, aber das ging meistens auf Kosten eins ihrer Beine. Aber hey… sie haben sechs. Im Gegensatz zu Käfern oder Schmetterlingen ergab das Sammeln und Präparieren von Fliegen nicht wirklich einen Sinn. Ich wusste ja auch was die fressen, jeder der beim Camping im Hochsommer mal in den Wald geschissen hatte, sah beim Anblick riesiger Schwärme, die sich in Sekunden näherten was Fliegen fressen.

Dabei gibt es nicht nur Schmeißfliegen, die Unterordnung der Fliegen, die wie die Mücken zur Ordnung der Zweiflügler gehören, ist riesig: Es gibt Raubfliegen, Bohrfliegen, Fruchtfliegen, Raupenfliegen, Zitterfliegen und noch viele mehr.

Zu so etwas wie Beliebtheit oder Ruhm haben es am Ehesten die Schwebfliegen gebracht, sanft schwebende Blütenbesucher, die sich als Wespen oder Bienen tarnen. Der Schwede Fredrik Sjöberg hat sie mit seinen Büchern so richtig bekannt gemacht. Weil ich als Jugendlicher in ein Mädchen verliebt war, die ich einmal im Jahr in so Biologischen Jugendlager traf und die sich die Schwebfliegen zum Objekt machte, kenn ich noch heute einige ihrer lustigen, deutsche Namen:

Gemeine Schattenschwebfliege
Gelbflügel-Erzschwebfliege
Zwiebelmondfliege
Späte Frühlingsschwebfliege
Halbmond-Blattlausschwebfliege
Gemeine Schnauzenschwebfliege
Goldhaar-Langbauchschwebfliege
Späte Großstirnschwebfliege

Das Mädchen hieß Anke.

Theobald Fuchs: Fliegen

Ich liebe es zu fliegen. Richtig zu fliegen, frei in der Luft, ohne Geräte, ohne Maschinen. Nur mit der Kraft meiner Arme. Dabei fühle ich mich sicher, da ich ja selbst entscheide, in welche Höhe ich steige und wohin ich segele. Da wo ich selbst hinkomme, komme ich auch wieder heil heraus und zurück und herunter. Das ist die alte Regel. Der ich vertraue. Deswegen hat eine Katze Schnurrhaare, damit sie spürt, ob sie aus einem Loch wieder herauskommt, ehe sie hinein kriecht.

Meine Mutter war dagegen, dass ich flog. Strikt dagegen. Sie wollte, dass ich etwas Gescheites lerne. Sie hatte wohl zu viele üble Geschichten gehört von Kindern, die ihren Eltern einfach davonflogen. Mein Vater hatte keine Angst deswegen, er unterstützte mich, zeigte mir auch ein paar gute Tricks wie am Rücken fliegen und in einer Wolke die Luft anhalten, damit einen keiner darin entdecken kann. Ich flog ja auch nicht einfach fort. Als es irgendwann soweit war, verabschiedete ich mich ordentlich wie es sich gehörte und sprang vom Fensterbrett aus der Küche. Meine Mutter weinte, ihr nasses Taschentuch flatterte im Wind, dabei flog ich nur ans Ende der Straße, wo die Schule stand.

Die Schule an sich war ganz o.k. Wir lernten dies und das, doch was mir nicht gefiel: es gab haufenweise unerfüllte Vorstellungen, nicht eintreffende Erwartungen, ungültige Versprechen.

»Gleich fliegst du raus!« sagten mir die Lehrer ein ums andere Mal.

Darauf freute ich mich immer, doch der Lehrer war ein Lügner. Große Enttäuschung. Zu Fuß verließ ich das Klassenzimmer, niemand beschwerte sich. Da war etwas versprochen worden, aber nicht gehalten.

Ich probierte es immer wieder, bis ich die Schule abgeschlossen hatte. Mit drei Schlössern, deren Schlüssel ich in einer Erdspalte versenkte. Und Wasser hinterher kippte. Heute ist dort das tote Meer. Das Salz darin kommt von den Tränen all der Schüler, die enttäuscht wurden. Von sich selbst, von den Lehrerinnen und Lehrern, vom Unmöglichen als solchem, das leider echt knorzengroß ist.

Doch was hülfe mehr gegen Kummer als Bewegung in der frischen Luft? Es gibt kein Problem, das sich nicht mit Fliegen lösen ließe!

Das Schönste aber ist, im Flugzeug zu fliegen. Während die anderen in ihre Sitze festgeschnallt dasitzen und Angst haben, dass die Maschine am Boden zerschellt.

Verkrampft und bleich klammern sie sich an die Armlehnen, stoßweise und gepresst atmen sie die dünne Luft in der Kabine. Nur ich bin entspannt, nur mich stört es nicht, wenn die Hände der Stewards und Stewardessen vor Angst zittern und sie den Gin Tonic verschütten und ihnen die Tränen über’s Gesicht laufen, während sie dir einen schönen Flug wünschen. Tränen, die sie um sich selbst weinen, dass sie so dumm gewesen waren und nichts Gescheites gelernt haben, etwas, worauf ihre Mütter endlos gedrängt hatten, sondern dass sie diesen Beruf ergriffen haben, der nichts anderes als ein Selbstmordkommando ist.

Ich gleite derweil sanft und entspannt über den Köpfen der Menschen von vorn bis zum Heck der Maschine und wieder zurück zur Tür, hinter der Pilot und Pilotin vor Angst Blut schwitzen und mit verkrampften Händen beten, was das Zeug hält. Immer auf und ab fliege ich, ganz ruhig, ohne Furcht. Bis wir zusammen landen, der große Vogel und ich.

Wenn ich es nicht könnte, wenn ich nicht fliegen könnte, überall hin, wo ich will, und ganz besonders im Flugzeug – ich glaube, ich hätte dann auch wie alle anderen höllische Flugangst… behauptet zumindest meine Therapeutin. Oh! Jetzt geht’s los. Hören Sie auch dieses Geräusch? Na, dieses sirrende Geräusch, das da aus dem linken Motor kommt? Ganz klar zu hören ist das, da stimmt doch etwas nicht! Ogottogottogott… wir stürzen sicher ab!