Margret Bernreuther: Der Fächer mit dem Pandabären

Jeden Morgen, wenn ich die Wohnung verlasse entdecke ich unten auf der Ablage bei den Briefkästen neue Figürchen oder andere Haushaltsgegenstände.
Oft sind es kitschige aber nicht besonders hochwertige Porzellanfiguren. Manchmal ein Gewürzglasrondell. Gestern stand ein Kochbuch zur Anleitung für fettreduzierte Ernährung dort.
All diese Gegenstände sind sehr bunt zusammengewürfelt. So war neulich auch mal ein aufwendig bestickter Fächer in einer mit Stoff bezogen Schachtel dort zu finden. Auf dem Fächer zwei Pandabären, die unter einem blühenden Kirschbaum spielen. Die Kiste mit goldenen und roten Stoff besponnen. Auf den ersten Blick, insgesamt ein hübsches Ding, aber trotzdem konnte die Verpackung und Gestaltung dieses Fächers, dennoch nicht die mangelnde Wertigkeit der
Sache verbergen.
Es wirkte bei genaueren hinschauen eher wie ein Gegenstand aus einem günstigen Souvenirladen gar einem AsiaShop aus der Innenstadt, bei dem neben der Tütensuppe und den Gewürzsoßen, das ein oder andere Handwerkszeug verscherbelt wird.
So wie all die Dinge die dort bei uns auf der Ablage landen, stellen keinen kostspieligen, aber im ganzen doch vielleicht, ideellen Wert dar.
Hinunter stellen tut sie unser Nachbar. Da bin ich mir sehr sicher.
Ich habe ihn zwar noch nie direkt dabei erwischt. Aber da wir ansonsten ein sehr junges Haus haben, bin ich mir sicher, dass die Gegenstände aus seiner Wohnung stammen.
Herr Schag wohnt im Stock über uns. Er ist über 80 Jahre alt und ist derjenige, der schon immer hier gewohnt hat.
Unzählige WGs und junge Menschen hat er schon ein und ausziehen erlebt.
Die früher noch regelmäßigen Hoffeste hat er immer wohlwollend vom Balkon aus mit erlebt, konnte sich aber trotz mehrmaligen einladen, nie dazu aufraffen zu uns hinunterzukommen.
Zusammen mit seiner Frau standen sie dann also manchmal für längere Zeit am Balkon und schauten sich an, was da so alles los war in unserem Hof.
Noch nie gab es auch nur eine Beschwerde, wenn eine Feier länger dauerte, oder gar das Aufräumen am nächsten Tag allen beteiligten sehr schwerfiel und es sich bis in die kommende Woche hineinzog, das alles wieder an Ort und Stelle war.
Mit der Zeit und mit den Jahren ließ aber auch die Anteilnahme vom Balkon aus immer stärker nach.
Seiner Frau ging es nicht mehr so gut. Sie wurde dement und ihr gemeinsames Konstrukt fing an zu bröckeln. Wir im Haus hatten schon einiges an Erfahrung mit dementen Bewohnerinnen.
In der Wohnung nebenan wohnte eine italienische Nona, die trotz hochgradiger Demenz noch bis ins hohe Alter in Schlappen auf ihrer Vespa zum Einkaufen gefahren ist. Manchmal hat sie sich verfahren und dann gab es wieder große Sorge und die Kinder haben sie mit uns zusammen gesucht.
Irgendwann wurde den Kindern klar, daß sie ihre Mutter nicht mehr in unserer Verantwortung lassen können. Und sie ist, vermutlich zum sterben nach Italien gebracht worden.
Frau Schag die freundliche Nachbarin, ereilte kein so schönes Schicksal. Ihr Mann versuchte es eine Zeit lang damit, sie einzusperren. Aber nachdem sie auch in der Wohnung dann Dinge nicht mehr so hinterlassen hat, wie er es gewohnt war und man sich nicht mehr darauf verlassen konnte, dass sie das Essen richtig kocht und überhaupt die Dnige tut, wozu man doch so eine Frau hat, hat Herr Schag sie ins Altenheim gebracht. Ich verwende seine Worte.
Ich weiß nicht wie viel Liebe da jemals im Spiel war. Und auffällig fand ich es schon immer, dass wir noch nie eines der 3 Kinder bei uns im Haus angetroffen haben.
Dieses alte Pärchen, deren Leben nach Erzählungen von Frau Schag nur aus Arbeit bestand. Ich kann nicht beurteilen, ob sie glücklich waren oder nicht. Und noch weniger kann ich die Dinge beurteilen, die Herr Schaag nun langsam aus der Wohnung räumt.
Für ihn anscheinend wertlose Dinge, die seiner Frau gehören.
Sie wird nicht wieder zurückkommen und er hat keine Verwendung dafür. Aber direkt in die Mülltonne werfen möchte er sie auch nicht. Dafür hängt vielleicht der Geist seiner Frau zu sehr an diesen Dingen.
So machen sie vielleicht nochmal eine Zwischenstation. In einer der WG’s. Oder so wie bei uns. Der kleine Fächer mit den spielenden Pandabären.
Würde Herr Schaag in anstatt ihn zu verschenken, seiner Frau ins Altenheim mitbringen, würde sie sich vielleicht an die Reise nach China erinnern, die sie vermutlich nie gemacht haben.

Katrin Rauch: Warum Potemkin keine Romane hätte schreiben sollen

oder:
lest mich als buch

und reißt mich in seiten

vielleicht bin ich auch gar nicht

manuel neuer

Ich bin gekommen, um euch die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, die komplette, ungeschönte Wahrheit, lücken- und schonungslos, full disclosure, volle transparenz in my opinion to be honest. Es wird nichts vage und keine Antworten schuldig geblieben, keine Fragen offen gelassen sein und werden, kein Zweifel soll auf- … Ich bin gekommen und als offenes Buch will ich gehen, was sag‘ ich, als loser Stapel Zettel, Fetzen, Phrasen, Buchstaben. Ich werde mich komplett auseinandernehmen und ihr dürft mich nach Lust und Belieben wieder zusammensetzen, vielleicht ja:
Ja, vielleicht ja zu jemandem, was einen Hund besitzt, seit Neuestem erst, und leicht überfordert ist damit, aber das Internet weiß zum Glück, wie oft man einen Bernhardiner füttern muss am Tag und womit überhaupt. Das Internet weiß viel zu viel darüber, wie oft man einen Bernhardiner füttern muss am Tag und womit überhaupt. Vielleicht bin ich jemand, was jetzt ein bisschen enttäuscht ist, weil der Bernhardiner nicht so flauschig ist, wie er bei Heidi ausgesehen hat, oder, weil ein Bernhardiner nicht in einer Stadtwohnung wohnen kann und weil ein Chihuahua ein schlechter Ersatz ist für einen Bernhardiner, vielleicht hasse ich Hunde auch. Allein wie sie riechen, obwohl sie doch selber angeblich so einen guten Geruchssinn haben, da passt irgendwas nicht zusammen, something does not add up here! Das ist mir alles nicht ganz geheuer, ja und vielleicht hab ich ja auch krass Angst vor Hunden, so ganz grundlos, oder weil mir mal das Nachbarskind als Hund verkleidet in den Unterarm gebissen hat, so mittelleicht, aber bissi Abdrücke waren da halt schon.
So wie damals, wo mir endlich der Gips vom Unterarm gesägt wurde, diese Abdrücke von den gipsgetränkten Netztüchern auf der weißen, von der Sommersonne und dem Seewasser unberührten Vorschulkindhaut. Aber vielleicht ist das gar nicht passiert und ich hab‘ mir vielmehr mit 17 den Haxen, mit 29 das Schlüsselbein, oder als Baby die Schädeldecke gebrochen.
Sagt ihrs mir! War ich Punk als Teenager oder Goth oder Krocha? Hab‘ ich mir damals so exzessiv die Haare gefärbt, dass sie nun aus Not so kurz sind, oder hab‘ ich erst vor kurzem zum allerersten Mal Strähnen blondiert? Oder doch vielmehr Färbephase mit späterem Abschwören in der Ökohippie unverpackt anti-Konsum Mehrweg era, die als letztes Aufbäumen der inneren Pick me nötig war für die nächste mittelfristige, sich aber endgültig anfühlende Lossagung von eh allem.
Wie alt bin ich überhaupt? Wie hoch ist die Zahl, die die mehreren oder wenigeren Jahre in diesem Leben ausdrückt und was ist mir in diesen ganzen Jahren passiert? Wurde ich etwa geboren? Hab‘ ich geschrien und gegessen? Wurde ich fallengelassen, Stichwort Schädeldeckenbruch, und wenn ja mit welcher geilen Story erklärt sich das, dass ich das überlebt habe? Wollte ich einen Hund als Kind oder eher unbedingt im letzten Sommer, die keine Schulferien waren, mit Anlauf und kopfüber in den See springen mit der Schädeldeckenbruchnaht voraus? Hab ich das gemacht, oder hatte ich einen dies verunmöglichenden Gips am Unterarm, hab ich mir die Schädeldeckenbruchnaht an der Seewasseroberfläche wieder aufgeschlagen? Apropos überlebt, hab‘ ich meine Mutter schon überlebt? Meinen Vater? Und bin ich überhaupt alt genug, dass das eh nicht richtig richtig schlimm wäre? Wie viele meiner Großeltern leben noch, habe ich überhaupt welche? Habe ich Augen, eine Lunge, wie viele Nieren hab ich noch, habe ich Beine? Vielleicht habe ich keine Beine, oder welche, die ich ablegen kann, vielleicht hat sie mir ein Löwe abgebissen, oder ein Nachbarskind oder ein Chihuahua oder ein als Nachbarskind verkleideter Chihuahua. Vielleicht hab‘ ich so viele Beine, dass eines weniger eh nicht richtig richtig schlimm wäre.
Was meint ihr? Vielleicht habe ich ja die Schule abgebrochen, vielleicht drei Mal oder das Studium, vielleicht drei davon, vielleicht auch eines drei Mal oder war ich überhaupt auf der Uni oder überhaupt in der Schule, sondern wurde vielmehr von einem Rudel Wölfinnen gelehrt bis mir ein Bart wuchs und Sackhaare und dann musste ich zu den Ottern oder Flamingos übersiedeln, die alle eine Variation von Arethra hießen: Enethra, Aneetra, Anita, Enita, Evita, Elvira, Elvis und so weiter und vielleicht ist mein engster Bezugsflamingo Antje ums Leben gekommen, als sie mich vor einem Alligatorangriff rettete und ich musste vor Trauer vergehen und dann aus Scham abhauen.
Vielleicht ist das aber auch gar nicht passiert und ich bin von zwei liebevollen, aber normalen, sogar heterosexuellen Menschen, sogar genau von denjenigen, die mich auch erzeugt haben, aufgezogen worden und ich hab‘ nicht mal die Schule abgebrochen. Vielleicht hab ich sogar echt weirde Sachen gelernt in der Schule, Russisch zum Beispiel und bin jetzt ganz stolz drauf, dass ich weiß, dass Potemkin gar nicht Potemkin sondern Потёмкин (Potjomkin) heißt und das e inmitten von Potemkin nur ein Transkriptionsfehler ist. Da hätte ich die Schule auch abbrechen können, habe ich aber nicht, ich hab mir nicht mal die Haare gefärbt, geschweige denn selber, nicht mal ein Piercing hab ich gehabt oder einen gebrochenen Finger, nicht mal ein gebrochenes Herz. Okay, ja, das ist effektiv zu absurd.
Lest mich als Buch und reißt mich in Seiten, vielleicht bin ich gar nix davon. Vielleicht bin ich Manuel Neuer und gleichzeitig auch NICHT Manuel Neuer, vielleicht bin ich unheimlich gelangweilt, dass diese alte Werbung noch immer zitiert wird, vielleicht bin ich diese Werbung oder diese eine Kühlregalsüßigkeitenwerbung! Vielleicht bin ich sie alle sowie sämtliche Dinge, die bekannte Werbungen haben, die ich hier aufführen wollte, aber vielleicht hasse ich ja Werbungen so sehr, dass ich sie nicht mal in künstlerischer Entfremdung reproduzieren will. Auch wenn oder vielleicht vor allem deshalb, weil es für so scheiß viele Dinge Werbung zu machen gibt. Aber es gibt halt wirklich einfach auch andere Kühlregalsüßigkeiten.
In eurer Zusammensetzung der Zettel und Fetzen bin ich vielleicht chronically online, vielleicht bin ich ein meme (ich denke, wir nähern uns der Sache): so drake meme: oben kein Internet, unten Internet und voll fein damit und gar nicht belastet, oder doch Güterzugmeme auf dem Bus steht Katron oder was auch immer mein Name ist und auf dem Zug steht zu viel Internet genauer gesagt viel zu viele fucking Kurzvideos oder das Meme mit der Animefigur, die auf einen Schmetterling zeigt und darunter steht „is this noch gesund?“ und auf dem Schmetterling steht meine Bildschirmzeit oder vielleicht bin ich auch Mitglied der Amish und bin gar nicht im Internet, sondern einfach nur erstaunlich gut im mitteleuropäischer Durchschnittsmillennial-Cosplay, dafür, dass ich nicht im Internet bin.
Vielleicht mache ich auch selber Internet und habe zu diesem Zweck einen Podcast namens Gerösteter Brühwecker mit Max, Werner, Doris und Jürgen und dort reden wir über alles, was schön ist und uns nicht das Hirn zersetzt und durch diese liebe, kreative Tätigkeit heilen wir ein bisschen, weil wir uns mit jeder cuten Idee in unseren Podcaststüberln ein wenig selber finden wie in einem sehr kleinen Ort im Tiroler Oberland. Vielleicht ist dieser Podcast auch eine Kurzvideoserie oder eine Blueskycommunity oder ein Discordchannel oder ein Forum für Fanfiction oder eine Lesebühne oder eine Communityradiosendung und ich habe diesen Text fünf Minuten vor Beginn des Podcasts, der Kurzvideoserie, der Blueskycommunity, des Discordchannels, des Forums für Fanfiction, der Lesebühne oder der Communityradiosendung geschrieben, vielleicht improvisiere ich gerade darüber, was mir passiert ist und was nicht, was ich bin und was eben nicht,…
oder vielleicht habe ich mein Leben lang, all die 67 Jahre lang an diesem Text gesessen. Vielleicht reihe ich die Seiten gerade schon fein säuberlich in der „richtigen“ Reihenfolge vor euch auf, vielleicht trete ich auch in eure Stapel, denn es kann keine gute Zusammensetzung geben. Vielleicht sitze ich an einem Endgerät für Podcasts, Kurzvideoserien, Bluesky, Discord, Fanfictions oder Radiosendungen in einer mittelgroßen Stadt in Mitteleuropa und höre und sehe und lese einen Text, wie zum verstreute Seiten durchforsten und zum frenetisch zu einem sinnhaften Buch zusammensetzen, oder wie zum Zauberwürfel lösen oder wie zum Fehlersuchen im Quellenverzeichnis einer wissenschaftlichen Publikation oder wie zum durch eine Straße gehen und hinter den Fenstern flackert kein Licht, da schaut keiner fern, da sterben keine Pflanzen, auch wenn sie keiner gießt. Da ist meist nur eine Wand vorne und die schaut zutraulich und liest und liest und liest mich fort zur nächsten Wand und zur nächsten und zur nächsten Wand und zeigt mir die Straße, mit der sie mir die ganze Stadt erklären will, mit dieser Filmsetstraße mit von klapprigen Gerüsten getragenen Wänden gesäumte Straßen in einer mittelgroßen Stadt in Mitteleuropa, die es gar nicht gibt. Vielleicht lerne ich an diesen Wänden mehr über die Stadt als von denen, die zu einem vollständigen Gebäude gehören, das sogar unterkellert ist vielleicht, wo die Abgründe eingewext in der selbstgetischlerten Holzstellage vor sich hin fermentieren. Aber vielleicht will ich die Häuser gar nicht kennenlernen, vielleicht bin ich Katharina die Große und ihr seid Потёмкин (Potjomkin) und ich bin absolut zufrieden mit den Zettelstapeln, die ihr mir hingestellt habt und ich schlendere mit meinem Troß durch die hübschen Reihen und erfreue mich an der ästhetischen Glätte.
Aber hinter manchen Fenstern flackerts halt doch.
Lesevorschläge:
Bitte den/die Titel mitlese
Finde recht hohes Tempo ganz schön bei dem Text, das dann ab „was ich bin und was eben nicht…“ langsam rausgenommen wird für ein getragenes Ende.
Bei „Katron oder was auch immer mein Name ist“ kann Lesi deren eigenen Namen statt „Katron“ einfügen, bei Interesse.
Potjomkin muss nicht doppelt gelesen werden, Klammer nur als Aussprachehinweis, falls Lesi nicht kyrillisch lesen kann.

Felix Benjamin: Bohemian Rhapsody

Ich fahre mit meiner großen Schwester in ihrem Auto zur Videothek. Das ist aus zwei Gründen aufregend, denn zum einen sehe ich sie nicht mehr so oft, seit sie ausgezogen ist. Bei jedem Besuch hat sie eine andere Haarfarbe, raucht eine andere Zigarettenmarke und stellt meinen Eltern fast jedes Mal einen neuen Freund vor. Sie ist groß und cool und ich will groß und cool sein.

Aufgeregt bin ich aber noch viel mehr, weil die Videothek ein magischer Ort ist, ein Tor zu anderen Welten. Ich habe einen Mitgliedsausweis und deshalb von der Videothek zum Geburtstag einen Gutschein für eine kostenlose Ausleihe bekommen. Dies soll meine Eintrittskarte in den „Tempel des Todes“ sein. Indiana Jones ist für mich der Größte und dieses Abenteuer ist das einzige, das ich noch nicht kenne, denn es ist erst ab 16. Meine Schwester soll mich also begleiten, damit mir der „Tempel des Todes“ ausgeliehen wird. In der Videothek findet sie aber einen völlig anderen Film, den sie begeistert aus dem Regal zieht: „Wayne`s World“. Das sagt mir gar nichts und interessiert mich auch nicht. Sie kann mich trotzdem leicht dazu überreden, mich gegen Indiana Jones zu entscheiden, schließlich will ich groß und cool sein.

Wieder am Steuer ihres Autos sitzend erklärt meine Schwester mir, dass ich „Wayne`s World“ unbedingt gesehen haben muss, allein schon, weil darin „Bohemian Rhapsody“ vorkommt. Sie legt ihr Best-of-Queen-Album in den CD-Player und fängt an, zu diesem Lied abzugehen. Sie singt laut mit und schüttelt ihre langen Haare. Ich fühle mich groß und cool, denn es war ja mein Gutschein, der es meiner Schwester ermöglicht, diesen Film zu sehen, auf den sie sich so freut. Auch ich schüttle meinen Kopf zur Musik und versuche mitzusingen, verstehe vom ?Text aber gar nichts außer „Mama, uuuu-uuuu.“ Das ahme ich nach und fühle mich dabei groß und cool.

Als wir zu Hause aussteigen, sagt meine Schwester, dass ich weggehen soll und in mein Bett scheißen.

Ich halte meine Tränen zurück, bis ich in meinem Zimmer auf dem Teppichboden zusammensinke.

Chris Morenz: Dü-Dö-Dü, kein Abschluss unter dieser Nummer

»No song on the radio could be too stupid for my heart… krschhhh…« – Frank klickt sich noch durch ein paar Sender, aber das hat noch nie was gebracht, ebenso wenig wie Prokrastination. Na dann, Radio aus. Der Motor ist auch schon längst aus, mindestens seit drei, fünf, sechseinhalb schlechten Songs. Im Rückspiegel sieht er die sonntagnachmittägliche Vorortstille auf dem Rücksitz bräsig ihren Schweinskopf heben. Sie schaut ihn spöttisch an und lässt (lautlos) einen fahren.
Es ist das erste Mal, dass er in dieser Stadt, in dieser Straße ist. Wochenlang hat er es vor sich hergeschoben, dann noch tagelang die Strecke immer wieder auf der Landkarte mit dem Finger nachgezeichnet. Das wird nie etwas, war ihm klar. Doch heute Mittag ist er einfach ins Auto gestiegen und ist hingefahren. Wahrscheinlich eine schlechte Idee. Deswegen hat er’s getan. Wäre es eine gute Idee, hätte er sie vermutlich ausgesessen. Aber nicht nur aus Erfahrung, auch vom Bauchgefühl her scheint dieser Ausflug eine schlechte Idee gewesen zu sein. Krampf im Magen, Kampf im Kopf, oder umgekehrt, oder beides. Und was ist eigentlich mit dem Herzen, das den ganzen Zirkus hier überhaupt erst ins Rollen gebracht hat? Es verschwand wenige Tage zuvor mit der Leber in einer Kneipe und ward seither nicht mehr gesehen. Immerhin haben sie ihm dieses schwächliche Ding, das bei den meisten anderen Leuten Rückgrat heißt, dagelassen. Diese Chance sollte er ergreifen. Wo er ohnehin schon hier ist… Hilft ja nix, nix hilft, dauernd hilft nix. Er stemmt sich tapfer aus seinem weißen Toyota, streckt sich den Rücken gerade. Wünschte, es wäre ein schwarzer Knight Industries Two Thousand, a.k.a. KITT, immer einen kessen Spruch auf dem Sprachmodul, wünschte, er selbst wäre… Aber damit fangen wir gar nicht erst an. Wenn wir jetzt Franks Gedankenstrom weiter folgen, stehen wir morgen noch hier in der Pampa. Folgen wir lieber FRANK…

Ach nein, der steht schon wieder still – minutenlang vor diesem unsäglichen Wohnhaus, du liebe Güte, ein NEUBAU, klotzgewordene Menschenfeindlichkeit. Als hätte ein grimmiger Betongott sie höchstselbst vor über 40 Jahren über die westdeutschen Städte gehustet, damit die Babyboomer Platz für ihr System-Leben haben, und immer noch schimpft sich dieser grau-grün-gelbliche Auswurf »Neubauten«. Wie kann man nur so leben? Antje konnte wohl gar nicht schnell und weit genug wegkommen von ihm und ihrem ALTEN Leben in der gemeinsamen ALTbauwohnung (zwar nicht Berlin, aber doch immerhin Hannover). In ihr NEUES Leben, in ihren NEUbau. Das hat’se jetzt davon.
Neubau, Bauernkaff, Kaffeefahrt, Fahrt zur Hölle… Schon wieder Gedankensumpf. Aber dann passiert endlich was, Frank läutet …

Doch nicht. Er glotzt bloß ihr Klingelschild an. Es ist in trotzigen Großbuchstaben geschrieben (kein keckes Kringelchen über dem ‚i‘ in ‚Schmidt‘) und achtlos und schlicht mit Tesafilm über den Namen des Vormieters geklebt. Sonst ist sie so akribisch. Hat dieses Haus nur ihren Sehnerv verkrümmt oder gar schon ihren Willen gebrochen? Frank scannt die Größe des Schilderrahmens. Ich könnte ihr mal ein gescheites… mit dem Drucker, nicht nur so schief und mit Kulli und…, er zerknüllt diesen Gedanken. Herrgott, Frank!, ruft er sich zur Räson. Er streicht mit den Fingerspitzen über das Provisorium als wäre es ihr Schlüsselbein, ihre Armbeuge, eine verirrte Haarsträhne in ihrem schmalen Gesicht,… dann sitzt er auch schon wieder in seinem Auto.
Komm schon, Frank, du bist ein erwachsener Mann – nicht nur weil du ein Auto fährst und daheim, das jetzt kein Daheim mehr ist, all diese Ordner mit Verträgen und Rechnungen im Regal stehen hast.
Naja, na gut, dann also Plan B: Er greift zum Handy, das auf dem Beifahrersitz liegt… ihr Sitz, ihr Hintern, ihre Nummer, die er jetzt eintippt. Es ist so unsinnig, Nummern aus dem Verzeichnis zu löschen, die man ohnehin und für alle Zeiten auswendig kennt. Würden sie ihm den schmerzenden Schädel endlich aufstemmen, man könnte die Ziffern vom Mond aus noch sehen! Er kennt auch die Summe sowie die Quersumme ihrer Nummer, er hat die Zahlen addiert und multipliziert, sie rückwärts gezählt und der Reihe nach sortiert, aufsteigend und absteigend, außerdem hat er mehrere Jingles dazu komponiert, in den vielen Nächten, die er diesen und letzten Monat wach lag, alleine. Aber gewählt, nein, gewählt hat er ihre Nummer tatsächlich nie. Bis jetzt…

TUUT – eine schallende Bud-Spencer-Ohrfeige voll auf’s Ohr!
TUUT – ein grollender Donner lässt die ganze Straße erzittern!!
TUUT – zwei Kontinentalplatten krachen gegeneinander, gigantische Land- und Wassermassen verschieben sich!!!
TUUT – ein Sonnensystem wird von einem schwarzen Loch geschluckt!!!!
Und plötzlich …, (»Hier ist Antje«) … wird irgendwo im Dunkeln ein neuer Stern geboren. »Hallo, wer ist denn da?«
»… Antje…«, presst Frank hervor.
»Nein, ICH bin Antje!«, feixt sie unbeschwert.
»… Antje…«, wiederholt er nur dämlich und räuspert sich zu alledem noch dämlicher.
»Frank? … Oh, hallo du«, ihre Leichtigkeit scheint jetzt ebenso dahin. »Was… was gibt es denn?«
»Hast du etwa meine Nummer gelöscht?«, hört sich Frank sagen. Als habe er sich das nicht denken können. Wie verdumm-dattert er gerade klingen muss. Souverän geht anders, Frank. Und jetzt steckt Stille in der Leitung.
»Bist du grad zu Hause?«, fragte er schließlich weiter.
»Jaa, naja, wieso?«
Statt zu antworten, fingert Frank nervös an seinem Schlüsselbund herum.
»Was tust du?«, fragt Antje, die das Klimpern gehört haben muss.
»Meinst du jetzt im Moment oder so allgemein? Also im Moment spiele ich an meinem Schlüsselbund herum, der am Zündschloss von meinem Auto hängt… Ansonsten eigentlich nicht so viel. Wirklich, wirklich nicht so viel…«
»Wo bist du?«
»Ich park‘ grad bei dir in der Straße. Am Lerchensteg, das stimmt doch, gell?« Und in die neuerliche Stille schiebt er hinterher: »Hüpsch… h-h-hüpsch hast du’s hier…«
Das Echo dieser letzten Unbeholfenheit hallt dumpf in seinem leeren Kopf, seinem leeren Herzen, seinem leeren Auto wider. (Hallo, Echo! – Hallo, Dummkopf!)
Irgendwie entgleitet Frank die Situation zunehmend.
»Wer ist am Telefon?«, fragt da im Hintergrund eine andere Stimme.
Fremde Stimme, fremde männliche Stimme. Bei Antje im Hintergrund… Fremde männliche Stimme bei Antje im Hintergrund?!
»Ich kann dich jetzt nicht reinbitten«, sagte sie wieder etwas gefasster.
Na zum Glück! Frank ist erleichtert. Wer auch immer der fremde Typ ist, der ihr Telefonat gerade stören will, sie schickt ihn wieder weg. Jetzt aber zur Sache…
»Frank…?«
»Hm?«
»Tut mir leid, okay?«
Moment mal! Offenbar war das gerade eben nicht an den Eindringling gerichtet sondern an IHN, Krank, oder… wie heißt er nochmal? Irgendwas, was sich auf ‚krank‘ reimt, jedenfalls… ‚Reservebank‘, ‚als er ertrank‘, ‚Verwesungsgestank‘. Zum Teufel, wieso kann sie ihn nicht einfach in ihr Wohnzimmer bitten und mit ihm eine vernünftige Unterhaltung führen; so vernünftig, wie es eben geht zwischen zwei Erwachsenen, die sich des öfteren nackt gesehen haben. Wer ist dieser Typ, der sich bei Antje rumtreibt. Wohnt er auch in diesem architektonischen Hassverbrechen? Sähe ihm ja ähnlich. Oder wohnt er gar bei IHR? Nein, am Klingelschild stand nur IHR Name. Aber was, wenn er denselben lahmen Nachnamen hat wie sie, schließlich ist Schmidt ein Allerweltsname. Möglicherweise steht er jetzt mit nassen Haaren und Duschhandtuch neben ihr. Oder mit so einer albernen Unterhose mit Eingriff. Was fällt ihm ein, neben Antje in Unterhose zu stehen und sich in ihre Privatangelegenheiten einzumischen.
»FRANK!«, wiederholt Antje.
Jetzt auflegen, einfach auflegen und wenigstens mit einem Krümel Restwürde aus der Sache rauskommen, und diesen Krümel mit nach Hause nehmen wie einen Cent, den man auf der Straße gefunden und eingesteckt hat. Also völlig nutzlos irgendwie. Mit dieser Münze kann man schließlich kein neues Leben starten, man kann sie ja nicht mal richtig nach einer Taube werfen, und für sowas hat man sich nun wie ein Idiot gebückt. Nun leg‘ doch endlich auf, Frank, oder noch besser, WACH auf, etwas muss doch jetzt passieren. Er atmet weiter stumpf in den Hörer, damit sie auch ja weiß, dass er, obzwar für vieles zu dumm, immerhin atmen kann. Ja, beim Atmen, da macht ihm niemand was vor! Naja, wäre da nicht dieser Kloß im Hals. Gar nicht so einfach, an dem vorbeizuatmen, bemerkt er. Lohnt es sich überhaupt noch, das mit dem Atmen? Ach, Antje wird’s schon irgendwie richten…
Oder?
»Is‘ halt grad echt schlecht, Frank«, hört er sie murmeln. »Pass auf dich auf, ja? … Bye-e.«
Und Stille.

Frank sitzt reglos in seinem Auto, das noch immer auf der gegenüberliegenden Straßenseite von Antjes neuem Leben parkt. Er wartet auf den Regenguss, den das Radio ihm schon die ganze Hinfahrt über versprochen hat. Wäre ja auch wirklich nicht zu viel verlangt, in Deutschland, im November, in Niedersachsen. Doch die Wolkendecke, die ihm beharrlich den reinigenden Regen vorenthielt, ist inzwischen endgültig aufgerissen. So muss Frank ganz alleine und ohne himmlischen Beistand weinen.

Schließlich reitet unser Held wie in einem alten Western allein in den Sonnenuntergang. Bloß dass das kein Western ist, und er kein Held, und statt zu reiten, fährt er… »Dreckskarre!« … heim. Allein das Alleinsein stimmt an diesem Bild; das Radio zählt dabei nun wirklich nicht als Gesellschaft, im Gegenteil. Zähneknirschend dreht Frank trotzdem am Sendersuchrad, in Antizipation der Tage und Wochen des Am-Rad-Drehens, die nun wieder vor ihm liegen.

Eurodance – Sendersuchlauf.
Radiojingle – Sendersuchlauf.
Statik – Sendersuchlauf.
Werbung – Sendersuchlauf.
Udo Lindenberg, der nölt: »Hinterm Horizont geht’s weiter…«
Bitte nicht, denkt Frank, wie er da dem Horizont entgegenfährt.

Bastian Kienitz: Tagesschau 07.02.

 (Ode, sapphisch)

brennen für die Reise. Lift testen. Flüge.
flügeln Drohnenhimmel. zig Bilder weiter
klärt das Wetter. wird schön äh. fightet über
mein Gott adieu.

sackte Mann. Maschinentropf. just die Gelder
in die Ärmel. nebst Rumgekurve shreddern.
oder Trader X und Null meinen. Klasse.
stehen mank Querschiff.

Bastian Kienitz: Dark City

Gehirnmodus: X-tra Large auf Welle EINS-NULL-EINS
da bleibt sich jeder fremd beim Übergang spektral
zum Individuum ein Zwischenbild in Intervallen: FRAME AUF FRAME
gleich Überblendung deines Bildausschnitts im Rah
men der Verschwiegenheit dein gezeichnetes ICH &
DU & das gespiegelte Selbst dazwischen mit der Ge-
dankenkraft große, kleine Dinge zu bewegen:

ICH GLAUBE DIES NENNT SICH WANDEL!