Christian Knieps: Tagebuch eines Vollzeitgenervten

Als meine Eltern in den Urlaub fahren wollten und sie das Wort Sommerfrische fallen ließen, dachte ich an Strand und einer frischen Brise und entschied, mit ihnen zu fahren, obwohl ich auch die Chance hatte, zu Hause zu bleiben. Es ist meinem Alter von 16 Jahren geschuldet, dass ich versuche, mich so wenig wie möglich mit meinen Eltern abzustimmen, da mir die lieb gewonnenen Freiheiten sehr wichtig sind. Daraus ergab sich, dass ich Sommerfrische falsch interpretierte und davon ausging, dass wir an einen Strand fahren würden, doch als wir uns auf dem Weg befanden und ich realisierte, dass das Navigationsgerät uns direkt in die Berge nach Österreich führte, schwante mir Übles. Doch ich hätte nie erahnen können, wie übel es werden würde, denn als wir ankamen, stellte ich fest, dass wir keinerlei Internet vor Ort besaßen – weder über kabelgebundenes WLAN, noch über eine ausreichende Datenverbindung via Satellit oder Funk. Wir waren astrein von der Außenwelt abgeschnitten, und mir wurde langsam klar, dass ich weder die richtige Kleidung für die zwei Wochen eingepackt hatte, noch, dass ich einen Plan hatte, was ich die ganze Zeit übermachen wollte, um nicht vollständig abgefuckt zu sein. In der Überzeugung, dass wir nicht in die Berge, sondern an den Strand wollten, hatte ich vor allem dünne, kurze Klamotten eingepackt, und war mir sicher, dass ich, am Strand liegend, die Brise und die Sonne genießen würde, doch es sollte ein Horrortrip am A-Punkt der Welt werden. Am ersten Tag nahm ich das Ganze noch mit einer Portion Humor, doch schon am zweiten Tag wachte ich mit knallenden Kopfschmerzen auf und war mir sicher, dass ich niemals wieder lebend nach Hause finden würde.
Ich verweigerte mich der ersten und der zweiten Wanderung an den folgenden Tagen und gammelte ohne Ziel und Verstand zuhause herum, tigerte durch die Wohnung und suchte nach einer Beschäftigung, doch mir wollte partout keine einfallen. Dem Kontakt zur Außenwelt beraubt, fiel mir nichts Sinnvolles ein, sodass ich am vierten Tag notgedrungen mit meinen Eltern auf eine Wanderung ging, in der Hoffnung, dass ich irgendwo ein Fetzen mobiles Internet finden würde, doch als ich diesen Fetzen endlich auf meinem Display in Form eines zarten Balkens zu sehen bekam, wurde mir schlagartig klar, dass mein Handyvertrag nicht für das EU Ausland freigeschaltet war. In meiner Verzweiflung versuchte ich noch, über die App meines Anbieters die Freischaltung zu erwirken, doch die minimalistische Verbindung reichte nicht mal aus, um die App sauber mit dem Server zu verbinden, geschweige denn, irgendetwas zu ändern. Somit war ich auch meiner letzten Hoffnung beraubt, innerhalb des Urlaubs noch irgendwie mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Als wir am Ende des Tages nach Hause kamen, verkroch ich mich umgehend in mein Zimmer, und meine Eltern waren feinfühlig genug, um zu verstehen, dass ich diese tiefe Kurzdepression mit mir selber ausmachen musste, denn alles, was sie mir in diesem Moment gesagt hätten, wäre zu einer weiteren Vollkatastrophe ausgeartet. Ich weiß nicht, ob jemals jemand in der Weltgeschichte in meinem Alter mit einer solchen Langeweile konfrontiert war, doch mir ging es, als würde die Welt absichtlich stehen bleiben, und wenn ich den Sekundenzeiger auf der Uhr beobachtete, wie er vor sich herkroch, hatte ich das Gefühl, in meinem Geist auch die Hundertstelsekunden mitzählen zu können. Mir war so langweilig, dass ich sogar vergaß, mein Handy zu laden, das mir sowieso nichts brachte, und ich tigerte wieder durch das Haus, in der Hoffnung, dass irgendein Geistesblitz mir half, diese Zeit zu überstehen. Als ich zum Abendessen gerufen wurde, sagte ich meiner Mutter, dass ich kein Hunger hätte, doch sie nötigte mich, wenigstens eine Kleinigkeit zu mir zu nehmen, und während ich lustlos auf einem Schinkenbrot vor mich herkaute, entdeckte ich an der Seite der Küche, auf einem Regalboden dahinschimmelnd, einen Schreibblock und entschied mich spontan, dieses Tagebuch eines Vollzeitgenervten anzufangen.
Ganz im Ernst! Welcher im Kopf nicht ganz sauber tickende Schwachmat hat sich das mit der Sommerfrische ausgedacht! Ich vermute, wenn Google funktionieren würde, würde ich herausfinden, dass irgendein Schlaumeier vor ein paar hundert Jahren auf die grandiose Idee kam, Kinder mit ihren Eltern in einen langweiligen Urlaub zu zwingen und diesen Sinnlostrip mit dem tollen Wort Sommerfrische aufpeppen zu wollen! Ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Köderwort – denn anders kann man dieses Wort nicht beschreiben – in der heutigen Zeit im Strafgesetzbuch unter Kindesmisshandlung steht, denn anders kann ich mir kaum vorstellen, wie das heute gesehen wird! Wie kommen Eltern eigentlich auf die absurde Idee, dass Jugendliche in meinem Alter Bock haben, auf einer rustikalen Almhütte den ganzen Tag ohne Internet und nur mit frischer Luft zu verbringen? Erfüllt es nicht den Tatbestand der Kindeswohlgefährdung, wenn Eltern ihre Kinder nötigen, über mehrere Wochen abgeschnitten von der Gesellschaft und dabei jeglicher Kommunikationsmittel beraubt zu sein, um sich auf sich selbst zu konzentrieren? Wo kämen wir denn hin, wenn das rechtmäßig wäre?! Ich bin der festen Überzeugung, dass wir um mehrere Jahrhunderte zurückgeworfen werden würden, wenn die Eltern ernsthaft diese Strategie weiterbetreiben dürfen! Gibt es kein verbrieftes Recht auf elementare Kommunikation, das ich besitze? Rechnen wir mal nach! 2 von 52 Wochen sind knapp 4% an Jahreslebenszeit – und da ist die Fahrzeit großzügig rausgerechnet! Stellen Sie sich einfach mal vor, Sie wären 4 % weniger informiert! Das klingt im ersten Moment gar nicht viel, doch wissen sie eigentlich, wie viel 4 % an Informationsverlust wirklich bedeutet? Das kann in ganz vielen Dimensionen dazu führen, dass man raus ist, denn diese 4 % sind ja nicht verteilt auf ein Jahr, sondern massiert in zwei Wochen. Das bedeutet, wenn in diesen zwei Wochen elementare Dinge in meiner Umwelt passieren, von denen ich nichts mitbekomme und gegen die ich nichts unternehmen kann, sollten Sie mich betreffen, wachsen diese 4 % schnell auf einen Einflussfaktor heran, der mein ganzes zukünftiges Leben verändern kann. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: angenommen, ich wäre in einer Beziehung – und entweder wäre diese Beziehung noch in der rosaroten Anfangszeit oder vielleicht in einer kurz kriselnden Zeit – dann könnte es sein, dass die 4 % dazu führen, dass die Beziehung scheitert und mein ganzes Leben eine andere Richtung erhält! Wer würde für diese elementare Veränderung meines Lebens die Verantwortung übernehmen? Meine Eltern? Ha! Sicher nicht derjenige, der uns das Haus vermietet hat, in dem es kein Internet gibt? Sicherlich ist das in den AGBs ausgeschlossen! Derjenige, der vor hunderten Jahren das beknackte Wort der Sommerfrische erfunden hat? Sie wissen, worauf das hinausläuft! Meine Rechte werden mit Füßen getreten, es scheint allen egal zu sein, was mit meinem Leben passiert, auch wenn es am Ende nur 4 % meiner Jahreslebenszeit sind! Frische hin oder her – da verbringe ich den Sommer doch viel lieber in meiner stickigen Bude, wo mir wenigstens nicht langweilig ist! Lieber frisch in der Birne als frisch im Sommer, der nix Frisches am Start hat! So, da habt ihr meine Meinung zu Sommerfrische – und was mache ich jetzt die nächsten 10 Tage?

Christian Knieps: Sommerfrische

Disclaimer: Achtung! Dieser Artikel kann Hinweise auf Produkte erhalten, die zur empirischen Fallstudie notwendig waren. Da dies kein Warentest im herkömmlichen Sinne darstellt, wird sich an dieser Stelle in aller Form entschuldigt!
Wer kennt das nicht? Es ist heiß im Staate Dänemark, aber auch in der eigenen Großstadt, die in einem Kessel liegend die Grillstufe des Backofens angeschaltet hat, Hitze von oben und unten, und selbst im fast nacktem Zustand kann man erfühlen, wie sich ein Brathähnchen in der Röhre fühlen mag. Die Luft ist stickig, diesig, eine Glocke mit wabernder oder stehender Luft heizt das Ganze weiter an, die Schweißporen streiken, da die körpereigene Kühlung längst überfordert ist. Die Gedanken richten sich im Halbwahn auf nur ein Ziel: Sommerfrische! Ab zum Meer! Raus aus dem Glutofen, hinein in die steife, angenehme Brise, irgendwo auf eine Insel, auf der Touristen das Kommando längst übernommen haben.
Doch o Wunder! Ganz viele kennen das nicht! Aus vielerlei Gründen ist die Zahl derer, die sich das nicht leisten können, in den Jahren stetig gewachsen. Familien, die schlichtweg zu wenig Geld verdienen, um gleichzeitig in einer gekauften Erdgeschosswohnung einen Infinitity Pool zu betreiben, sind oft ohne ausreichende Mittel, und auch Singles, die ihr Geld dafür ausgeben, um den Ausbau ihrer Maisonette-Altbauwohnung zu ermöglichen, da die Anzahl der einmal getragenen Kleidungsstücke unmöglich mehr in die beiden begehbaren Kleiderschränke passen, können es nur per Kredit finanzieren – die Welt ist schon arm dran!
Aus diesem Grund – und aus rein kapitalistischen Aspekten natürlich – hat ein Unternehmen, das zuvor mit seinem Produkt auf dem Holzweg war – glowing Gelantinezuckerformdrops wirken eher abschreckend auf Käuferinnen und Käufer, die befürchten, selber danach zu glühen, was nachts den empfindlichen Schlaf in der Gluthitze weiter stören könnte – dieses Unternehmen also hat ein Produkt entwickelt, das die Sommerfrische in die eigene Wohnung bringt. In den eigenen vier Wänden das Gefühl von Urlaub zu verspüren, ist so erfolgreich, dass niemand mehr in Urlaub fährt, und nur wenige Jahre später sind Massen von Urlaubsorte wirtschaftlich ruiniert – nur ein einziges Dörfchen hat die grandiose Idee, im Urlaub vor Ort verschiedene Erlebnisse zu ermöglichen. Man kann als Gast von einem ins andere Zimmer umbuchen, geht von der Wüste in die Berge, in die Antarktis und bis nach Patagonien, und es bleibt ein Renner, woanders hinzugehen, ohne sich großartig bewegen zu müssen.
Und die Moral von der Geschicht’? Sind wir ehrlich – ist es in Dänemark wirklich heiß oder ist das nur ein Marketing-Gag?

Simon Borowiak: Hochsommer

Garten platzt aus allen Nähten.
Hummeln strecken ihre runden
Hummelhintern aus den Kelchen.

Wespen wild auf Sommertorte.
Kinder, Kreide, Gehwegplatten.
Kaffee für Erwachsene.

Kohle raucht und Steak und Bratwurst.
Sonne will nicht untergehen;
lungert noch an Gartenpforte.

Alle Blätter stehen still.
Alle Blumen machen dicht.
Widerwillig sinkt die Sonne.

Müde Vögel schläfrig schnarren.
Sehr geschäftig trippeln Igel.
Garten atmet aus und duftet.
Sonne scheint jetzt anderswo.

Simon Borowiak: Wahre Romantik

Verkommener Bahndamm
an vergessner Industrie
Verfärbt ins Unbeschreibliche
Lichtbrei gemischt
Nichts schwarz Nichts gelb
Die Sonne steil

Darunter
alles am Dunkeln
Staub am Glimmen
Dreck am Funkeln
Die Welt
verhauen und verstoßen
Gestockt und eben und getrübt
Zwei Sonnen steil

Darunter grauer Gilb an Schotter
Blauer Efeu Chromgestänge
Der Teer gebrochen und Ginster

Drei Sonnen steil
darunter Ableben
Und wir
mit sandigen Augen
Vier Sonnen steil
Darunter Rost

Harald Kappel: FluorChlorBromJod

die Dissektion der Schlagader
unterbricht den Saftstrom
des Träumenden
in monochromer Tinktur
ertrinkt das Mitgefühl
für den kahlen Schädel
stereotomisch
werden Wünsche ausgeschält
heimlich
die Meinung geglättet
die Kritik entlaubt
jaja
im Schatten droht die Apnoe
dann macht doch
was ihr wollt
die Oberfläche bleibt stumm
schamlos vermehrt sich
im Schädeltransplantat
die alte Vaccine
der Saftstrom
des Träumenden
ertrinkt
in monochromer Tinktur

Harald Kappel: Beanstandung der Szene

in meiner Nähe
lagern
im Bahnhofslicht
in der warmen Kühlbox
ungelieferte Torten
in meiner Nähe
schimmern
unter Neonröhren
in Zeitungspapier eingeschlagen
goldgelbe Makrelen
in der gekippten Stimmung
dünsten deine Nylonstrümpfe
wie geronnene Milch
ich beanstande
die kleine Szene
unbemerkt
bedaure aufrichtig
mit halblauter Rührung
deine Tränensäcke
dann
schiebe ich den Fischen
deine Traurigkeit hinter die Kiemen
esse die warmen Torten
fühle mich obenauf
reibe dein Nylon
zum vagen Funkenschlag
unbemerkt
beanstande ich
mich selbst
und warte
warte
war
w
v
,
.

Bastian Kienitz: HELL YEAH, endlich gibt es Kriegsroboter

Blankosonett

HELL YEAH, der Bildschirm flackert, leises Rauschen
umgibt den Abend still im Kerzenschein
hast du den Song WE FUCKING DIE gehört
jetzt schlagen Funken lauthals in den Raum

zwei Kanal Ton mit der Tendenz zum Töten
SHOT COUNTER SHOT komm, lass es richtig knallen
bis dieses Wirkungsfeld beginnt zu bluten:
wir sind jetzt mitten in der Szenerie

es gibt ein Wort Maschinenparadigma
dass selbst dein Hirn wie ein Computer tickt
wenn wir die Taste Rot am Joystick drücken

dann läuft im Video der ROBOTS DAY
aus Regeln programmierter Schaukulisse:
wenn du kein Herz hast, kannst du Töten gehen…

Simon Borowiak: Flughafen Nizza

Flughafen Nizza.
Sitze ich und warte
in meinen Anziehsachen.

Daneben sitzt und wartet
münchener Familie
in ihren Anziehsachen.

Der Situierten Sohn stakt auf und ab.
Mustert mich, als wär ich Dreck.
Bei jedem auf und ab
mustert er mich Dreck.

Da hat er recht:
Von seinem Büffel-Seiden-Kaschmirmantel
könnte ich zwei Jahre leben.

Dann Aufruf.
Einstieg.
Mein Onkel hat es gut mit mir gemeint:
Erste Klasse, erste Reihe, erster Platz.

Danach steigt ein
der Rest der Welt.

Der Seidenraupenbüffelsohn
muss weitergehen, zweite Klasse.
Und das auch noch an mir vorbei.

Gesichtszug wie ein grad mit Wucht
entgleister ICE.

Kurz gleiche Höhe,
Tuchfühlung,
fast aneinander schabend:
Der Kaschmir und
die Jeans von kik.

Er: Fassungslos und voll von Wut.
Ich: Voll das Herz,
voll von Verachtung,
voll schmutziger Verachtung.

So tief
lassen uns Reiche sinken.

Bastian Kienitz: Bücherwürmer

MAN SAGT, Bücherwürmer seien eine aussterbende Spezies
da es in naher Zukunft keine Bücher mehr gäbe & sich diese
Gattung also ihrem natürlichen Habitat entzogen in kürzester
Zeit laut evolutionärem Grundgedanken nicht neu orientieren
könnte & der Klimawechsel somit schwer beschädigt oder zumindest mit einer starken Aversion gegenüber unnatürlichen
Ausweichreservaten z.B. technologischen Gütern & somit
Gehalt also dem eigentlichen Inhalt nicht mehr folgen können,
Punkt.