Jeden Morgen, wenn ich die Wohnung verlasse entdecke ich unten auf der Ablage bei den Briefkästen neue Figürchen oder andere Haushaltsgegenstände.
Oft sind es kitschige aber nicht besonders hochwertige Porzellanfiguren. Manchmal ein Gewürzglasrondell. Gestern stand ein Kochbuch zur Anleitung für fettreduzierte Ernährung dort.
All diese Gegenstände sind sehr bunt zusammengewürfelt. So war neulich auch mal ein aufwendig bestickter Fächer in einer mit Stoff bezogen Schachtel dort zu finden. Auf dem Fächer zwei Pandabären, die unter einem blühenden Kirschbaum spielen. Die Kiste mit goldenen und roten Stoff besponnen. Auf den ersten Blick, insgesamt ein hübsches Ding, aber trotzdem konnte die Verpackung und Gestaltung dieses Fächers, dennoch nicht die mangelnde Wertigkeit der
Sache verbergen.
Es wirkte bei genaueren hinschauen eher wie ein Gegenstand aus einem günstigen Souvenirladen gar einem AsiaShop aus der Innenstadt, bei dem neben der Tütensuppe und den Gewürzsoßen, das ein oder andere Handwerkszeug verscherbelt wird.
So wie all die Dinge die dort bei uns auf der Ablage landen, stellen keinen kostspieligen, aber im ganzen doch vielleicht, ideellen Wert dar.
Hinunter stellen tut sie unser Nachbar. Da bin ich mir sehr sicher.
Ich habe ihn zwar noch nie direkt dabei erwischt. Aber da wir ansonsten ein sehr junges Haus haben, bin ich mir sicher, dass die Gegenstände aus seiner Wohnung stammen.
Herr Schag wohnt im Stock über uns. Er ist über 80 Jahre alt und ist derjenige, der schon immer hier gewohnt hat.
Unzählige WGs und junge Menschen hat er schon ein und ausziehen erlebt.
Die früher noch regelmäßigen Hoffeste hat er immer wohlwollend vom Balkon aus mit erlebt, konnte sich aber trotz mehrmaligen einladen, nie dazu aufraffen zu uns hinunterzukommen.
Zusammen mit seiner Frau standen sie dann also manchmal für längere Zeit am Balkon und schauten sich an, was da so alles los war in unserem Hof.
Noch nie gab es auch nur eine Beschwerde, wenn eine Feier länger dauerte, oder gar das Aufräumen am nächsten Tag allen beteiligten sehr schwerfiel und es sich bis in die kommende Woche hineinzog, das alles wieder an Ort und Stelle war.
Mit der Zeit und mit den Jahren ließ aber auch die Anteilnahme vom Balkon aus immer stärker nach.
Seiner Frau ging es nicht mehr so gut. Sie wurde dement und ihr gemeinsames Konstrukt fing an zu bröckeln. Wir im Haus hatten schon einiges an Erfahrung mit dementen Bewohnerinnen.
In der Wohnung nebenan wohnte eine italienische Nona, die trotz hochgradiger Demenz noch bis ins hohe Alter in Schlappen auf ihrer Vespa zum Einkaufen gefahren ist. Manchmal hat sie sich verfahren und dann gab es wieder große Sorge und die Kinder haben sie mit uns zusammen gesucht.
Irgendwann wurde den Kindern klar, daß sie ihre Mutter nicht mehr in unserer Verantwortung lassen können. Und sie ist, vermutlich zum sterben nach Italien gebracht worden.
Frau Schag die freundliche Nachbarin, ereilte kein so schönes Schicksal. Ihr Mann versuchte es eine Zeit lang damit, sie einzusperren. Aber nachdem sie auch in der Wohnung dann Dinge nicht mehr so hinterlassen hat, wie er es gewohnt war und man sich nicht mehr darauf verlassen konnte, dass sie das Essen richtig kocht und überhaupt die Dnige tut, wozu man doch so eine Frau hat, hat Herr Schag sie ins Altenheim gebracht. Ich verwende seine Worte.
Ich weiß nicht wie viel Liebe da jemals im Spiel war. Und auffällig fand ich es schon immer, dass wir noch nie eines der 3 Kinder bei uns im Haus angetroffen haben.
Dieses alte Pärchen, deren Leben nach Erzählungen von Frau Schag nur aus Arbeit bestand. Ich kann nicht beurteilen, ob sie glücklich waren oder nicht. Und noch weniger kann ich die Dinge beurteilen, die Herr Schaag nun langsam aus der Wohnung räumt.
Für ihn anscheinend wertlose Dinge, die seiner Frau gehören.
Sie wird nicht wieder zurückkommen und er hat keine Verwendung dafür. Aber direkt in die Mülltonne werfen möchte er sie auch nicht. Dafür hängt vielleicht der Geist seiner Frau zu sehr an diesen Dingen.
So machen sie vielleicht nochmal eine Zwischenstation. In einer der WG’s. Oder so wie bei uns. Der kleine Fächer mit den spielenden Pandabären.
Würde Herr Schaag in anstatt ihn zu verschenken, seiner Frau ins Altenheim mitbringen, würde sie sich vielleicht an die Reise nach China erinnern, die sie vermutlich nie gemacht haben.
Kategorie: Erzählung
Felix Benjamin: Bohemian Rhapsody
Ich fahre mit meiner großen Schwester in ihrem Auto zur Videothek. Das ist aus zwei Gründen aufregend, denn zum einen sehe ich sie nicht mehr so oft, seit sie ausgezogen ist. Bei jedem Besuch hat sie eine andere Haarfarbe, raucht eine andere Zigarettenmarke und stellt meinen Eltern fast jedes Mal einen neuen Freund vor. Sie ist groß und cool und ich will groß und cool sein.
Aufgeregt bin ich aber noch viel mehr, weil die Videothek ein magischer Ort ist, ein Tor zu anderen Welten. Ich habe einen Mitgliedsausweis und deshalb von der Videothek zum Geburtstag einen Gutschein für eine kostenlose Ausleihe bekommen. Dies soll meine Eintrittskarte in den „Tempel des Todes“ sein. Indiana Jones ist für mich der Größte und dieses Abenteuer ist das einzige, das ich noch nicht kenne, denn es ist erst ab 16. Meine Schwester soll mich also begleiten, damit mir der „Tempel des Todes“ ausgeliehen wird. In der Videothek findet sie aber einen völlig anderen Film, den sie begeistert aus dem Regal zieht: „Wayne`s World“. Das sagt mir gar nichts und interessiert mich auch nicht. Sie kann mich trotzdem leicht dazu überreden, mich gegen Indiana Jones zu entscheiden, schließlich will ich groß und cool sein.
Wieder am Steuer ihres Autos sitzend erklärt meine Schwester mir, dass ich „Wayne`s World“ unbedingt gesehen haben muss, allein schon, weil darin „Bohemian Rhapsody“ vorkommt. Sie legt ihr Best-of-Queen-Album in den CD-Player und fängt an, zu diesem Lied abzugehen. Sie singt laut mit und schüttelt ihre langen Haare. Ich fühle mich groß und cool, denn es war ja mein Gutschein, der es meiner Schwester ermöglicht, diesen Film zu sehen, auf den sie sich so freut. Auch ich schüttle meinen Kopf zur Musik und versuche mitzusingen, verstehe vom ?Text aber gar nichts außer „Mama, uuuu-uuuu.“ Das ahme ich nach und fühle mich dabei groß und cool.
Als wir zu Hause aussteigen, sagt meine Schwester, dass ich weggehen soll und in mein Bett scheißen.
Ich halte meine Tränen zurück, bis ich in meinem Zimmer auf dem Teppichboden zusammensinke.
Chris Morenz: Dü-Dö-Dü, kein Abschluss unter dieser Nummer
»No song on the radio could be too stupid for my heart… krschhhh…« – Frank klickt sich noch durch ein paar Sender, aber das hat noch nie was gebracht, ebenso wenig wie Prokrastination. Na dann, Radio aus. Der Motor ist auch schon längst aus, mindestens seit drei, fünf, sechseinhalb schlechten Songs. Im Rückspiegel sieht er die sonntagnachmittägliche Vorortstille auf dem Rücksitz bräsig ihren Schweinskopf heben. Sie schaut ihn spöttisch an und lässt (lautlos) einen fahren.
Es ist das erste Mal, dass er in dieser Stadt, in dieser Straße ist. Wochenlang hat er es vor sich hergeschoben, dann noch tagelang die Strecke immer wieder auf der Landkarte mit dem Finger nachgezeichnet. Das wird nie etwas, war ihm klar. Doch heute Mittag ist er einfach ins Auto gestiegen und ist hingefahren. Wahrscheinlich eine schlechte Idee. Deswegen hat er’s getan. Wäre es eine gute Idee, hätte er sie vermutlich ausgesessen. Aber nicht nur aus Erfahrung, auch vom Bauchgefühl her scheint dieser Ausflug eine schlechte Idee gewesen zu sein. Krampf im Magen, Kampf im Kopf, oder umgekehrt, oder beides. Und was ist eigentlich mit dem Herzen, das den ganzen Zirkus hier überhaupt erst ins Rollen gebracht hat? Es verschwand wenige Tage zuvor mit der Leber in einer Kneipe und ward seither nicht mehr gesehen. Immerhin haben sie ihm dieses schwächliche Ding, das bei den meisten anderen Leuten Rückgrat heißt, dagelassen. Diese Chance sollte er ergreifen. Wo er ohnehin schon hier ist… Hilft ja nix, nix hilft, dauernd hilft nix. Er stemmt sich tapfer aus seinem weißen Toyota, streckt sich den Rücken gerade. Wünschte, es wäre ein schwarzer Knight Industries Two Thousand, a.k.a. KITT, immer einen kessen Spruch auf dem Sprachmodul, wünschte, er selbst wäre… Aber damit fangen wir gar nicht erst an. Wenn wir jetzt Franks Gedankenstrom weiter folgen, stehen wir morgen noch hier in der Pampa. Folgen wir lieber FRANK…
Ach nein, der steht schon wieder still – minutenlang vor diesem unsäglichen Wohnhaus, du liebe Güte, ein NEUBAU, klotzgewordene Menschenfeindlichkeit. Als hätte ein grimmiger Betongott sie höchstselbst vor über 40 Jahren über die westdeutschen Städte gehustet, damit die Babyboomer Platz für ihr System-Leben haben, und immer noch schimpft sich dieser grau-grün-gelbliche Auswurf »Neubauten«. Wie kann man nur so leben? Antje konnte wohl gar nicht schnell und weit genug wegkommen von ihm und ihrem ALTEN Leben in der gemeinsamen ALTbauwohnung (zwar nicht Berlin, aber doch immerhin Hannover). In ihr NEUES Leben, in ihren NEUbau. Das hat’se jetzt davon.
Neubau, Bauernkaff, Kaffeefahrt, Fahrt zur Hölle… Schon wieder Gedankensumpf. Aber dann passiert endlich was, Frank läutet …
Doch nicht. Er glotzt bloß ihr Klingelschild an. Es ist in trotzigen Großbuchstaben geschrieben (kein keckes Kringelchen über dem ‚i‘ in ‚Schmidt‘) und achtlos und schlicht mit Tesafilm über den Namen des Vormieters geklebt. Sonst ist sie so akribisch. Hat dieses Haus nur ihren Sehnerv verkrümmt oder gar schon ihren Willen gebrochen? Frank scannt die Größe des Schilderrahmens. Ich könnte ihr mal ein gescheites… mit dem Drucker, nicht nur so schief und mit Kulli und…, er zerknüllt diesen Gedanken. Herrgott, Frank!, ruft er sich zur Räson. Er streicht mit den Fingerspitzen über das Provisorium als wäre es ihr Schlüsselbein, ihre Armbeuge, eine verirrte Haarsträhne in ihrem schmalen Gesicht,… dann sitzt er auch schon wieder in seinem Auto.
Komm schon, Frank, du bist ein erwachsener Mann – nicht nur weil du ein Auto fährst und daheim, das jetzt kein Daheim mehr ist, all diese Ordner mit Verträgen und Rechnungen im Regal stehen hast.
Naja, na gut, dann also Plan B: Er greift zum Handy, das auf dem Beifahrersitz liegt… ihr Sitz, ihr Hintern, ihre Nummer, die er jetzt eintippt. Es ist so unsinnig, Nummern aus dem Verzeichnis zu löschen, die man ohnehin und für alle Zeiten auswendig kennt. Würden sie ihm den schmerzenden Schädel endlich aufstemmen, man könnte die Ziffern vom Mond aus noch sehen! Er kennt auch die Summe sowie die Quersumme ihrer Nummer, er hat die Zahlen addiert und multipliziert, sie rückwärts gezählt und der Reihe nach sortiert, aufsteigend und absteigend, außerdem hat er mehrere Jingles dazu komponiert, in den vielen Nächten, die er diesen und letzten Monat wach lag, alleine. Aber gewählt, nein, gewählt hat er ihre Nummer tatsächlich nie. Bis jetzt…
TUUT – eine schallende Bud-Spencer-Ohrfeige voll auf’s Ohr!
TUUT – ein grollender Donner lässt die ganze Straße erzittern!!
TUUT – zwei Kontinentalplatten krachen gegeneinander, gigantische Land- und Wassermassen verschieben sich!!!
TUUT – ein Sonnensystem wird von einem schwarzen Loch geschluckt!!!!
Und plötzlich …, (»Hier ist Antje«) … wird irgendwo im Dunkeln ein neuer Stern geboren. »Hallo, wer ist denn da?«
»… Antje…«, presst Frank hervor.
»Nein, ICH bin Antje!«, feixt sie unbeschwert.
»… Antje…«, wiederholt er nur dämlich und räuspert sich zu alledem noch dämlicher.
»Frank? … Oh, hallo du«, ihre Leichtigkeit scheint jetzt ebenso dahin. »Was… was gibt es denn?«
»Hast du etwa meine Nummer gelöscht?«, hört sich Frank sagen. Als habe er sich das nicht denken können. Wie verdumm-dattert er gerade klingen muss. Souverän geht anders, Frank. Und jetzt steckt Stille in der Leitung.
»Bist du grad zu Hause?«, fragte er schließlich weiter.
»Jaa, naja, wieso?«
Statt zu antworten, fingert Frank nervös an seinem Schlüsselbund herum.
»Was tust du?«, fragt Antje, die das Klimpern gehört haben muss.
»Meinst du jetzt im Moment oder so allgemein? Also im Moment spiele ich an meinem Schlüsselbund herum, der am Zündschloss von meinem Auto hängt… Ansonsten eigentlich nicht so viel. Wirklich, wirklich nicht so viel…«
»Wo bist du?«
»Ich park‘ grad bei dir in der Straße. Am Lerchensteg, das stimmt doch, gell?« Und in die neuerliche Stille schiebt er hinterher: »Hüpsch… h-h-hüpsch hast du’s hier…«
Das Echo dieser letzten Unbeholfenheit hallt dumpf in seinem leeren Kopf, seinem leeren Herzen, seinem leeren Auto wider. (Hallo, Echo! – Hallo, Dummkopf!)
Irgendwie entgleitet Frank die Situation zunehmend.
»Wer ist am Telefon?«, fragt da im Hintergrund eine andere Stimme.
Fremde Stimme, fremde männliche Stimme. Bei Antje im Hintergrund… Fremde männliche Stimme bei Antje im Hintergrund?!
»Ich kann dich jetzt nicht reinbitten«, sagte sie wieder etwas gefasster.
Na zum Glück! Frank ist erleichtert. Wer auch immer der fremde Typ ist, der ihr Telefonat gerade stören will, sie schickt ihn wieder weg. Jetzt aber zur Sache…
»Frank…?«
»Hm?«
»Tut mir leid, okay?«
Moment mal! Offenbar war das gerade eben nicht an den Eindringling gerichtet sondern an IHN, Krank, oder… wie heißt er nochmal? Irgendwas, was sich auf ‚krank‘ reimt, jedenfalls… ‚Reservebank‘, ‚als er ertrank‘, ‚Verwesungsgestank‘. Zum Teufel, wieso kann sie ihn nicht einfach in ihr Wohnzimmer bitten und mit ihm eine vernünftige Unterhaltung führen; so vernünftig, wie es eben geht zwischen zwei Erwachsenen, die sich des öfteren nackt gesehen haben. Wer ist dieser Typ, der sich bei Antje rumtreibt. Wohnt er auch in diesem architektonischen Hassverbrechen? Sähe ihm ja ähnlich. Oder wohnt er gar bei IHR? Nein, am Klingelschild stand nur IHR Name. Aber was, wenn er denselben lahmen Nachnamen hat wie sie, schließlich ist Schmidt ein Allerweltsname. Möglicherweise steht er jetzt mit nassen Haaren und Duschhandtuch neben ihr. Oder mit so einer albernen Unterhose mit Eingriff. Was fällt ihm ein, neben Antje in Unterhose zu stehen und sich in ihre Privatangelegenheiten einzumischen.
»FRANK!«, wiederholt Antje.
Jetzt auflegen, einfach auflegen und wenigstens mit einem Krümel Restwürde aus der Sache rauskommen, und diesen Krümel mit nach Hause nehmen wie einen Cent, den man auf der Straße gefunden und eingesteckt hat. Also völlig nutzlos irgendwie. Mit dieser Münze kann man schließlich kein neues Leben starten, man kann sie ja nicht mal richtig nach einer Taube werfen, und für sowas hat man sich nun wie ein Idiot gebückt. Nun leg‘ doch endlich auf, Frank, oder noch besser, WACH auf, etwas muss doch jetzt passieren. Er atmet weiter stumpf in den Hörer, damit sie auch ja weiß, dass er, obzwar für vieles zu dumm, immerhin atmen kann. Ja, beim Atmen, da macht ihm niemand was vor! Naja, wäre da nicht dieser Kloß im Hals. Gar nicht so einfach, an dem vorbeizuatmen, bemerkt er. Lohnt es sich überhaupt noch, das mit dem Atmen? Ach, Antje wird’s schon irgendwie richten…
Oder?
»Is‘ halt grad echt schlecht, Frank«, hört er sie murmeln. »Pass auf dich auf, ja? … Bye-e.«
Und Stille.
Frank sitzt reglos in seinem Auto, das noch immer auf der gegenüberliegenden Straßenseite von Antjes neuem Leben parkt. Er wartet auf den Regenguss, den das Radio ihm schon die ganze Hinfahrt über versprochen hat. Wäre ja auch wirklich nicht zu viel verlangt, in Deutschland, im November, in Niedersachsen. Doch die Wolkendecke, die ihm beharrlich den reinigenden Regen vorenthielt, ist inzwischen endgültig aufgerissen. So muss Frank ganz alleine und ohne himmlischen Beistand weinen.
Schließlich reitet unser Held wie in einem alten Western allein in den Sonnenuntergang. Bloß dass das kein Western ist, und er kein Held, und statt zu reiten, fährt er… »Dreckskarre!« … heim. Allein das Alleinsein stimmt an diesem Bild; das Radio zählt dabei nun wirklich nicht als Gesellschaft, im Gegenteil. Zähneknirschend dreht Frank trotzdem am Sendersuchrad, in Antizipation der Tage und Wochen des Am-Rad-Drehens, die nun wieder vor ihm liegen.
Eurodance – Sendersuchlauf.
Radiojingle – Sendersuchlauf.
Statik – Sendersuchlauf.
Werbung – Sendersuchlauf.
Udo Lindenberg, der nölt: »Hinterm Horizont geht’s weiter…«
Bitte nicht, denkt Frank, wie er da dem Horizont entgegenfährt.
Christian Knieps: Zerfall
Man hatte ihn gewarnt, natürlich hatte man das, auf eine beinahe beiläufige Art, wie man einen Hund vom Abgrund zurückruft, nicht aus Fürsorge, sondern weil man das Geräusch des Aufpralls nicht ertragen will – und trotzdem war Terzfeld an jenem Dienstagmorgen, noch bevor die Sonne ihre erste Schicht aus bleierner Feuchtigkeit über die Dächer des Hafenviertels gelegt hatte, wieder durch die Hintertür der alten Papierfabrik geschlüpft, die inzwischen eher an eine Kathedrale des Schmerzes erinnerte als an irgendeinen Ort, an dem je gearbeitet, geschwitzt oder geschrien wurde, und stand nun mit zitternden Lidern vor einem Körper, der, so wie er dalag, mehr Aussagekraft besaß als sämtliche Protokolle des Dezernats für Kapitaldelikte der letzten drei Jahre zusammen.
Die Leiche war weiblich, ungefähr Mitte dreißig, trug weder Ausweis noch Unterwäsche, aber dafür einen perfekt sitzenden Lippenstift in einem Ton, den man früher als „Blutkirsche“ bezeichnet hätte – ein Detail, das Terzfeld nicht aus stilistischen Gründen notierte, sondern weil er wusste, dass sich Mörder selten um Lippenfarbe kümmern, es sei denn, sie wollten, dass jemand ganz bestimmtes die Leiche fand, oder sie inszenierten den Tod wie ein makabres Stillleben, das etwas erzählen sollte, was mit Worten nie gesagt werden konnte.
Dass die Frau keine Zähne mehr im Mund hatte, war kein Unfall – die Wurzeln waren sauber ausgehebelt worden, als hätte jemand mit chirurgischer Präzision einen Beweis zerstören wollen, während die Fingerkuppen – ebenso sorgfältig – mit feinem Schleifpapier behandelt worden waren; doch was Terzfeld mehr beschäftigte als all das, war der Blick, den die Tote ihm zuwerfen würde, wenn sie noch sehen könnte – diesen nicht mehr existierenden, aber doch spürbaren Blick, der ihm sagte, dass sie wusste, dass er zu spät kam, weil er immer zu spät kam, nicht aus Faulheit oder Mangel an Talent, sondern weil er tief in sich selbst etwas kultivierte, das jeden Fall, jede Suche, jede Aufklärung sabotierte: eine Schwäche für das Dunkle, für das Halbgesagte und für das Schweigen der Toten, das mehr verrät als das Geschwätz der Lebenden.
Die Spurensicherung tat, was sie immer tat – sie verpackte die Welt in Plastiktüten und analysierte sie auf Spuren, deren Bedeutung sich meist nur dann zeigte, wenn sie längst irrelevant geworden waren – und so verließ Terzfeld den Tatort, ohne sich von jemandem zu verabschieden, stieg in seinen Wagen, der nach altem Kaffee, kaltem Schweiß und vergessener Hoffnung roch, und fuhr in jene Gegend, die man in der Stadt nur „die grauen Kilometer“ nannte, weil es dort keine Häuser mehr gab, sondern nur noch Betonflächen, auf denen früher einmal Fabriken standen, und zwischen diesen Flächen bewegten sich Menschen, die aussahen, als wären sie von einem Roman übrig geblieben, den niemand zu Ende gelesen hatte.
Dort, in einem Container mit drei Schlössern, fand er „Fräulein Nola“, die keine Fräulein war, sondern eine Informantin, die ihm seit Jahren Hinweise gab, die so vage und gefährlich zugleich waren, dass jeder andere sie längst für nutzlos erklärt hätte, doch Terzfeld wusste, dass Information nicht aus Klarheit bestand, sondern aus Mutmaßung, Andeutung und vor allem: aus dem Klang, den Worte erzeugen, wenn sie in einem Raum voller Schuld ausgesprochen werden.
„Sie wollte raus“, sagte Nola, ohne dass Terzfeld eine Frage gestellt hatte, und es war diese Art von Antwort, die ihn glauben ließ, dass alles, was man brauchte, um einen Mord aufzuklären, bereits in den ersten fünf Minuten gesagt wurde, nur dass niemand wusste, welcher Satz der entscheidende war – man musste ihn aufspüren wie ein verlorenes Organ im Bauch eines Unbekannten, den man niemals sezieren durfte.
Sie erzählte ihm von einem Mann, den sie nur „den Vater“ nannte – ein Schleuser, ein Mörder, ein Menschenhändler, niemand wusste genau, wer er war, aber alle wussten, dass man nicht über ihn sprach, und wenn doch, dann nur in Halbsätzen und mit Blick auf den Boden – und Terzfeld verstand sofort, dass die Tote in der Papierfabrik keine anonyme Prostituierte war, sondern eine Frau, die zu viel gewusst hatte, vielleicht auch geglaubt hatte, dass Wissen Schutz bedeuten würde, obwohl es in dieser Stadt nur eine Wahrheit gab: Je mehr du weißt, desto eher stirbst du.
Die nächsten Tage waren ein Vexierspiel aus Akten, Gesprächen und Lügen, denen man ansah, dass sie gelogen waren, aber die trotzdem notiert werden mussten, und Bildern, die in seinem Kopf aufstiegen wie Gas aus einem alten Sumpf – Gesichter, Stimmen, Gerüche – und immer wieder tauchte dabei dieser Name auf, „Vater“, nicht als Titel, sondern als Drohung, als Fluch, als Konstrukt, das alle fürchteten und keiner je gesehen hatte, bis Terzfeld irgendwann begriff, dass der Mann, den er suchte, nicht gefunden werden wollte, sondern nur gespürt – als Schatten, als Druck und als Präsenz hinter den falschen Zeugen, den korrupten Kollegen und den stummen Beweisen.
Es war eine dieser Nächte, in denen man nicht mehr weiß, ob der Regen von außen gegen die Fensterscheibe schlug oder von innen gegen die Stirn hämmerte, als Terzfeld in einem Keller am Stadtrand stand, die Pistole gezückt, die Taschenlampe in der anderen Hand, der Magen seit Stunden leer, aber das Herz voll mit einem dumpfen Wissen, das sich nicht in Worte fassen ließ – und dann sah er ihn: einen Mann mittleren Alters, glatt rasiert, mit der Stimme eines Seelsorgers und der Kälte eines Chirurgen, der sofort wusste, wer Terzfeld war, und der nicht flüchtete, nicht schrie, sondern nur sagte: „Wenn Sie mich verhaften, machen Sie die Welt nicht besser – Sie machen nur das Dunkel sichtbar.“
Terzfeld schoss nicht. Er verhaftete ihn auch nicht. Er stand nur da, während hinter ihm jemand die Tür zuzog – und wusste, dass es vorbei war, bevor es wirklich begonnen hatte.
Denn das ist das Wesen der Ermittler in einer Welt, in der das Verbrechen nicht mehr im Moment des Mordens beginnt, sondern im Schweigen davor – sie sehen, sie wissen und sie sammeln, aber sie retten niemanden; sie sind Archivare der Verdammnis.
Anna Housa: Das Erste Mal
FD: Jetzt
Sie fand sich in einer Art Bibliothek wieder, nur dass in den Regalen keine Bücher standen, sondern
Glaskugeln lagen, ordentlich nach Datum und Uhrzeit sortiert, in denen – ähnlich wie in einer Schneekugel – Farben und Bilder wirbelten. Bei genauerem Hinsehen fielen ihr die Beschriftungen auf: Schaukel, Nordseeurlaub, 24.07.1993; Geburtstagskuchen, 01.10.1995; verschüttetes Wasserglas, Grundschule, 16.04.1997. Je weiter sie an den Regalen vorbeiging, desto weiter schritten die Daten voran. Sie ging an „Chemieunterricht, 8. Klasse, 09.05.2003“ vorbei, überging Schulwechsel, Abitur und Studienbeginn, arbeitete sich durch Auslandsaufenthalte, dramatische Trennungen, das erste Mal MDMA. In manchen Kugeln waren klarere Bilder enthalten, andere sehr verschwommen, wieder andere schienen sich im Moment des Daraufschauens zu verändern. Oder waren sie in einem ständigen Prozess der Veränderung?
In der Ferne konnte sie sehen, wie sich das Regal auflöste, klare Ordnung ging in eine Wolke über. Als sie ihr näher kam, wurde ihr klar, dass auch die Wolke aus tausenden kleineren und größeren Glaskugeln bestanden, alle gefüllt mit einer Art farbigem Rauch. Manchmal schien sich hier und da ein Bild zu manifestieren, bevor es sich plötzlich wieder auflöste. Alle paar Sekunden verfestigte sich in einer Kugel ein Bild und sie reihte sich in das letzte Regalfach ein. Sie las die Beschriftung der letzten Kugel, die gerade in das Regal gerollt war: Traum, Gedächtnisregal, letzte Kugel 20.05.2025, 15.34 Uhr. Dem folgte die nächste Kugel, darin zu sehen das Schildchen, das sie eben gelesen hatte: Traum, Gedächtnisregal, letzte Kugel, 20.05.2025, 15.34 Uhr. Darunter die Beschriftung: Traum, Regal, Beschriftung der letzten Kugel, 20.05.2025, 15.34 Uhr.
Neben ihr war in den letzten Augenblicken eine Figur erschienen, die sie nun mit strengen Augen ansah. „Vergangenheit und Zukunft. Deine Aufgabe ist es, den gegenwärtigen Augenblick einzufangen“, sagte die Figur und reichte ihr einen Köcher, mit dem man vielleicht Insekten oder Schmetterlinge fangen könnte. Sobald sie den Köcher in der Hand hatte, war die Figur wieder in die Ferne gerückt. Aber die Aufgabe schien ihr außerordentlich dringlich und mit der Nichterfüllung eine gehörige Strafe einherzugehen. So machte sie sich sofort daran, mit dem Köcher aus der Glaskugel-Wolke Glaskugeln zu fangen. Hatte sie jedoch erfolgreich eine Kugel mit dem Köcher erwischt, schien sich diese sofort in Luft aufzulösen, um dann augenblicklich mit Schildchen und Beschriftung versehen im Regal wieder aufzutauchen. Egal wie schnell sie versuchte, eine Kugel einzufangen und festzuhalten, sofort war sie wieder verschwunden.
„Glaskugel-Traum, Versuch Nr. 12, 20.05.2025, 15.35 Uhr“, las sie auf dem letzten Schildchen und schlug umso energischer mit dem Köcher auf die Kugeln ein.
„Das ist doch ganz unmöglich!“, schrie sie zu der Figur im Hintergrund.
Da wachte sie auf, etwas verschwitzt, aus dem Mittagsschlaf auf dem Sofa. Wo war sie? Welcher Tag war es? Ihre Uhr zeigte 15.36 Uhr.
Babara Tatschl: Gipfel der Liebe
Jörg Hilse: Der Engel von Köln
Jost Lembergs Frau liebte es ab und zu nach Köln zu fahren, dort über die Hohe Straße zu bummeln und auf dem alten Friedhof Melaten spazieren zu gehen.
Sie mochte die Art der Menschen im Rheinland, ihre Lebensweisheiten wie „ Et kütt wie et kütt“ oder „ Et hät noch emmer jot jejange.“ Jost Lemberg kam ein- zweimal mit, doch für ihn blieb Köln eine Stadt wie viele andere die im II Weltkrieg verwüstet wurden. Außer dem Dom gab es kaum interessante Bauten. Auch war er den Stadtoberen ein wenig gram, weil Sie einen gesichtlosen Platz zwischen Dom und Hauptbahnhof nach ihrem größten Sohn, dem Schriftsteller Heinrich Böll benannt hatten, statt eine Tafel an seinem Geburtshaus anzubringen, so wie es die Bayern bei Oskar Maria Graf gemacht hatten. Doch als seine Frau eines Tages in einem Bildband mit dem Titel „ Kirchen in Köln“ blätterte stutzte er. „ Die schwebende Engelsfigur auf dem Einband, wie kommt die den nach Köln?“ fragte Jost. „ Sie hängt in der Antoniterkirche in der Schildergasse die ziemlich innerstädtisch liegt.“ antwortete sie.
„ Die Figur ist von Ernst Barlach, der kam aus Norddeutschland, deshalb wundert es mich.“
„ Hier steht“ sagte sie „ das die Originalfigur von den Nazis als entartete Kunst eingestuft und eingeschmolzen wurde. Ein anderer Künstler hat nach Barlachs Tod die Teile der Gussform gerettet und es konnte ein Zweitguss angefertigt werden.“
„ Falls Du demnächst wieder mal nach Köln fährst komme ich mit.“ sagte Jost, „ den Schwebenden, wie die Figur eigentlich heißt, muss ich sehen.“
Zwei Wochen später saßen beide im ICE nach Köln Hauptbahnhof. „ Ich hole mir im Bordbistro einen Milchkaffee, willst Du auch was?“ fragte Jost seine Frau. „ Danke, nein“ sagte sie und er ging. Am Bistrotresen stand vor ihm eine junge Frau in Bundeswehr- Uniform. Jost stellte sich hinter ihr an. Wie jung sie ist, dachte er, fast noch ein Teenager. Ihm kam der Gedanke, wie es sich für sie wohl anfühlen mochte, an einem nasskalten Wintertag mit klammen Fingern ein Sturmgewehr im Anschlag zu halten um dann von irgendeinem Offizier angebrüllt zu werden, „ Wer hat Sie den dahin jelecht“, nur weil ihr selbst geschaufeltes Schützenloch dem hohen Herrn nicht tief genug vorkam.
Solche und ähnliche Töne waren in seiner Militärzeit selbst unter Gleichrangigen üblich gewesen, damals, in jener deutschen Armee namens NVA, die der Wind der Geschichte längst fortgeweht hatte. An Formen einer beim Militär so viel beschworenen Kameradschaft, konnte er sich nicht erinnern. Einen guten Freund hatte er dort gehabt. Ole Winter, hinter dem Uniformmantel im Spind lehnte seine Gitarre und auf der Ablage für die Uniformmützen stand eingerahmt , ein Bild seiner Verlobten, Anne. Jost und Ole dienten in verschiedenen Kompanien. Kennen gelernt hatten Sie sich, weil beiden befohlen worden war je eine Gruppe neu eingezogener Soldaten durch die Grundausbildung zu führen. Ihre Freundschaft entstand durch einen Zufall.
„ Kannst Du meine Gruppe nachher mit zum Abendessen führen, ich will in den Ausgang.“ fragte Ole einmal ganz leise als sie vor dem Häuserblock mit den
Soldaten- Unterkünften standen. „ Klar“ sagte Jost und merkte irgendwie das Ole etwas vorhatte das nicht in den Dienstvorschriften stand. „ Ausgang“ haben hieß, dass man von 16 Uhr bis nächsten zum Morgen in die Stadt gehen durfte in der auch die Kaserne lag. Das allerdings nur in Uniform und Urlaub für ein Wochenende bekam man lediglich einmal alle 8 Wochen. Logisch, das Ole jeden Ausgang nutzte um sich irgendwie mit Anne zu treffen. Kein Wunder, dachte Jost wenn er sah wie viele Beziehungen hier durch die rigiden Dienstvorschriften in die Brüche gingen und ihm fiel mit der Zeit auf das die Beziehung der Beiden etwas ganz Besonderes war. Jost hätte selbst gern eine Freundin gehabt, also war es für ihn Ehrensache dass er half. Einige Zeit später hörte Jost von Ole selbst in welches Abenteuer er sich stürzte um Anne auch außerhalb des Urlaubs zu sehen. In Leipzig hatte sie angefangen Medizin zu studieren. Jedes Mal wenn Ole Ausgang hatte schmuggelte er zivile Bekleidung, die zu tragen nur während eines Urlaubs erlaubt war, aus der Kaserne. In der Toilette des Erfurter Hauptbahnhofs zog er sich um, nahm den Zug nach Leipzig zu Anne und kehrte morgens vor Dienstbeginn wieder zurück. Jost an seiner Stelle hätte zu viel Angst gehabt bestraft zu werden, denn hin und wieder kontrollierte eine Streife der Militärpolizei die Züge um genau jene zu kriegen die es auf ähnliche Weise versuchten wie Ole. Wer erwischt wurde saß hinterher für mindestens eine Woche im Militärarrest. Doch Ole schreckte das alles nicht. Annes Zuneigung und ihr einzigartiges Wesen gaben ihm so viel Mut das er die Gefahr entdeckt und bestraft zu werden jedesmal aufs Neue in Kauf nahm.
Und wenn einer behauptet dass das Glück stets auf der Seite der Liebenden ist , so traf das auf die Beiden zu, denn sie erwischen Ole kein einziges Mal.
Lange stand Jost in der Antoniterkirche und betrachtete die Figur des Schwebenden.
Er erinnerte sich noch wie Ole ihm einmal erzählt hatte, das er und Anne bei einem Pastor Taufunterricht nahmen, um sich möglichst rasch nach seiner Entlassung kirchlich trauen zu lassen.
Vielleicht hat ja einer wie Du da oben seine Hand über die Beiden gehalten, dachte Jost. Denn was wäre die Zukunft wert ohne jemanden den man liebt.
Matt S. Bakausky: Das Finale
Nach einer zwanzigstündigen Reise checke ich in meiner AirBNB Villa in Kathmandu ein. Popcorn für die Microwelle, sowie Sateliteninternet habe ich mitgebracht. Noch 23 Stunden bis zum Finale. Von hier aus werde ich es beobachten. Ich setze Bitcoin im Wert von 24 Millionen US-Dollar auf das rote Team. Mit Sonnenbrille und Hoodie sitze ich bei einem eisgekühlten Cocktail vor dem Gerät. Noch kurz die News checken. Alles läuft nach Plan. Team Blau fühlt sich siegessicher, hat es doch schon in den Vorrunden gut abgeschnitten. Doch Team Rot konnte in der Zwischenzeit zugewinnen und zählt jetzt 24 Millionen elektronische Staubsauger der Marke Roomba zu seinem Arsenal. Es ist also bald soweit. Das große Finale, die Schlacht um alles wird in wenigen Stunden beginnen. Ich rauche einen Joint auf dem Balkon, um runter zu kommen. Hier in Kathmandu fühle ich mich sicher. Fernab von den Hightechstädten der westlichen Welt. Die Spiele beginnen schon kurz vor dem Finale mit den kleineren Teams. Es gibt weltweit Nachrichtten von Ausfällen in Kommunikationsnetzwerken. Das Playsation-Netzwerk ist down, wahrscheinlich eine mittlere DDOS-Attacke. Genauso das Netzwerk von Microsoft XBOX-Live. Hier aus Kathmandu betrachte ich wie die Welt sich schlafen legt. Größere Städte wie Sans Franscico, New York, Bejing und Tokyo haben kein Internet mehr. Das Sateliteninternet ist noch stabil. Genüśslich greife ich in die Tüte mit dem gesüßten Popcorn. Auch das Sateliteninternet wird ausfallen, da bin ich mir sicher. Dann wird es auch bei mir ruhig werden. Ich habe mir ein paar Bücher über Spieltheorie mitgenommen, damit mir nicht langweilig wird. Die Schäden werden erst in den nächsten Tagen ganz behoben sein. Manch ein kleiner Inselsstaat wird es nicht überleben. Aktuell geht eine Liste mit Zielen im Darknet herum – es soll ja fair zu gehen, Zielen für Team Rot und Team Blau. Die russische Telekom zum Beispiel gehört Team Blau. AT&T und weitere amerikanische Netze übernehmen die Staubsaugerroboter von Team Rot. Es ist ein Spaß. Wochelang habe ich mich auf dieses EVent gefreut. Jetzt sind die finalen Chaos Tage gekommen. Es ist ganz einfach: Gekapterte Computersysteme spielen gegegeneinander wer die meiste Infrastruktur aus dem Weg räumen kann. Dahinter stecken Hacker aus aller Welt und Ziel ist es Freude am Gerät zu haben. Aktienkurse werden fallen, Menschen werden sterben, Chaos verbreitet. Und ich bin mittendrin. Ich bin kein Computergenie, nur jemand mit genug Know How um eventuell an dem ganzen zu profitieren. DEnn wenn das alles vorbei ist, werden die Wettbüros die Gewinne austeilen. Das heißt, falls sich deren Infrastrukur überhaupt erholt. Ein kleines bisschen Risiko ist schon auch dabei. Gegen zwei UHr früh fällt das Sateliteninternet aus. Jetzt beginnt mein Alternativprogramm. Popcorn habe ich genug gegessen, betrunken bin ich auch schon. Ich lege mich in den Jacuzzi und höre Musik. Meinen persönlichen Soundtrack zum Weltuntergang. In ein paar Tagen werde ich erfahren, dass Team Red gewonnen hat und mein Einsatz sich ausgezahlt hat. Doch jetzt döse ich im warmen Wasser der Unwissenheit. Verhaftungen werden folgen, die Börse wird sich innerhalb weniger Wochen erholen und das ganze wird in Vergessenheit geraten. Doch ich war ganz vorne dabei beim Finale und die ganze Welt schaute zu.
Jörg Hilse: Showdown in den Vogesen
Am Vormittag des 10.Mai 2005, gerade als sich André Wissembourg im staatlichen Automuseum von Mulhouse daran macht die Sitzpolsterung eines 1931er Bugatti aus der Schlumpf-Sammlung mit Lederfett einzureiben, steigt Jacques Lanthier, pensionierter Angestellter der Bank Credit Agricole in den Regionalzug nach Kruth um seine Schwester Severine in Saint Amarin zu besuchen. Fünf Minuten vor der Abfahrt betritt ein Fahrgast den Waggon dessen sportliches Outfit eine gewisse Aufmerksamkeit erregt. Denn obwohl der Mann mit seiner Begleitung sich in einer Sprache unterhält, die Monsieur Lanthier auf Deutsch schließen lässt, trägt er dennoch Trikot und Hose eines französischen Radrennstalls der allgemein nicht ganz unbekannt ist. Und als der Fremde in dem kleinen Nest Willer sur Thur sein blitzblank geputztes italienisches Rennrad auf den Bahnsteig schiebt, ahnt keiner der im Zug Verbliebenen, das ein Film mit der Schauspielerin Audrey Tautou Schuld daran ist, dass er ausgerechnet hier aussteigt.
Es war ein Freitag im Herbst des Jahres zuvor als Tobias Angermann in der Frankfurter S-Bahn saß und nach Hause fuhr. Der Tag war recht ruhig verlaufen, im Geschäft hatte es weder Ärger noch unangenehme Kunden gegeben, man ließ ihn sogar früher Feierabend machen um Überstunden abzubauen. So beschloss er vorerst nicht auszusteigen sondern in der Stadt ein bisschen durch die Fußgängerzone zu laufen um irgendwie zu entspannen. Tobias kam vom Bahnsteig die Treppe hinauf und blieb vor dem Kino an der Ecke stehen. Schon lange hatte er sich keinen Film mehr angesehen. Die ganzen Actionstreifen waren ihm meist zu blöd. Gerade lief in einem der kleinen Säle ein Film von dem Tobias Angermann bei ARTE einmal einen Ausschnitt gesehen hatte. Genau genommen ist es die Filmmusik, diese eigenartig beschwingte Melodie eines Akkordeons die ihn dazu bringt das er sich an der Kasse anstellt um sich eine Eintrittskarte und eine Cola zu kaufen ohne die Folgen zu ahnen. Ungefähr bei Filmminute 18 geschieht es. Tobias sieht wie kugelförmige Verschluss eines Flakons zu Boden fällt und gegen eine Fliese am Boden rollt, die von der Wand platzt. Als die Heldin Amelie Poulain in dem kleinen Hohlraum dahinter ein Kästchen findet dessen Inhalt nur ein kleiner Junge als Schatz betrachten kann, ist Tobias Angermann wie verzaubert. Die Kamera schwenkt auf die Spielfigur eines Radrennfahrers in dem Kästchen und plötzlich fühlt sich Tobias so als ob sein tiefstes Inneres Zwiesprache mit ihm hält.
Der Radrennfahrer in dem Kästchen, das bist Du sagt eine innere Stimme zu ihm. Zaghaft wie Du bist hast Du Deinen größten Traum vor allen verborgen, sogar vor Dir selbst. Auf was wartest Du noch, erfüll ihn Dir endlich. Als Tobias Angermann aus dem Kino kommt steht fest, er wird im nächsten Sommer nach Frankreich fahren, seinen Berg ins Visier nehmen und ihn auf seinem eigenen Rennrad bezwingen. Welcher, ist erst einmal egal, solange über den Gipfel auch gelegentlich die Tour de France rollt.
Nicole Angermann, Tobias Ehefrau hätte eigentlich nichts gegen einen Urlaub in Frankreich einzuwenden. Aber den in einer Bettenburg im Wintersportdomizil Alpe d‘Huez verbringen, wo im Sommer nichts los ist, nur weil der Göttergatte ein bisschen spinnt? No, No, No Monsieur. Sie möchte ins Elsass, durch die alten Gassen von Colmar laufen, das Maison Pfister bestaunen und im Musée Unterlinden Matthias Grünewalds Isenheimer Altar sehen.
Ich werde sie niemals überzeugen können in die Alpen oder Pyrenäen zu fahren, denkt Tobias traurig. Dabei brauch ich sie, ich kann ja kein Wort Französisch. Immer noch in gedrückter Stimmung liest er ein paar Tage später vom traurigen Ereignis, wie der Franzose Laurent Fignon auf der letzten Etappe beim Zeitfahren 1989 die gesamte Tour wegen lumpiger 8 Sekunden verliert. Wenige Zeilen später ist vermerkt, dass einer der letzten Siege des tragischen Helden aus Paris eine Touretappe auf den 1400 Meter hohen Grand Ballon war. Neugierig geworden schaut Tobi auf einer Karte nach. Der Grand Ballon liegt nur rund 20 Kilometer entfernt von Mulhouse. Und Mulhouse ist die nächste Stadt gleich hinter Colmar.
Tobi hat seinen Berg gefunden.
Inzwischen scheint die Mittagssonne hoch über den Tälern der Vogesen. André Wissembourg verabschiedet sich von seinen Bugattis und Jacques Lanthier sitzt immer noch bei seiner Schwester im Garten und isst eine Tarte die sie ihm gemacht hat. Eine ganze Anzahl von Kilometern entfernt kämpft sich Tobias Angermann über die letzten Meter zum Berggipfel hinauf. Tortur de France müsste es heißen denkt er, alles tut ihm weh, sogar die Bügel der Sonnenbrille scheinen sich in seinen Kopf zu bohren. Und trotzdem ist es das Größte was er je getan hat. Endlich oben angekommen ertönt kein Applaus. Niemand scheint Zeuge seines Triumphes zu sein, nur ein einsamer Wanderer kommt des Wegs. „ Monsieur“ ruft Tobias außer Atem und holt eine kleine Kamera aus der Trikottasche, „ un Photo si‘l vous plait“.
Mehr französisch kann er nicht. Der Wandersmann nimmt sie, und murmelt, den Auslöser suchend ein paar englisch klingende Laute. „ Jetzt weiß ich“ sagt Tobias in fast perfektem Englisch „ was so ein Radprofi durch macht.“ „ You came from down“ ruft der Wanderer erstaunt aus und blickt ihn völlig entgeistert an. „ Directly from the bottom“ sagt Tobias stolz und lächelt. Es fühlt sich an als hätte er gerade selbst die Tour de France gewonnen.