Michael Schmidt: Wuiser und das Wandern

– Wo wird denn der Professor Wuiser sein?

– Warum?

– Weil er nicht da ist.

– Mei, wird er halt wahrscheinlich wo hingegangen sein.

– Ja, bestimmt. Bestimmt ist er irgendwo hingegangen. Weil daheim ist er nicht. Aber wundern tut mich das auch nicht, zumindest nicht direkt, dass er wahrscheinlich wo hingegangen ist. Der Herr Wuiser ist ja so gut wie andauernd unterwegs. Gut, wär ich auch an seiner Stelle. Ich meine, wenn ich in seiner Zwölfquadratmeterwohnung da droben hausen müsst. Da würd ich auch andauernd woanders hingehen. Aber der Professor Wuiser ist ja gerade auch darum andauernd unterwegs, weil er das im Blut hat. Der stammt ja aus einer Familie von Wanderern. Was sag ich, aus einer ganzen Dynastie! Aus einer uralten! Weil was viele gar nicht wissen, ist, dass ein Urururahne vom Professor Wuiser sogar die Völkerwanderung ausgelöst hat.

– Was Sie nicht sagen!

– Ja, wenn ich’s Ihnen doch sage! Die Völkerwanderung! Die war eigentlich als Tagesausflug geplant. Ist dann aber irgendwie eskaliert. So was ist ja in der heutigen Zeit gar nicht mehr vorstellbar. Heute schnaufen sie schon, wenn sie nicht Schlag Mittag auf einer Berghütte sind. Zum Einkehren. Die immer mit ihrem Einkehren! Und wenn sie Pech haben, setzen sie ihnen ein paar ranzige Pommfritz vor oder einen alten Leberkäs oder einen Fingerhut voll Kaffee und ganz am Ende dann eine Rechnung von 80 Euro. Aber wer hätt sich das während der Völkerwanderung schon leisten können. Die haben ja selber nichts gehabt! Was haben die denn früher generell gehabt! Nichts! Und darum, hat der Professor Wuiser gesagt, geht er grundsätzlich nie auf eine Berghütte rauf. Ja, nicht mal auf einen Berg! Sondern immer ganz weit außen rum. Oder wenn es einen Nebel gibt. Wie letztes Mal. Wie der Herr Wuiser den gesehen hat, ist er auch ganz einfach um den herum gegangen. Weil es angeblich die Berge und die Nebel gewesen sind, sagt er, die seinen Urahn mit der ganzen Völkerwanderungs-Combo so in die Irre geführt haben. Aber am Ende, ganz am Ende, sind sie halt doch bei Rom drunten ausgekommen. Zum Glück! Weil sonst wär am Ende – und da mein ich jetzt tatsächlich ganz, ganz am Ende – sonst wär da noch irgendwas passiert, bei dieser Völkerwanderung da. Sonst hätte das noch was werden können, gell.

Harald Kappel: Wandertag

Al Vizz hockt mit ausdruckslosem Gesicht am Rande der Objekte, als Pinker Uhu später zurückkommt. Das Halbblut atmet noch schwer: „Ich schaffe es nicht mehr, ich schlüpfte aus dem Schatten der Gravitationen, aber konnte ihr nicht mehr den Weg abschneiden…wer hätte schon gedacht, dass sie uns folgen würde, um unsere Pferde zu stehlen?“
Dann versucht er sich im Denken. Süße Schreie dringen in sein Gedächtnis, dort heizen sie sich auf bis zur Rotverschiebung. Nichts von alledem ist Freiheit.
Scheisse! Verdammte Scheisse!
Al Vizz verzieht keine Miene: „Das wird sie noch bedauern. Doch nun müssen wir zu Fuß zurück in die Stadt. Ich lasse dich allein laufen. Wann kannst du mit einem Pferd für mich zurück sein?“ Aber Pinker Uhu schüttelt den Kopf.
„Nein, King“, sagt er. „Er ist angeschossen. Liegt im Graben und betet zum Vater. Voller Gerüche! Der wird damit rechnen, dass wir uns neue Pferde besorgen, und uns ausruhen, denn er kann nicht mehr lange im Sattel bleiben. Sie wird ihn bewachen. Immun gegen Irrtum bleiben. So wird das sein. Ich hole ihn mir. Das Nichts von Alledem ist Plan. Ich kann länger zu Fuß laufen, als er im Sattel bleiben kann. Für ihn ist es ein Driften im Whiteout. Sie können hier warten, King. Ich hole ihn mir. Dann komme ich mit vier Pferden zurück. Mit vier Pferden, King. Bleiben Sie immun, King. Bleiben sie jetzt immun!“
Al Vizz starrt ihn an.
Er ist wütend auf Pinker Uhu, denn er gibt ihm die Schuld, dass sie ihre Pferde verloren haben. Doch nun kann Pinker Uhu alles wieder gutmachen.
Zwar hätte Al Vizz Jesus Bohne gern selbst getötet. Keine Gnade im Schwerefeld! Als passende Antwort wäre außerdem hilfreich, ihm eins oder zwei in die Fresse zu hauen. Doch dazu hätte er mit Pinker Uhu einige Meilen laufen müssen.
Nein, da will er lieber warten und ihm alternativ für WesternDeutschland drei in die Fresse hauen.
Und so nickt er Pinky zu. Seine Kommunikation ist auf dem linken Ohr blind.
„Ja, geh ihm nach und töte ihn, Pinky“.

Es fällt Jesus Bohne nach zwei Meilen schwer, sich noch im Sattel zu halten. Er hat ja eigentlich fünf Wunden, wenn man die Bauchwunde unter dem Rippenbogen zu den Malen an den Händen und Füßen dazuzählt , und es ist ein Wunder, dass er überhaupt noch unterwegs ist.
Nach drei Meilen will er absitzen. Doch sie finden keinen guten Platz, von dem aus sie jeden Verfolger sehen können. Erst nach fast einer weiteren Meile erreichen sie einen bewaldeten Hügel und halten im Schatten der Bäume. Jesus Bohne gleitet stöhnend vom Pferd und legt sich ins Gras. Das tut total gut und er fällt in einen ohnmächtigen Schlaf. Denn er ist restlos erledigt.
MaryMagdaLena aber hebt den Blick zum Himmel und flüstert leise: Oh Vater im Himmel, ich danke dir, dass ich jetzt bei ihm sein kann.

Pinker Uhu trabt auf der Fährte wie ein Apache, und Apachen können hundert Meilen laufen ohne eine längere Rast einzulegen. Abends sitzen sie auf rostigem Federkern und verschlissener Kindheit.
Nach weniger als drei Meilen wird er vorsichtiger. Nun bleibt er nicht mehr auf der Fährte, sondern hält sich abseits von ihr.
Eine Fliege döst halbnackt auf einem Baum und stöhnt.
Am Rande der Ebene erhebt sich ein bewaldeter Hügel. Über dem Hügel kreisen Vögel, die sich auf Bäumen niederlassen. Dort zerhackt der Vogel Selbdritt halbnackt die letzte Stille. Pinky sieht auch einige Antilopen zum Hügel hinabziehen, dann aber ganz plötzlich in der Krümmung der Raumzeit abbiegen. Das ist ein Einstein‘sches Zeichen. Es gibt auch noch andere Zeichen, die ihm verraten, dass dort auf dem bewaldeten Hügel jemand ist. Halbnackt, öffnet sich dort nichts. Gar nichts.
Er federt den Vogel. Der schreit. Die letzte Stille.
Und so weiß er Bescheid. Denn ein angeschossener Mann kann nicht länger im Sattel bleiben.

Als es schon fast Abend ist, schnauben die Pferde. MaryMagdaLena, welche die letzten drei Stunden aufmerksam nach Westen spähte, zuckt zusammen.
Wie lebt man sich?
Ihr Verstand sagt ihr, dass die Pferde wahrscheinlich wegen irgendeines Tieres schnaubten, aber sie hat plötzlich ein ungutes Gefühl. Und besonders Pinker Uhus Schimmel schnaubt immer wieder und wirkt sehr unruhig.
Wittert das Tier seinen Herrn? Der ist nur Sand in einem Spiegel, nur Sand.
Ein Werk der Pfählung, eine Parade der Lippen.
Sie fragt es sich mit plötzlichem Schrecken. Blutjung ist der Schrecken. Blutjung.
Doch sie bleibt in der kalten Wanne sitzen, im kalten Stahl, und nimmt nur ihren Hut ab, wartet auf den Pathologen und verbirgt in der ihr zugewandten offenen Hutkrone ihre Hand mit dem kleinen Colt und eine Bibel darin. Sie ist nur eine Variante von Aas.
Bewegungslos hockt sie neben dem scheinbar noch tiefschlafenden Jesus Bohne und wartet. Das Aas.
Die Dämmerung ist hier oben unter den Bäumen schon intensiver als draußen auf der kleinen Ebene. Sie kaut auf ihrer Zunge, ein Leben lang schon, und macht ihr Bauchfell traurig.
Über den Hügeln im Osten geht das Rot der sterbenden Sonne bereits in violett über.
Traurig, am letzten Halt. Wie lebt man sich?
Aus dem Schatten der Bäume schält sich nun eine gebückt vorwärts gleitende Gestalt. Es ist Pinker Uhu. MaryMagdaLena erkennt ihn sofort.
Pinky hat sein Gewehr im Hüftanschlag. So kommt er näher und näher. Etwa ein halbes Dutzend Schritte vor MaryMagdaLena und dem scheinbar schlafenden Jesus Bohne bleibt er stehen. Lässig.
Trotz sternenklarer Nacht spiegeln sich die Gletscher in den Colt-Trommeln mit minimaler Leuchtdichte.
„Da seid ihr ja. Uns einfach die Pferde zu stehlen. Ja, das hast du gut gemacht. Was ist mit ihm? Der liegt ja da wie tot. Ich dachte, er wäre unsterblich? Hahaha!!! Staut sich seine Leber wegen Pfortaderhochdrucks, häh??“
„Vielleicht stirbt er trotzdem“, erwidert MaryMagdaLena. „Vielleicht. Lass ihn nur ruhig liegen. Der kann Al Vizz nichts mehr tun. Konkret! Nimm eure Pferde und hau ab. Zieh die Vorhänge in deinem Kopf zu und lass dir in Ruhe die Wimpern straffen. Sei kokett!“
„Aber was denkst du“, sagt Pinky und grinst. „Ich bin Al Vizz’s Gotteskrieger. Und ich bringe meine Fleischbeute zu ihm. Er wird sich darüber freuen und mir eine gute Prämie zahlen. Eine neue App auf meinen Coltgriff tätowieren. Unantastbar geloadet. Ich werde Jesus quer über seinem Pferd zu Al schaffen. In seine goldene Vitrine. Du aber solltest dich gut mit mir stellen, dann lass ich dich vielleicht laufen, Süße. Ich wollte schon immer eine wie dich haben. Als Al dich bei sich auf der Ranch hatte, da kämpften Models dort mit Schürzen und Spiegeln, charmant… aber ich war nur scharf auf dich, Süße…“. Er kommt nicht weiter. Was er auch sagen wollte, er kann es nicht mehr. Worte wie diese, Worte wie jene. Denn sie schießt durch den Hut, durch die Judasbriefe und trifft ihn gut-einmal, zweimal, dreimal. Die Kugeln stoßen ihn zurück. Er drückt sein Gewehr ab, dass er immer noch im Hüftanschlag hielt, doch seine Kugeln bleiben in der Genesis stecken.
Getroffen taumelt er zurück, schwankt, brüllt dann wild und geht zu Boden. Noch einmal möchte er hochkommen. Doch er versucht es vergebens. Dann erschlafft alles in ihm. MaryMagdaKena hört sein Ausatmen.
Er ist tot, denkt sie. Nicht schuldig denkt sie, ich bin nicht schuldig und spuckt. Lässig, lässig! Und sie fragt sich im selben Augenblick, wo Al Vizz wohl ist? Kam er mit Pinker Uhu? Wird er im nächsten Moment schon von irgendwo her schießen?
Beginnt eine lebenslange Hysterie? Lebenslang?
Doch nichts rührt sich. Das Echo der Schüsse verhalte in der Ferne. Und das Gekreische der Vögel im Wald verklang. Im Kinderbuch werden intrauterine Märchen gelesen. Über dem Saloon. In der kleinen Stadt. Es ist sehr still.
Sie hört Jesus’s Erwachen, denn sein tiefes Atmen verändert sich.
Dann klingt seine heisere Stimme, wie am Telefon: „Was ist? Waren das Schüsse? Bist du bei mir, Mary? Oder träumte ich das nur?“
„Ich bin bei dir“, erwidert sie. „Und soeben habe ich Pinker Uhu getötet. Ich weiß aber nicht, ob er allein kam“.
Er erhebt sich schwankend und wischt mit einer Hand über sein Gesicht. Eine Weile verharrt er und denkt nach. Die Blätter haben symmetrische Abdrücke von Blättern auf seinem Gesicht hinterlassen. Lebenslang.
Dann hört sie ihn sagen: „Nein, er hat Pinker Uhu geschickt, um uns die Pferde wieder abzunehmen. Der wartet irgendwo auf sein Pferd. Aber wenn es Tag ist, werde ich ihn suchen. Mir geht es jetzt schon viel besser.“
Sie möchte ihm die letzten Worte gern glauben, doch als sie zu ihm tritt und ihm die Stirn fühlt, merkt sie das Fieber. Es wachsen ihm selbstunähnlich Flügel aus Chitin und Pathologien im Schädel.
„Leg dich wieder hin“, verlangt sie. „Die Nacht bricht erst an. Und sie wird noch viele Stunden dauern. Ruhe Dich aus und häute dich rechtzeitig“.
Sie trägt eine bedauerliche Hysterie in ihrem tüchtigen Ich. Lebenslang.

Die Nacht wird auch für Al Vizz lebenslang. Er hockt die meiste Zeit auf einem großen Stein, aber als es dann kühler wird, beginnt er hin und her zu wandern
Pinker Uhu kommt nicht zurück, obwohl Stunde um Stunde vergeht.
Er beginnt seine eigenen Mandeln zu essen.
Das hatte er schon lange vorgehabt.
Als der Morgen graut, da glaubt Al Vizz, dass Pinker Uhu nicht mehr mit den Pferden zurückkommen wird. Wahrscheinlich wird er damit rechnen müssen, dass dieser Jesus Bohne kommt, um ihn zu töten.
Soll er die Flucht ergreifen, möglichst schnell nach Nutellamy zu gelangen versuchen?
Oder Briefe des Paulus aus der Amygdala schreiben?
In etwa drei Stunden könnte er dort sein,wenn er diese beschissenen Briefe vergisst.
Er stellt sich vor, wie es wohl wäre, wenn er dort staubig und schwitzend in seinen Cowboystiefeln ankommen würde.
Das wäre wie Schneefall auf der Moräne und dunkles Öl würde seinen silbernen Colt verdecken.
Es wäre sein Untergang. Es müsste den Leuten vorkommen, als wäre ein Denkmal vom Sockel gefallen.
Also muss er bleiben und auf Jesus warten.
Sein Blutschwamm würde zerbersten und sein Temporallappen autistisch. Scheisse, Scheisse.
Nein, er kann als stolzer King nicht geschlagen zurückkehren und sich in den Schutz seiner Männer begeben.
Als die ersten Sonnenstrahlen im Osten über die Heiligen Hügel blitzen, da sieht er sie kommen:
Jesus Bohne und MaryMagdaLena Magdala.
Er denkt…jetzt will sie mich sterben sehen, und es wird ihr eine Entschädigung sein für das, was ich ihr antat. Jetzt will sie triumphieren.
Doch dann tritt er vor, so dass ihn die beiden Reiter sehen können, und rückt seinen Revolver zurecht.
Jesus Bohne hält an, rutscht aus dem Sattel, und als er sich vom Pferd wegdreht, da ist in Al Vizz ein wenig Hoffnung. Denn er sieht, wie sehr Jesus hinkt und wie sein Revolverarm kraftlos in einer Schlinge quer vor der Brust liegt.
Das Hämatom im seinem Kopf eine Gnade.
Jesus hat Kot im Hosenbund stecken und seinen Colt, weil sein Holster für die andere Seite nicht geeignet ist und er ein Bett im Mohnfeld zum Erleichtern sucht.
Hinkend und stinkend kommt Jesus näher. Sie reden kein Wort miteinander, sondern beginnen gleichzeitig zu schießen, indes Jesus immer noch Schritt für Schritt näher kommt.
Aber Al Vizz schießt zweimal daneben. Denn die Entfernung ist noch sehr weit. Und Jesus wirkt wie ein auferstandener Geist in der Quantenwelt.
Im Radio haben sie gesagt, Jesus ist mit der anderen Hand nicht so gut. Auch er verfehlt Al zweimal. Doch seine dritte Kugel trifft den King ins Herz.
Er hält inne und atmet langsam aus.
Dann wendet er sich um, denn MaryMagdaLena bringt ihm das Pferd.
Die Krone der Schöpfung. Eine saure Lake aus Stammhirn und Hefepilzen.
Der Introitus schwarz von dunklen Ausscheidungen, am Gesäß rectaler Schleim, der beim Reiten stört.
Als Jesus im Sattel sitzt, fragt sie: „Und nun?“.
„Abmarsch, keine Gnade“, sagt er. Es wird alles anders werden.
Er mischt Mohn, schreibt getröstet im Galopp wortfreie Verse, kratzt eine Melodie in die Schellackplatte.
Beizt die Haut der Pferde, seine Nahrung, und horcht der Melodie des Westens.
Wieder und wieder und wieder und wieder und ….
ENDE

Frau Hunke: Monsterfakten (listicle)

KING KONG
erstmals 1933 „King Kong und die weiße Frau“ von Wasei Kingu.
Neueste Version 2017 Jordan Vogt-Roberts. Insgesamt wurden 9 King Kong Filme gedreht. In den Anfangszeiten kam er auf eine Größe von ca 15 Meter. In der neuesten Version „Kong Skull Island“ kommt das Affenmonster auf 30Meter, ähnlich wie Godzilla.

THE CLOVER
in der Filmreihe Cloverfield von J.J. Abrams handelt es sich um ein alienartiges Monster. The Clover genannt, der von U-Booten im Atlantik geweckt wurde und sein Unwesen in New York treibt. Seine Größe zu Beginn der Filmreihe belief sich auf ca 91 Meter.
2018 wuchs er in The Cloverfield Paradox auf 4000 – 6000 Meter.
KRAKEN
aus dem Film „Kamf der Titanen“ von 1981 stammt das Seeungeheuer Kraken, welches von Zeus und Hades erschaffen wurde. Das Monster war in dieser Version von Desmond Davis 15 Meter groß. In einer weiteren Verfilmung aus dem Jahr 2010 kam der Kraken schon auf 91 Meter.
GODZILLA
in der Ursprungsversion unter der Regie von Ishiro Honda von 1954 wurde der Dinosaurier aus der Jura-Periode von Atombomben aufgeschreckt. Seine monstermäßige Größe: 50 Meter.
In weiteren Verfilmungen wurde das Monster immer größer. 2014 108 Meter, 2016 118 Meter und 2017 im Anime Film „Godzilla Earth“ war er so groß wie der Eiffelturm, also 300 Meter.

DRACHEN
in „Drachenzähmen leicht gemacht“ aus dem Jahr 2010 freundet sich der kleine Wikingerjunge Hicks mit dem vermeintlichen Monster an und gibt im den Namen Ohnezahn. Ohnezahn ist ein freundliches Monster und misst ganze 158 Meter.

SANDWURM
David Lynch brachte 1984 „Dune der Wüstenplanet“ in die Kinos. Bei den auf dem Planeten Arrakis lebenden Monster handelt es sich um Sandwürmer, welche die mentale Droge -das Spice- produzieren und auf die monströse Größe von 400 Metern kommen. ( 40 Meter kleiner als das Empire State Building).
Irgendwo geistert auch eine Geschichte der Sandwürmer rum, die 2778 Meter groß sein sollen.

KRONOS
das Stein- und Lavamonster spielt in „Zorn der Titanen“ eine Rolle. Das Monster Kronos ist der Vater von Zeus und Hades und ganz 500 Meter groß.

EXOGORTH
die Monster aus „Starwars – Das Imperium schlägt zurück“ von 1980 unter der Regie von Irvin Kershner sind Weltraumschnecken. Exogorth genannt. Sie leben in Asteroiden und sind zwischen 10 und 100 Metern groß. Ein seltenes Exemplar kommt auf 900 Meter.

SUMMA-VERMINOTH
Summa-Verminoth sind Monstertiere, die in den Tiefen des Akkadesischen Mahlstroms leben und einer Art Kraken zugeordnet werden. Han Solo bekommt es mit ihnen in „Solo-A Star Wars Story“ von 2018 zu tun. Ihre Größe beträgt 7,432 Meter.

GROß A´TUIN
Die Sternenschildkröte Groß A´Tuin gehört zur Gattung Chelys Galaktica und trägt in Terry Prattchets Scheibenwelt vier Weltenelefanten, die wiederum die Scheibenwelt tragen. Groß A´Tuin gehört zu den freundlichen Giganten und ist vom Kopf bis zur Schwanzspitze 1000 Meilen lang.

MONSTERTRUCKS
in der aufklärenden Dokureihe Truckerbabes handelt es sich um Damen, die sogenannte Monstertrucks beherrschen. Einige dies Monstertruck haben ganze 400 PS und sind … nun ja das ufert jetzt aus.

Jörg Hilse: Das Monster

Am Bettgestell knackte irgend so ein Teil. Tobias fuhr hoch und sah auf die Uhr. Mist, in fünf Minuten fing die Gruppentherapie bei Frau Stein an. Das verdammte Tavor machte einen ganz malle, mit hektischen Bewegungen tauschte er die Jogginghose gegen seine schwarzen Jeans. Wenigstens der Themenhefter lag schon griffbereit auf dem Tisch. Nichts war für ihn schlimmer als zu spät zu kommen. Hastig lief er über den Flur und klopfte an die Tür vom Fernsehraum. Frau Stein machte auf, die Stühle standen wie bei Gruppentherapien üblich, im Kreis. Er setzte sich und André sein Zimmernachbar, reichte ein Blatt Papier herüber. Es handelte sich um zwei sonderbare Zeichnungen, direkt übereinander. Oben kam ein Wanderer an eine Weggabelung, linker Hand führte ein Pfad direkt zum Strand, traumhaft wie eine Südseeinsel. Doch davor stand ein Monster, eine wild zähnefletschende Mischung aus Grizzlybär und Riesengorilla. Rechts kam man an dem Vieh vorbei, aber der Weg führte durch ein weites Tal ins Gebirge über dem ein Unwetter niederging. Auf dem unteren Bild hatte das Monster nur noch die Größe eines Schimpansen und hockte frustriert auf einer Art Handwagen. Und unser Wanderer zog mit zuversichtlicher Miene den Wagen hinter sich her zum Strand.
Toby mochte das untere Bild nicht.
Das Ding sah aus wie eins dieser oberschlauen Spruchbilder bei Facebook.
Sein eigenes Monster, das waren die Leute, die zu ihm sagten, der passt nicht, den wollen wir hier nicht. Jeder Versuch Anerkennung zu finden, es allen recht zu machen, scheiterte. Und das Monster in ihm wurde größer und größer. Er merkte auch das es sich nicht zähmen ließ, man konnte es nur killen. Hemingway und Virginia Woolf hatten ihre Monster gekillt. Doch verlor er jedes Mal den Mut, wenn er zum Gleis ging und ein Zug ganz nah heran raste. Seine Hausärztin gab ihm eine Überweisung für die Klinik. „ Möchte jemand zu den Bildern etwas sagen ?“ fragte Frau Stein in die Runde. Alle schwiegen, als ob Sie darauf warteten das Tobias den Anfang machte. Neben ihm saß eine neue Patientin, und schaute, eigenen Gedanken nachhängend zu Boden. „ Ja“ begann Toby „ gibt’s sowas wie ne Bauanleitung für den Handwagen da? Die könnte ich gut gebrauchen.“ „ Genau das möchten wir ihnen hier an die Hand geben.“ sagte Frau Stein am Ende der Stunde . „ Einen Weg wie Sie mit ihrer Erkrankung umgehen können. Dafür steht der Handwagen.“
Nach dem Abendbrot las Tobias noch etwas, sah nach der Spülmaschine und ging noch mal raus. Um diese Zeit saßen immer ein paar Patienten auf der Terrasse im Innenhof und genossen die Abendsonne. Toby grüsste im Vorbeigehen. Er blieb ganz gern für sich. Plötzlich stand jemand neben ihm. Es war die Neue aus der Gruppentherapie vom Nachmittag. Sie trug ein T Shirt und ihre nackten Arme waren übersäht mit langen hellen Kratzern . Ein dunkelroter Streifen lief quer über den Unterarm, die Wunde sah frisch aus. „Magst Du zu uns rüber kommen“ fragte Sie. Tobias wusste nicht ganz wie ihm geschah. Ein Mädchen, in deren Augen er wahrscheinlich ein alten Mann war, lud ihn ein mit ihr und den Anderen zu quatschen. Kaum , saß er neben ihr kamen Hanna und Viktoria, beide von der 93/2, auf die Terrasse. Hallo Svenja, sagte Hanna und setzte sich neben Sie. Vicki will mir ein bisschen die Haare schneiden. Magst Du auch? Muss nicht, aber danke sagte Svenja und drehte sich eine Zigarette. Toby erfuhr das Sie von der 93/3 kam. Der Abend war besser als jede Therapiestunde. Hier sprach man aus, was man woanders lieber verschwieg. Toby blieb bis halb Zehn und ging dann mit einem nie gekannten Gefühl schlafen. Er war Dingen nachgerannt, hatte immer versucht irgendwo dazuzugehören. Hier gehörte er einfach dazu.
Einen Abend später, Svenja telefonierte und dabei kam irgend was in ihr hoch. Sie weinte. Man sah das oft hier. Toby wünschte sich manchmal, er könnte es. Aber in dieser Armee der Traurigen lernte man eins. Achtsamkeit, für sich und den Anderen. Dani war grossartig. Obwohl Sie oft selbst mit sich kämpfte saß Sie neben Svenja und hielt ihre Hand. Die legte den Kopf an Dani’s Schulter während immer noch Tränen über ihr Gesicht liefen. Später beruhigte Sie sich und um sie auf andere Gedanken zu bringen fragte Toby: „Sag mal Svenja, was hast Du eigentlich früher ganz gern gemacht.“ „ Du meinst, bevor ich mich geritzt hab“ gab Sie zurück. „Ja, davor.“
„Tja, ich bin ganz gern Skateboard gefahren.“
Immer Freitags fand die Visite mit dem ganzen Ärzteteam statt. Am Ende des Gesprächs sagte Dr. Grimm. „ Hier drin scheint es ihnen ja langsam besser zu gehen. Aber wir würden gerne wissen wie es so draußen für Sie ist.“ Toby überlegte, während der Arzt weitersprach. „ Wie wäre es wenn Sie diesmal das ganze Wochenende zu Hause verbringen statt nur einen Tag. Und am Montag reden wir, wie es denn so war.“ „ Einverstanden“ sagte Tobias. „ Gut, wann ist die letzte Gruppentherapie heute?“ „ Um 14 Uhr bei mir“ antwortete ihm Frau Lamprecht. „ Wunderbar, danach können Sie nach Hause fahren und das sogar vor uns“ scherzte der Doktor und wünschte ein schönes Wochenende. Etwa gegen drei stand Tobias an der Haltestelle nahm aber prompt die falsche Straßenbahn, weil die Anzeige wieder mal nicht richtig funktionierte. In Flussnähe stieg er aus. Toby lief über die Brücke und setzte sich ans Ufer. Zwei Skateboard Fahrer rollten vorbei. Tobias fiel auf das ihre Bretter etwas länger als normal waren und musste dann an Svenja denken. Abends saß er dann ziemlich lange vor dem Fernseher. Es lief noch eine Talkshow.„ Wir begrüßen einen Mann“ kündigte der Moderator seinen Gast an „der eine Trendsportart aus den USA zu einer in Deutschland gemacht hat. Herzlich willkommen, Eberhard „ Cäsar“ Kaiser.“ Der Name sagte Toby irgendwas. Die Cäsar Skateboard Läden, gab es in jeder großen Stadt. Für Tobias eine fremde Welt. Aber irgendwie steckte ihn das Charisma dieses Mannes in seinem Hoodie und der Wollmütze an. Er sprach über Begeisterung, innere Motivation, Hinfallen und wieder Aufstehen. All das, was einem die Therapeuten mit großer Mühe auch begreiflich zu machen versuchten. Nur viel überzeugender. „ Was haben Sie uns da mitgebracht.“ fragte der Moderator und zeigte auf ein längliches Rollbrett. Toby erinnerte das Gefährt ein bisschen an heute Nachmittag „ Das ist ein Longboard“ sagte sein Talkgast „ damit fahre ich morgens meine Brötchen holen. Die Kunst ist übrigens, auf dem Rückweg die Brötchentüte nicht zu verlieren“
Tobias nahm sein Tablet und fand bei YouTube jede Menge Clips übers Longboarden, auch auf Deutsch. Am Samstagmorgen stand er in der Cäsar Filiale. „Hi, was brauchst Du.“ fragte die junge Verkäuferin in lockerem Ton. „ Äh, so’n Longboard, am besten eins, äh“ Tobias guckte verlegen „ ich wills halt erst lernen“ „ Ja am Besten ist da eins wo die Achsen durchgesteckt sind. Man steht tiefer und fühlt sich sicherer .“ Sie nahm eins der Bretter aus dem Ständer. Hier, steig mal drauf ob für Dich die Breite stimmt“ Es war eine wackelige Angelegenheit, das erste Mal auf so einem Ding zu stehen. Aber Toby blieb zuversichtlich. Denn Skaten würde für ihn immer eine gute Erinnerung sein. An seinen Weg zurück ins Leben und an alle die ihn mit ihm gingen. Besonders aber an Dani und Svenja.
Dazu kam noch etwas Anderes.
So ein Board war der Wagen, auf dem sein inneres Monster keinen Platz hatte, groß zu werden.

blumenleere: eingestaendnisse

einen schwamm aufziehen, der alles aufsaugt, auch was er nicht soll oder kindererziehung erschreckend gemacht: pseudoliebevoll, von einem nicht zu unterschaetzenden hauch an tiefsitzender missachtung bis gar fundamentaler furcht finster durchfurcht, nennen wir sie ja beinah schon fast allzu gerne kleine monster – & zwar eventuell just deshalb, weil sie uns schier zu frappierend aehneln, in form von etwas, was wir fuer karikaturen halten moechten, indes halten tatsaechlich eher uns sie einen nicht gerade beschoenigenden, dafuer radikal realistischen spiegel vor, wenn sie uns auf eine dermaszen treffende art & weise imitieren, dass wir ihnen – zumindest unbewusst ertappt & schwuppdiwupp profund getroffen – am liebsten lauthals, mit voller kraft & geballter faust, ins gesicht schlagen wuerden, waere da nicht unser gemeinster, heimtueckischster gegenspieler, das tabu, der soziale druck, das prophylaktische schamgefuehl, welches selbst den heiligsten zorn – in der antike eine noch wunderbar nuancierte, groszartige emotion, inzwischen scheinheilig zu den verfemten, geaechtenden degradiert – im keim erstickt. nein, wir doch nicht, lachen wir, verlogen plaerrend, innerlich peinlichst beruehrt & klopfen unsresgleichen verschwoererisch, meist leider hoechstens metaphorisch auf die widerwaertig verkruemmten schultern, & wissen dabei eigentlich ganz genau, egal, wie sehr wir zu projizieren suchen, welche bestien wir in wirklichkeit sind.

Björn Bischoff: Mitternachtsschwarze Erde


»Niemand dringt hier durch
und gar mit der Botschaft eines Toten.
Du aber sitzt an deinem Fenster
und erträumst sie dir,
wenn der Abend kommt.«
(Eine kaiserliche Botschaft. Franz Kafka.)

In dem verstecktesten Winkel ihrer Zweizimmerwohnung, dort,
wo sich die durchgesessene Couchgarnitur in eine Ecke drückt,
sitzt Sunja und blättert durch einen Stapel alter Fotos, Briefe und
Postkarten, die ihre Familie ihr schickte und hinterließ,
Erinnerungen, die Sunja begraben hatte, weil sie ihr damals
fremd waren, und die nun wieder, exhumiert, auf ihrem Schoß
liegen, als der Wolf mit ihr spricht.
Sunja hält inne. Außer ihrem Atem hört sie nur den leichten
Regen, der gegen ihr Fenster klopft.
Sie schaut auf und sucht im Wohnzimmer nach der Stimme.
Doch da ist nichts, außer den alten Möbeln mit ihrem Geruch
nach Staub und Essig.
Stille.
Einbildung, denkt sie, Einbildung, wie so oft in diesen Räumen.
Sie will den Stapel weiter durchsehen, von dem obersten Foto
blickt ihre Mutter als junge Frau sie an, diese dürre Gestalt, der
sie nie ähnelte, nicht damals, nicht heute, daneben ein Baum, der
in dem Schwarzweiß des Bildes unscharf ist, aber vielleicht sieht
sie dort nur die Zeit auf dem Fotopapier wirken, denkt Sunja, auf
jeden Fall scheint es für sie so, als ob der Baum Federn statt
Früchte trüge. Mit dem Daumen strich sie bereits mehrmals über
die Stellen, nicht sicher, was sie damit bewirkt. (Nichts.)

Sie legt das Foto auf den Stapel neben sich, dreht es um, ihr sind
die Blicke der Toten unangenehm, und, über diesen Haufen an
Erinnerungen hinwegschreitend, steigt sie in das Revier des
Wolfs.

Sunja hält eine Postkarte in der Hand, eine billige Reproduktion
eines Gemäldes vom Anfang des 20. Jahrhunderts, so viel ist ihr
vom Studium der Kunstgeschichte geblieben, dass sie das
erkennt. Noch so eine Erinnerung, die Sunja vor langer Zeit
begrub. Auf der Karte das Rotkäppchen mit leuchtenden Wangen
und knubbeligen Fingern. Gehüllt in seinen Mantel, einen
verschlossenen Korb vor sich, füllt es fast die ganze Karte, hinter
sich nur der Wald, angedeutete Bäume, die Sunja kaum erkennt,
weil sie auch gar nicht hinschaut, nur Flecken im Hintergrund,
weil sie nur Augen für den Kopf hat, der da zu Füßen des
Rotkäppchens liegt.
Der Schädel, im Dunkel der Karte, in der letzten unteren Ecke,
halbverwest, die Ohren gespitzt, umrandet vom klumpigen Fell,
die Lefzen gebleckt, obwohl ja bereits tot, offensichtlich, denn der
Rest des Wolfs fehlt. Unter dem Kopf sammelt sich Blut, in der
Lache Flecken, die Sunja nicht genauer anschauen will. Maden
ziehen durch das Fell des Wolfkopfs, so viel sieht sie auf der Karte
noch, seine Augen bettelnd auf sie gerichtet. Und während Sunja
auf ihn starrt, nach Pinselstrichen sucht, blinzelt der Wolf mit
schweren Lidern.
Der Wolf erzählt Sunja, wie er einst nicht nur Kinder, sondern
ganze Dörfer verschlang, sein Maul weitaufgerissen, ein Hunger,
der kein Ende kannte, der vor der Sonne und dem Mond keinen
Halt machte, ein Vieh, das sich durch den Himmel und die Hölle
fraß, bevor es sich mit seinem fetten Bauch unter einen der
letzten Bäume legte, wo es im Schlaf ein Mädchen überraschte.
Ein Kind, das mit einem Stein den Bauch aufschlitzte, mit seinen
kalten Händen im Inneren wühlte und den Himmel und die

Hölle, Nieren und Leber, Dörfer und Menschen, Gedärme und
Milz herausriss und auf die mitternachtsschwarze Erde unter
dem Baum legte. All das erzählt der Wolf, während aus dem
Regen vor Sunjas Wohnung ein kaum hörbares Nieseln wird.
Und dann äußert der Wolf seine Bitte.
Sunja hört genau zu. Jedes Wort. Jede Silbe. Alles, was aus dem
verrottenden Maul kommt. Zuerst versteht sie nicht. Der Wolf
würgt kurz und Sunja fragt sich, ob ihm eine Made über die
Zunge in die Kehle kroch, aber was will so ein Kopf schon allein
gegen eine Made machen? Dann erinnert sich Sunja.
Sie erinnert sich an Thomasz, den Austauschstudenten, den
Mann, mit dem sie zum ersten Mal schlief, bei dem sie zum ersten
Mal an die Liebe glaubte. Die langen Nächte, in denen sie bei
einer Flasche Bordeaux in ihrer Studentenwohnung
zusammensaßen, die Gespräche über Gott und die Welt und wie
sie beide so darüber sprachen, als ginge sie nichts etwas an. Wie
Thomasz erzählte und sich dabei mit dem Daumennagel
zwischen den Zähnen kratzte.

Sie erinnert sich an einen Sommernachmittag mit ihren Eltern in
einer großen Stadt, in der ihr die Möglichkeiten endlos schienen,
obwohl sie erst elf Jahre alt war. Sunja sah in diesen Straßen die
Menschen, die lebten wie in den Serien im Fernsehen, Freunde,
Liebhaber, lange Abende in Bars und Restaurants, während an
einer Ecke jemand in seinem Erbrochenen saß.
Sie erinnert sich an ein Weihnachtsgedicht, das sie als Kind an
Heiligabend aufsagte, an ihr Stottern, obwohl nur ihre Eltern im
Wohnzimmer hockten, ihre Gesichter direkt vor ihr, und wie sie
nach der Bescherung am Tisch saßen und ihre Mutter die Haut
von der gebratenen Gans aß, weil dies der beste Teil des Vogels
sei.
Sie erinnert sich an einen Popsong, in dem es um verpasste
Entschuldigungen und zu Staub zerfallende Knochen geht, den sie so oft auf der Rückbank im Honda ihrer Eltern hörte,
während sie in den Sommerhimmel schaute und glaubte, dass sie
der Unendlichkeit nie näherkäme.
Sie erinnert sich an den Ohrfeige ihres Vaters, als er sie mit einer
Zigarette in ihrem Zimmer erwischte, danach rauchte sie nie
wieder.
Sie erinnert sich an die Hände ihres Vaters.
Sie erinnert sich an die leeren Augen ihrer Mutter, als sie im
Pflegeheim neben deren Bett stand, darin der Körper, der sie als
Kind so oft hielt.
Sie erinnert sich an die Tränen, während sie in ihrem Bett mit der
weißen Bettwäsche in dem weißen Raum lag, ihre Arme
bandagiert.
Sie erinnert sich an die brüchige Stimme ihres Bruders auf dem
Anrufbeantworter, der ihr erzählte, dass mit ihrem Vater etwas
passiert sei und sie unbedingt zurückrufen solle.
»Und?«, fragt der Wolf, der nach dem Würgen wieder zu Luft
kommt, obwohl ihm ja die Lunge fehlt. Sunja taucht auf. Sie
blickt dem Wolf in die Augen. Ihr Atem geht schnell, sie spürt
ihren Herzschlag im ganzen Körper. Sie nickt.
»So soll es sein.«
Sunja sitzt in der Küche. Ihre rechte Hand hat sie auf das
Holzbrett gelegt, in der linken Hand hält sie das Küchenmesser,
das, mit dem sie sonst das Geflügel für ihr Essen schneidet, aber
jetzt holt sie Luft und setzt das Messer an ihrem Handgelenk an.
Sie spürt die Kälte an ihrem Handgelenk. Das Messer liegt auf
ihrer Haut, zwischen Muttermalen und ersten Altersflecken.
Dann drückt sie zu.

Eine Klinge gleitet leicht.
Eine Klinge bewegt sich vor und zurück.
Eine Klinge trifft Hartes.
Eine Klinge schneidet durch das Harte. Mehrere Versuche.
Eine Klinge trifft wieder Hartes.
Eine Klinge gleitet, schneidet, sägt
Umständlich, schwer, aber sie sägt.
Mehr Kraft.
Mehr Rot. (So viel Rot, denkt Sunja.)
Dann gleitet die Klinge noch einmal kurz.
Durch.
Sunja laufen der Fleischsaft und das Blut über Kinn und die

verbliebene Hand, die ihr abgetrenntes Gegenstück hält, das
kaum noch zu erkennen ist, weil Sunja hungrig ist.
Den rechten Stumpf hat Sunja in ein Küchenhandtuch gewickelt
und notdürftig mit einem Gürtel abgebunden. Ihr läuft kalter
Schweiß über die Stirn, sie kann sich kaum auf dem Küchenstuhl
halten. Neben ihr der Stapel mit Postkarten und Briefen.
Ihr Blick verschwimmt.
Sunja rutscht vom Tisch ab, fegt den Stapel mit Briefen, Fotos
und Postkarten um, sie kann den Erinnerungen nicht mehr
folgen, sie kann nicht tiefer gehen, auf dem Boden alles ein

Haufen, der sie nicht mehr kümmert, alles Dinge, die ihr so egal,
so nichtig erscheinen, wenn sie an das schwarze Loch denkt, das
in ihr tobt, sich ausbreitet und alles mit sich nimmt, alle
Erinnerungen, alle Weihnachtsbäume, alle Liebe, alles Stottern,
alle Knochen, all den Tod, alles ins Dunkel mit sich reißt.

Vor dem Küchenfenster schiebt sich die Sonne durch die Wolken
und legt einen rostfarbenen Schleier auf die Welt. Zwischen
ihrem Stöhnen und den Schmerzen ist Sunja, als würde etwas
nahe ihres linken Ohres schmatzen.

Philip Krömer: Gute Zeiten für Baba Jaga


Freitagabend, wenn andere noch im Berufsverkehr feststecken, stapft ihr Haus, unbehelligt von Ampeln und Staus, querfeldein bergan. Auf meterhohen Hühnerbeinen ist es unterwegs. Baba Jaga, die Hexe, wohnt hinten im Meilwald, weil die Bäume da so schön hoch wachsen, dass der Giebel ihres Hauses nie über die Wipfel spitzt, selbst wenn es aufrecht steht. Und weil es zwischen den Stämmen immer dämmert.
Dort im Halbdunkel geht ihr bisweilen ein unvorsichtiger Spaziergänger in die Falle. Der landet im Kochtopf, sie ist eine Hexe, was kann sie dafür? Seit sie in der Walpurgisnacht mit dem Leibhaftigen Unzucht trieb (Hand aufs Herz, ein schöner Mann ist das, den von der Bettkante zu stoßen, dazu hätte es größter Selbstbeherrschung bedurft) schmecken ihr weder Schäuferle noch Kloß. Mensch muss es sein. Und die Erlanger sind, weil entspannt und gepflegt (dieses Durchschnittseinkommen!), einfach am zartesten. Die kann sie nur empfehlen.
Wenn es dann aufs Wochenende zugeht, unternimmt sie einen ihrer Jagdausflüge den Burgberg hinauf. Sie pflanzt ihr wandelndes Haus oben in den Garten einer Villa. Dort steht es und leuchtet rot aus den Fenstern, bis der Villenbewohner, der vielleicht geerbt oder einen hochdotierten Posten innehat, um sich die Wohnlage leisten zu können (diese Quadratmeterpreise!), den Flackerschein bemerkt und nachsehen geht. Er nähert sich, einen Golfschläger als Prügel erhoben, der seltsamen Hütte. Hat seine Frau, während er im Büro war, flugs ein Gartenhaus aufstellen lassen? Sie monierte, dass sie eines bräuchten. Aber warum bloß hat sie sich für dieses Modell entschieden, das schon jetzt morsch aussieht?
Nun schwingt die Tür auf und, leger im Rahmen lehnend, erwartet ihn ein Schemen. „Wer da?“, ruft der Bewohner. Gegen das aus dem Inneren fallende Licht sind keine Details erkennbar. „Maria?“ Denn so heißt seine Angetraute. Eine Antwort bekommt er nicht. Dafür schlägt beim Nachbarn ein Hund an. Und der Mond scheint hell.
Maria hat auch gar nichts mit dem Häuschen zu schaffen, sie kommt selbst spät vom Pilates und findet keine Spur von ihrem Mann, obwohl sein Auto im Carport steht. „Heiner?“, ruft sie. Doch der Heiner schwimmt, sauber aufgebrochen, zerteilt und filetiert, in Baba Jagas Kochtopf. Die Brühe schwappt wild, während das Haus auf hohen Beinen den Hang wieder hinabsteigt und heimkehrt in den Meilwald.
Tags darauf schnappt sich die Hexe einen ausgebüxten Hund, den kocht sie mit, für die Würze. Oder einen Mountainbiker, der sportlicher aussieht, als er schmeckt. Selten, in besonders nebligen Nächten, befiehlt Baba Jaga ihrem Haus, bis runter in die Innenstadt zu wandern, der knackigen Studenten wegen, die fast alle hier unten wohnen und kaum einer am Berg (diese Mieten!).
Einer von ihnen macht sich etwa als letzter einer Gruppe Feierwütiger vor Trunkenheit stolpernd auf den Heimweg. Er sieht Baba Jagas Haus zwischen zwei Altbauten hocken, wo sich eigentlich eine Hinterhofeinfahrt befinden sollte. In diesem Viertel kennt er sich nicht so gut aus. Das Unerhörte der Situation entgeht ihm. Er glaubt, hinter den rot erleuchteten Fenstern erwarteten ihn weitere nächtliche Zecher, eine WG-Party vielleicht, zu der man auch ungeladen auftauchen kann. Seit dem folgenden Morgen wird er vermisst.
Ihre Nase ist warzenbesetzt, ihr Hut ist spitz. Ihre Kräfte sind ungeheuerlich, ihr Hunger ist schier unermesslich. Zwischendurch lässt sie ihr laufendes Haus auf einem Hänger platznehmen, spannt einen betagten Geländewagen davor und zieht es auf den Schlossplatz. Dort verkauft sie aus dem Fenster heraus Konserven. Ein Zauber verbirgt das Hexenhafte in ihrem Gesicht, damit niemand Verdacht schöpft. Der Hut hängt am Ständer. Auf den Dosen steht „Hausmacherwurst“ und „Frühstücksfleisch“ und „Leberaufstrich“. Darin ist aber ein Fußgänger, ein Hund, ein Mountainbiker, ein Student und der Heiner. Entbeint und gesotten. Für eine Baba Jaga allein ist die Ausbeute eh zu üppig, egal wie groß ihr Hunger ist.
Indem sie den Erlangern die eigenen Mitbürger zu Fraß vorsetzt, zeigt sie sich dem Leibhaftigen als fleißige Adeptin des Bösen, dem sie sich verschrieben hat. Und die Erlanger greifen gerne zu. Wo sie doch so zart sind, so unendlich zart.

Margit Heumann: Nostalgisches Rezept

Man nehme seine frühen Erlebnisse,
und bestreiche sie mit einer Krem
aus Subjektivität und Idealisierung.
Nach einer üppigen Verjährungsfrist
von mehreren Dekaden
staple man sie hübsch übereinander
und ziere nach Belieben
mit geriebener Übertreibung,
schiftelig geschnittenen Floskeln
oder feinblättrigem Pathos.
Vor dem Servieren bestreue man sie
mit reichlich Zucker
der verklärenden Erinnerung.
Guten Appetit.