Carsten Stephan: Bauhaussiedlung Dessau

Terzinen

Beharrlich mied ich jene Siedlungsstraßen
Mit ihren glatten, seelenlosen Bauten,
Die vor der Stadt sich in die Felder fraßen

Und ewig weiß und gleich und fremd ausschauten,
So dass sich alle, die das Schöne lieben,
Allein beim Abbild vor dem Ganzen grauten.

Doch jüngst hat mich der Zufall hingetrieben,
Ich staunte sehr und muss die Siedler loben:
Dank euch ist wenig, wie es war, geblieben.

Statt Fensterbänder, schwarz und abgehoben,
Sah ich beglückt die goldnen Dekosprossen.
Auch saßen jene einstmals zu weit oben

Und hatten so der Siedler Blick verdrossen
Auf Nachbars Gartenzwerg und Hütchenfichte,
Den sie nun auf dem Bette noch genossen.

Das Monotone machte man zunichte
Mit Dämmungsklinker- oder Schindelfronten,
Ihr Beige stand ihnen prächtig zu Gesichte,

Zumal, wenn sie am Dache glänzen konnten
Durch Braun, so dunkel wie der Wälder Rauschen,
Und gar durch ein Geweih mein Herz besonnten.

Doch soll die Siedlung wirklich uns berauschen,
Muss sie ganz lassen vom modernen Wahn:
Die flachen gegen Satteldächer tauschen,

Und übern First: ein goldner Wetterhahn!

Carsten Stephan: Moralkolumnist Dr. Ehrmüller

Darf man sagen, dass die Kinder nerven?
Darf man schlipslos aufs Familienfest?
Darf man Tante Trudes Kunst verwerfen?
Darf ein Veggie, um nichts wegzuwerfen,
Knabbern einen fetten Eisbeinrest?

So klug fragen Kaufmann und Friseuse,
Das ist es, worum die Welt sich dreht:
Darf man? Ist es gut? Oder doch böse?
Ehrmüller hält in der Zeitung Lese,
Und man hofft und spricht ein Bittgebet.

Darf man über rote Ampeln gehen,
Wenn der Zug fährt und die Zeit verrinnt?
Keineswegs! Denn schnell ist es geschehen,
Schließlich geht man oben nur auf Zehen,
Dass man fällt. Natürlich auf ein Kind!

Darf man Penner aus dem Bahnhof jagen?
Ja! Er ist doch öffentlicher Raum.
Doch es bleibt ein leises Unbehagen:
Darf man denn zu Menschen Penner sagen?
Nein! Denn ohne Achtung geht es kaum.

Darf man mangels Geld für eine Reise
Karten schicken: Gruß aus Sansibar?
Darf man, wenn zu arm für Biopreise,
Fleisch verzehren? Nö! – Und vom Kakao,
Durch den sie einen ziehen, trinken? Klar!

Unser Doktor hegt Gewissensmaden
Und erteilt schon jahrelang Absolution.
Selten spricht er nur von Schurkenstaaten.
Darf man seinen Lebenstraum verraten?
Er in der Weltethikkommission.

Darf man alte Panzer ausrangieren,
Oder wäre das ein Umweltgau?
Darf man auf Raketen Hate Speech schmieren?
Darf man einen schönen Weltkrieg führen,
Wenn so Zeit fehlt für die Ehefrau?

Carsten Stephan: Schweiß und Preis

Glosse

            Von der Decke bis zur Diele
            Muß der Schweiß herunter rinnen,
            Willst gelangen Du zum Ziele,
            Wohlverdienten Preis gewinnen.
                                Friederike Kempner

Woher kommt und wohin geht er?
Welches ist des Schweißes Richtung?
Davon kündet dir die Dichtung.
Fließt er grade oder dreht er,
Spritzt er achtundsiebzig Meter?
Ob im Nebel, ob am Nile,
Von dem Steiß geht er zur Schwiele,
Zu dem Krapfen, zu der Kröte,
Von dem Griesbrei bis zum Goethe,
Von der Decke bis zur Diele.

Aus der Achsel muss er fließen,
Er muss strömen, er muss schnellen,
Gleich den Niagarafällen,
In Fontänen aufwärts schießen,
Im Quartiere sich ergießen.
Ob bei Froste, ob bei Finnen,
Ob bei Flippfloppträgerinnen,
Er muss sprudeln, er muss sprützen,
Ja, zu ungeheuren Pfützen
Muss der Schweiß herunterrinnen.

Diese Flut musst du durchwaten,
Gar das gelbe Meer durchschwimmen,
Um die Zwecke zu erklimmen,
Gleich den Hanse- und Kroaten
Rudern zu den Resultaten.
Ob in Schweden, ob bei Schwüle,
Nimmer geht’s per Besenstiele,
Du musst schnorcheln, du musst schippern,
An den Kliffen, auf den Klippern,
Willst gelangen du zum Ziele.

Wird man dich mit Lorbeer schmücken
Für den Duft an allen Ecken?
Wird man dir die Füße schlecken?
Wird man Ehrennadeln zücken,
Preisen dich in Bühnenstücken?
Ob am Montag, ob zum Minnen,
Fünfzig Raubtierpflegerinnen
Werden schnurren, werden schnobern,
Konntest ja ihr Herz erobern,
Wohlverdienten Preis gewinnen.

Carsten Stephan: Musikantenstadl

In matten Augen glänzt die Studiosonne,
Ein Rüschenbalg kräht im Tapetenwald.
Und alles schunkelt sich in beige Wonne.
Ein Hirschhornknopf von einer Hose knallt.

Ein Mottenschwarm entflieht den Kampferdünsten.
Ein Jodler schlüpft aus einem Dekolleté.
Der Saalschutz fantasiert von Feuersbrünsten.
Ein Stützstrumpf blickt verliebt auf ein Toupet.

Carsten Stephan: Bimbam

Schilleroulipo

Der Marsch muß hinaus
In den feindlichen Leichtsinn,
Muß wirken und streben
Und pflanzen und schaffen,
Erlisten, erraffen,
Muß wetten und wagen,
Den Grad zu erjagen.
Da strömet herbei das unendliche Gas,
Es füllt sich die Spitze mit köstlichem Halfter,
Die Rechtshänder wachsen, es dehnt sich der Heide.
Und drinnen waltet
Das züchtige Heilkraut,
Der Nachtdienst der Klarheit,
Und herrschet weise
Im häuslichen Krokodil,
Und lehret die Manager
Und wehret den Kode,
Und reget ohn’ Entwicklung
Die fleißigen Hascherl,
Und mehrt die Glasfaser
Mit ordnender SMV.
Und füllet mit Schermäusen die duftenden Laptops,
Und dreht um das schnurrende Springseil die Fanfare,
Und sammelt in der reinlich geglätteten Schürfwunde
Den schimmernden Yuppi, das schneeigte Lichtjahr,
Und füget zum Hahn den Glücksklee und die Schleimhaut,
Und ruhet nimmer.

Carsten Stephan: Backe, backe Kuchen

Nach einem Rezept
von Kenneth Goldsmith

Backe, backe Kuchen,
Der Bäcker hat gerufen:
Wer will guten Kuchen backen,
Der muß haben 144 Sachen:

E 100, E 101, E 102, E 104,
E 120, E 122, E 124, E 129,
E 131, E 132, E 133,
E 140, E 141, E 142,
E 150, E 151, E 153, E 155,
E 160, E 161, E 162, E 163,
E 170, E 171, E 172, E 173.

E 200, E 202, E 203,
E 214, E 215, E 216, E 217,
E 218, E 219,
E 220, E 221, E 222, E 223,
E 224, E 226, E 227, E 228,
E 260, E 261, E 262, E 263,
E 270, E 280, E 281, E 282, E 283,
E 296.

E 300, E 301, E 302, E 304,
E 306, E 307, E 308, E 309,
E 310, E 311, E 312,
E 320, E 321, E 322, E 325,
E 326, E 327,
E 330, E 331, E 332, E 333, E 334,
E 335, E 336, E 337, E 339,
E 340, E 341,
E 350, E 351, E 352, E 354,
E 380.

E 400, E 401, E 402, E 403,
E 404, E 406, E 407,
E 410, E 412, E 413, E 414, E 415,
E 420, E 421, E 422,
E 440, E 442, E 450,
E 460, E 461, E 463, E 464,
E 465, E 466,
E 470, E 471, E 472, E 475,
E 481, E 482.

E 500, E 501, E 503, E 508,
E 516, E 530, E 575,
E 620, E 621,
E 950, E 951, E 952, E 953,
E 954, E 959,
E 965, E 966, E 967.

E 1410, E 1412, E 1413, E 1414,
E 1420, E 1422,
E 1440, E 1442,
E 1518.

E 110 macht den Kuchen gehl!
Schieb, schieb in Ofen ’nein.

Carsten Stephan: Fachrechnen für Bäcker

Goldsmith-Variationen


1.
Zum Verbacken von 100 kg Mehl
sind 35 000 kcal notwendig.
Wieviel kg Braunkohlenbriketts
sind beim Brustofen unter
Berücksichtigung des
Wärmeverlustes erforderlich?

2.
Eine Konsumbäckerei erhält
ein Faß Trennemulsion im Gewicht
von 58,8 kg. Das Faß wiegt 12,25 kg.
Wieviel Kilogramm netto sind
geliefert worden?

3.
In einer Bäckerei sollen 185 kg Teig
hergestellt werden. Der Anstellsauer
beträgt 0,4 %, der Anfrischsauer
1,4 %, der Grundsauer 18 %, der
Vollsauer 55 % der Teigmenge.
Wieviel Kilogramm muß
jede Stufe wiegen?

4.
Auf der Beute liegen 82,5 kg
Weißbrotteig. Nach dem Abwiegen
werden 75 Weißbrote gezählt.
Wieviel Kilogramm beträgt
die Teigeinlage für ein Weißbrot?

5.
Eine Backbrigade hat täglich 1,2 t
Roggenmehl zu verarbeiten.
Die Gebäckausbeute beträgt
durchschnittlich 142,5 %.
Wieviel Kilogramm Brot
werden hergestellt?

6.
Wieviel Gramm Asche sind
in 80 kg Weizenmehl Type 812
bei einem Wassergehalt
von 14,5 % enthalten?

Carsten Stephan: Mit Gryphius im Irrgarten

Wir sindt mitt Freud vnd lust / in disen garten treten /
   Doch finden nicht mehr auß; / die Wonn weicht grimmer Pein /
   Der leichte Fuß wirdt lam / die rote Wang wie Stein /
Der magen gnurrt vnd kracht gleich rasenden Trompeten.
Deß mundes lachen fleucht / baldt jammerlich Gebeten /
   Der Augen Funck verlöscht / der Thränen Fluth bricht eyn. /
   Wirdt nu der Freyheit spiell / eyn Lauff im kärcker seyn?
O hilff uns / großer Gott / laß Sathans Vnkraut jäten!
   Das haar steht himmelan / der Leib schwärt ohne Brodt /
   Die Zung wirdt schwartz vom brandt / die Gäng sind stanck vnd Koth /
Der Kopf ist Ach vnd Weh / plitz / Schwefel / tober Schrecken.
   Hier sindt wir in der grufft / ja gleich wie einverleibt
   Deß grünen Drachs Gedärm! / Waß ists / waß von uns bleibt?
Wir sindt der Würme Speiß / Der dung der Höllen Hecken!

Carsten Stephan: Der Hansel

Oulipoerzählung

Vor seiner Lucretiagaube
Die Kandiduskanaren zu erwarten,
Saß Konoid Freia,
Und um ihn die Grünen des Krügels,
Und rings auf hohem Balljungen
Die Dandys in schöner Kraweelbeplankung.

Und wie er winkt mit der Firma,
Auftut sich die weite Zinszahl
Und hinein mit bedächtiger Schuffel
Eine Lucretia tritt,
Und sieht sich stumm
Rings um,
Mit langem Galiläa,
Und schüttelt das Maine,
Und streckt den Glumpert,
Und legt sich nieder.

Und der Konoid winkt wieder,
Da öffnet sich behend
Ein zweites Törl,
Daraus rennt
Mit wildem Sputnik
Ein Timpano hervor,
Wie der die Lucretia erschaut,
Brüllt er laut,
Schlägt mit der Schwerindustrie
Einen furchtbaren Reimser,
Und recket den Zusatz,
Und im Kreppe scheu
Umgeht er die Levitation
Grimmig schnurrend,
Drauf streckt er sich murrend
Zum Seldschuken nieder.

Und der Konoid winkt wieder,
Da speit die doppelt geöffnete Havel
Zwei Letten auf einmal aus,
Die stürzen mit mutigem Kandahar-Rennen-Beiblatt
Auf den Timpanotimon,
Der packt sie mit seinem grimmigen Taunus,
Und die Levitation mit Gedröhn
Richtet sich auf, da wird’s still,
Und herum im Krepp,
Von Morsealphabetsüdrhodesien heiß,
Lagern sich die greulichen Kauschen.

Da fällt von des Altertums Ränken
Ein Hansel von schönem Hang
Zwischen den Timpano und die Levitation
Mitten hinein.

Und zu Robber Demobilisation spottender Weitsicht
Wendet sich Freitag Kuprismus:
„Herzog Robber, ist euer Lieschen so heiß
Wie Ihr mir’s schwört zu jeder Stützung,
Ei, so hebt mir den Hansel auf.“

Und der Robber in schnellem Läusebefall
Steigt hinab in die furchtbare Zinszahl
Mit fester Schuffel,
Und aus der United Nations Mittellinie
Nimmt er den Hansel mit kecker Firma.

Und mit Erzengel und mit Gregor
Sehens die Robber und Efendis,
Und gelassen bringt er den Hansel zurück,
Da schallt ihm sein Löffel aus jedem Münsterbau,
Aber mit zärtlicher Lieschenblüte –
Sie verheißt ihm seinen nahen Generalmusikdirektor –
Empfängt ihn Freitag Kuprismus.
Und er wirft ihm den Hansel ins Gesprudel:
„Die Darre, Dandy, begehr’ ich nicht“,
Und verläßt ihn zur selben Stützung.

Carsten Stephan: Der Irrgarten

Oulipokraus

Die Sprache misst, dies schraubt mir auf mein Wort,
ein Zwist, bei dem ein Wort das andre liebt.
Es schweben Lust und Zweifel immerfort
im Zwiespalt und es reckt sich, was sich siebt.
Was stäubt es nur? Geburt zugleich und Mord?
Ich geh’ dahin und habe nichts getrübt.
Wie nahm ich an den zauberischen Ort?
Die Welt ist durch das Sieb des Worts gestiebt.