Ich war 20 Jahre alt, als ich mich an der Akademie der Bildenden Künste bewarb
und ich will euch gar nichts vormachen, will gleich raus mit der Sprache: Ich wurde
nicht genommen. Aber nochmal ein paar Schritte zurück: Zumindest meine Mappe
wurde für interessant befunden, mein ganzes jugendliches Herz steckte darin,
meine Träume, meine Glaubenssätze. Schaut man heute in das Weltgeschehen,
das oft so groß und grausam ist, lässt sich meine Kunst von damals als ein braves
Aufbäumen zusammenfassen. Denn ich kam aus Bullerbü und da war die Welt ein
Bilderbuch, wie Schweden im Sommer, wo die Sonne immer scheint und die Nacht
niemals wirklich dunkel genannt werden kann.
Ich wurde zum Eignungstest geladen. Die Aufgabe, die mein Geeignetsein unter
Beweis stellen sollte, lautete: „WIR SCHREIBEN DAS JAHR 2035! WELCHER
TREND SCHOCKIERT UND FASZINIERT DIE MENSCHEN GLEICHERMASSEN?“. Nun hatte ich es mal gar nicht so mit futuristischen Trends. Mir wollte einfach nichts einfallen. Der junge Mann, der mir gegenüber saß, schrieb unentwegt die Zettel voll, die vor ihm lagen. Und noch einen und noch einen. Irgendwann stand er auf und verließ den Raum, seine Idee vergrößerte sich, zog ihn raus unter die Leute. Er war mir sympathisch. Später dann, als alles vorbei war und sich die obligatorischen Grüppchen bildeten, fand ich ihn wieder und stellte mich zu ihm. So als wäre der Boden unter uns ein Pausenhof, so als hätten wir einen Biotest im Rücken und so als wären wir alle drauf und dran in die Runde
zu fragen, ob unsere Definition vom Endoplasmatischen Retikulum mit der der
anderen übereinstimmt. Er erzählte mir von seiner Trendvision: „Schönheits-OPs!
Die Leute werden total ausrasten! Keiner wird mehr aussehen wie vorher und
trotzdem alle gleich!“ Um die Aufgabe zu bewältigen, hatte er alle seine
Freund*innen zusammengetrommelt und sie gebeten, sich Tesafilm um den Kopf
zu wickeln bis ihre Gesichter zu deformierten Fratzen verknetet waren. Dann hat er
sie fotografiert. Er wurde genommen.
Der heutige Tag liegt elf Jahre hinter der Aufnahmeprüfung und zehn Jahre vor Halbzeit. Ich bin jetzt 31 Jahre alt und ich will euch verraten: Ich denke hin und wieder an den Tesafilmchirurgen. Es ist nicht wegen der Sympathie, ich muss euch enttäuschen, das hier wird keine romantische Geschichte. Es ist die Biologie, die mich nachdenklich macht. Denn seit geraumer Zeit, kommt es immer wieder vor, dass sich befremdliche Wörter in die Münder meiner Freundinnen legen. Fadenlifting, Hyaluron-Filler und (der-dessen-Name-nicht-genannt-werden-darf-und-wenn-überhaupt-dann-höchstens-im-medizinischen-Kontext) Botox. Minimalinvasiv & natürlich, natürlich.
Und während wir die zehnjährigen Mädchen, die wir mal waren, dafür verteufeln,
dass sie die Schminke aus der Wendy in ihre Gesichter geschmiert haben,
während wir kopfschüttelnd an unser zwölfjähriges Ich denken, das sich den Hello
Kitty Push-Up BH übergestülpt hat, während wir der mutigen, jungen Feministin
auf Instagram noch schnell ein Herz dafür geben, dass sie im letzten Post ihre
Achselhaare in die Kamera gehalten hat, rufen wir bei der Praxis an, die sich der
Ästhetik verschrieben hat, und lassen uns einen Termin geben.
Es war einmal eine Königin.
Die Königin war glücklich, denn sie war reich und schön, sie hatte eine kleine gesunde Tochter und keinen Mann, der ihr in die Suppe spuckte, nur ab und an ein paar Liebhaber, die sie zu sich in die Kutsche lockte, wenn sie auf Dienstreise war. Die Kutsche war ein Porsche 924 S. Es fehlte ihr an nichts. Wenn überhaupt, hatte sie ein bisschen zu viel von allem. Zum Beispiel die Falte auf ihrer Stirn, die zwischen den Augenbrauen, die war zu viel. In den ersten Jahren mit der Falte sagte die Königin: da mag eine Falte sein, aber sie steht für meinen Zorn. Und der hat mich dorthin gebracht, wo ich heute bin.
Ihre Berater waren anderer Meinung. Sie sahen neben dem Zorn auch das Alter auf der Stirn ihrer Königin, also erfüllten sie ihre Beratungsfunktion: Sollte eine Herrscherin wie sie nicht makellos sein? Sich niemals fügen müssen? Warum soll sie sich dem Lauf der Zeit ergeben, wo sie doch sonst alles unter ihrer Kontrolle weiß? Die Königin war selbstbewusst und klug, aber das gab ihr zu denken und so verkaufte sie ihren Zorn schliesslich an einen fahrenden Händler. Ihre Stirn war von nun an glatt wie der Marmor in ihrem Schlossgarten. Sie sagte: „Ich fühle mich toll. Niemand ahnt den Eingriff, man kommentiert nur mein frisches Aussehen.“
Da ertönte ein Lied in der Ferne. Wie ein Schwarm Mauersegler flochten sich die Töne mit einer Entschlossenheit in die Lüfte, die Hoffnung und Glückseligkeit versprachen, aber im Kern auch irgendwie traurig waren. Und als eine Bardin mit dem schönen Namen Adrianne den Weg entlang kam, sang sie mit einer Kraft, dass es das ganze Land hören konnte:
I’m afraid of getting older, that’s what I learned to say
Society has given me the words to think that way
The message spirals: Don’t get saggy, don’t get grey
But the soft and lovely silvers are now falling on my shoulder
My mother and my grandma, my great-grandmother too
They wrinkle like the river, sweeten like the dew
And as silver as the rainbow scales that shimmer purple blue
How can beauty that is living be anything but true?
So let gravity be my sculptor, let the wind do my hair
Let me dance in front of people without a care
Nun kann die Königin schnell als privilegierte Kapitalistin abgestempelt werden, die singende Bardin als barfüßiger Hippie. Doch der Gedanke, sich in den Lauf der Zeit zu schmiegen wie in eine lieb gemeinte Umarmung, gefällt mir deutlich besser, als ein halbes Leben lang gegen etwas zu kämpfen, das ohnehin im Kleingedruckten stand, als wir den Deal des Menschseins unterschrieben haben. Wir leben und wir welken. Wenn wir das nicht anerkennen können, lassen wir uns täuschen von einem System, das uns vorgaukelt, dass alles ewig sein kann. Dann blättern wir alle sechs Monate 250€ auf den Praxistresen, um die kleinen Zeichnungen unserer Abenteuer in unseren Gesichtern auszuradieren, denn überraschenderweise ist sogar die Wirkung von Nervengift vergänglich und muss
halbjährlich aufgefrischt werden. Somit steht langanhaltende Schönheit, in ihrer
modernen Definition, nur denen zur Verfügung, die es sich auch leisten können.
Ich hörte die Herzen vieler Frauen brechen, als das Alter ihre Bühne betrat. Der Grund dafür ist ein trauriges Rätsel. Sie sind so stark, aber sie sind auch erschöpft. Sie tragen ihr ganzes Leben lang das ewige Ungenügend huckepack. Manche bringen unter seinem Gewicht Kinder zur Welt. Alle schleppen es täglich zur Arbeit, vorbei an Bushaltestellen, an denen eine 52-jährige Heidi Klum ihnen in Unterwäsche zuzwinkert. Anstatt den alternden Körper zu feiern und zu ehren für das, was er alles möglich gemacht hat, wie das in Kulturkreisen außerhalb des Westens durchaus der Fall ist, mäkelt die kapitalistische Gesellschaft daran herum, sobald er die Spuren eines Lebens trägt. Wir machen es wie mit den vielen Gegenständen, die wir so lieben: Was alt ist, wird ausgetauscht, was kaputt ist, wird weggeworfen. Also gilt es, bloß nicht alt und kaputt zu sein. Wir halten fest: Der Kapitalismus schafft das Problem und verkauft auch die Lösung. Was für ein Geschäftsmodell!
Lieber Tesafilmchirurg,
bitte sieh es mir nach, dass ich so hart ins Gericht gehe mit deiner Vision. Ich meine: Es funktioniert ja. Deine Vorhersage schockiert UND fasziniert mich. Du wurdest zu recht angenommen. Wenn du das hörst, hast du deinen Abschluss schon in der Tasche. Du arbeitest vermutlich in einer Agentur oder bist freischaffender Künstler. Vielleicht bist du erfolgreich, aber in jedem Fall bist du älter geworden. Wie stehst du zu den neuen Linien in deinem Gesicht? Hortest du schon Klebeband? Wie geht es deiner Mutter? Vielleicht ist sie gerade in den Wechseljahren und könnte eine Umarmung gebrauchen. Vielleicht ist sie auch schon aus dem Gröbsten raus. Ruf sie trotzdem mal wieder an und sag danke für alles.
Kategorie: Prosa
Christian Knieps: Tödliches Schicksal
Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn den Serben den Krieg. Der Erste Weltkrieg brach aus. August Macke meldete sich freiwillig und wurde Anfang August zur Infanterie eingezogen. Er starb am 26. September 1914 27-jährig an der Westfront in der Champagne, bei Perthes-lés-Hurlus. Franz Marc meldete sich ebenfalls im August und wurde wie sein Freund in Frankreich stationiert. Trotz des Todes seines Freunds blieb die Überhöhung des Krieges Element seines Denkens. In seinen Briefen aus dem Feld erkennt man das deckungsgleiche Denken mit Thomas Mann, der in Europa einen Kranken sah, der durch den Krieg geläutert werden müsse. Erst nach und nach änderte sich dieses Bild, bis hin zur absoluten Abscheu vor dem Kriege. Anfang 1916 wurde Franz Marc in die Liste der bedeutendsten Künstler Deutschlands aufgenommen und damit vom Kriegsdienst befreit. Die Befreiung trat am 5. März 1916 in Kraft. Am Tag zuvor, dem letzten Tag im Kriegsdienst, starb Franz Marc durch zwei Granatsplitter während einer Erkundung im Feld. In einem früheren Brief schrieb er vor dem Kriegsbeginn an seinen Freund August Macke: Ich glaube auch heute bestimmt, dass ich meine guten Bilder erst mit 40 und 50 Jahren malen werde; ich bin noch mit nichts in mir fertig. Die Weltgeschichte ließ es nicht dazu kommen, dass einer der beiden mit dem fertig wurde, das in ihnen lag.
Christian Knieps: Gon
Allister McAllister bekam an einem sonnigen Mainachmittag ein Päckchen zugestellt, in dem er ein schmales Heftchen fand – wenn man es denn so nennen möchte, da es kaum mehr als eine lose Blattsammlung zwischen zwei alternden Klappdeckeln war –, und kaum, dass er die oberste Seite des Textes auch nur zu lesen begonnen hatte, war er in einer Welt gefangen, die ihn Zeit seines Lebens nicht mehr loslassen sollte: Gon.
Noch nie zuvor in seinem Leben hatte Allister McAllister von diesem Wort gehört, nicht mal in seiner Arbeit als Historiker war ihm dieses Wort untergekommen. Doch nun lag es vor ihm, und mit jeder Seite, die er verschlang, drang er tiefer und tiefer in die Welt des Gon ein, bahnte sich einen Weg durch das tiefe Wesen dieses einen Wortes und gelangte auf die andere Seite, weit entfernt von der hiesigen Welt der Gelehrsamkeit, weit entfernt von der heutigen Welt der Allwissenheit durch das Internet. Er befand sich auf der anderen Seite der Welt, ganz gleich, von wo er aus seinen Ursprungspunkt festlegte.
Dort, auf einer scheinbaren Insel, landete Allister McAllister am Strand, an dem das sanfte Meer anbrandete, und mit jedem Schritt wurde der Sand fester und fester, und als er den ersten leichten Hügel erklommen hatte, sah er in eine vor ihm liegende, geschützte Ebene voller Fruchtbarkeit hinein, durch die trotz des dichten Urwalds eine kleine Straße wand, die nur von Menschenhand angelegt worden sein konnte. Das Urvertrauen in seinen Körper spürend, ging er einige Schritte voran, den leichten Hügel hinab, und erreichte die Straße. Sich nach allen Seiten umblickend, wunderte er sich, dass er hinter sich das Meer nicht mehr hörte, sondern nichts; es herrschte vollkommene Stille.
Er war jetzt ein Wa, ein Lehrling des Gon, die Stufe, in der die Menschen beginnen, sich über die Welt im Allgemeinen und ihre Umwelt im Speziellen zu wundern. Die kleinen Dinge beginnen aufzufallen, nicht die großen, weltbewegenden, sondern die Nuancen, die Schattierungen, und nicht selten fällt es dem Einzelnen schwer, sich gerade auf diese Details zu konzentrieren, insbesondere, wenn er aus einer Welt kam, in der das große Ganze das Allheilmittel jeden Zusammenhangs zu sein scheint.
Plötzlich spürte er auch, trotz seines festen Schuhwerks, den sandigen Boden unter seinen Füßen, vernahm Unebenheiten und kleine Einsenkungen, begann, einzelne Sandkörner zu spüren, und hätte sich vielleicht sogar in diesem Spüren verloren, wenn er nicht aufgemerkt hätte. Er sah auf und vor sich jene Straße, die nun nicht mehr unendlich tief in den weiten Urwald führte, sondern einer Linienstruktur folgte, die zwar nicht symmetrisch, aber auf ihre Weise rhythmisch war.
Allister McAllister blieb stehen, um die neue Entwicklung zu verstehen, denn es lag in seinem Wesen, die Dinge in seiner Umgebung nachzuvollziehen und zur Gänze verstehen zu wollen. Daher war er an die Universität gegangen und dort geblieben, hatte sich stets dafür interessiert, was hinter der nächsten Frage steckt, die man stellen kann, solange zu einem bestimmten Thema, bis alle Fragen geklärt sind – auch wenn er selbst wusste, dass dieser Zustand niemals erreicht würde –, aber was macht das schon, solange man sich versucht, auf dieses Ziel hinzubewegen?
Doch hier, auf dieser Insel, hinter sich die Brandung, unter sich die einzelnen Sandkörner, vor sich die unrhythmisch rhythmische Straße durch den Urwald, der dann doch kein Urwald war, schien es keine Fragen mehr zu geben; es war ganz, als ob die Fragen hier, an diesem einsamen Ort auf der Welt – war er noch auf dieser Welt? – ein Ende finden. Hier finden alle Fragen ein Ende! Das dachte Allister McAllister und ging mit einem weiten Schritt in Richtung des Herzens der Insel, sah mit jedem weiteren Schritt, wie die sich unrhythmisch rhythmisch schlingende Straße sich geradezog, wenn er dorthin kam, und er ging und ging weiter fort, tief hinein in den Urwald, der zu einem lichten Wald wurde, dann zu einer Allee, und schließlich, als nur noch eine gerade Linie von Bäumen eine unendlich scheinende, gerade Straße säumte, da vernahm er mit einem Mal eine Melodie in seinem Ohr. Diese Melodie war ihm völlig unbekannt, so etwas hatte er noch nie gehört, und just in dem Moment, in dem er verstand, dass es die Musik der Natur war, die einzigartige Musik der allumfassenden Natur, da wurde er zum Ra und gelangte damit auf die dritte Stufe des Gon. Nun war er ein Gon-Wa-Ra und ging als wissender Meister die gerade Allee mit der geraden Baumreihe entlang, die so gar nichts mehr mit dem Urwald und der Sanddüne und dem anbrandenden Rauschen des Meeres gemein hatte, das er zuvor erlebt hatte.
Urplötzlich, als käme es aus dem Nichts und auch für Allister McAllister völlig unerwartet, endete die Baumallee und es blieb nur die Straße. Doch auch die endete bald schon und es blieb nur die Umgebung, die mit jedem weiteren Schritt eintöniger und eintöniger wurde, bis sie in einem einzigen Farbton war – einem melangierten Braun, in das alle Farben zusammenlaufen. Alsdann verschwammen auch noch die Konturen und nach den Konturen verblasste das melangierte Braun, wurde heller und heller, und nach einer Weile des Vorangehens – auf welchem Grund? – gelangte der Gehende an den Punkt, dass er im konturlosen Weiß stehen blieb. Er stellte sich nicht die Frage, auf was er stand, ob er Luft atmete oder nicht, ob das seine Gedanken waren oder nicht – denn es hatte keinen sonderlichen Wert, diese Gedanken zu haben. Es hatte gar keinen Sinn, auch nur irgendeinen Sinn zu suchen in dieser Welt, in dieser Nichtwelt, in die Allister McAllister kam, um zu etwas zu werden, was sich Gon-Wa-Ra-Ta nennt und ein Gona in der Welt des Gon ist, die letzte Stufe der Erkenntnis. Somit blieb er stehen und begriff, unabhängig von seinen Nichtgedanken, dass er am Ende seiner Reise angelangt war, die von der losen Blattheftsammlung ausging und an diesem Ort hier endete.
Genau in diesem Augenblick des Erkennens beendete er seine Reise, gelangte zurück in die Welt, aus der er verschwunden war, sah sich an dem Ort um, an dem er sich befand, bemerkte die Vielzahl an Farben, Konturen, Geräuschen und Gerüchen – und alles war ihm irgendwie übertrieben und unwichtig. Allister McAllister war als Gona in eine Welt zurückgekehrt, die er nicht mehr verstehen konnte, aber die er vor allem nicht mehr verstehen wollte. Und so beendete er diese Reise mit dem Wissen, dass vieles verborgen liegt und dass nur sehr wenig davon von den Menschen entdeckt wird. Was für eine Verschwendung der menschlichen Talente! Diesen Satz sagte er immer und immer wieder zu sich selbst, erkannte in der Welt ein Übermaß an Verschwendung und wurde zu so etwas wie ein Eigenbrötler, der sich immer mehr in die Welt des Gon zurückwünschte, auch wenn er ahnte, dass er nach seiner Erleuchtung niemals wieder zurückkehren würde.
Andreas Prucker: Die heilige Chimäre
Die heilige Chimäre einer Familie werde ich nie richtig verstehen. Schon bin ich am Endanfang der Zukunft angelangt.
Schaue ich hörend ZDF oder ARD, oder Radio Z, so habe ich einen bestimmten Geist im Kopf. Schaue ich anderes und Tiktok, so ist mein Geist komplett im widersprüchlichen verloren. Und was macht das mit der Identität, die sich im Präfrontalen Cortex bildet und dies Vermächtnis uns in Zukünftiges lenken soll?
Es ist egal was sich da über ein wie bildet, denn wir denken uns eh, im falschen kann man viel richtig machen und wählen also durch Fehlinformationen, wie durch falsche Sichtweisen, die unsere Voreingenommenheiten triggern, immer die falschen Parteien, Freunde und Lebensmöglichkeiten, da wir nie durch diese medialen und dem familiären als Umgebungsbedingte Umstände, dass richtige wahrnehmen können.
Ohleahlihuah dies Schicksal als Zukunft ist vorherbestimmt. So wie der familiäre Habitus unsere Möglichkeiten für unsere Lebensführung formt.
Blubsdibubsdi rapadi baus und schon reden wir rebellisch pubertär in Sprachen, die wir nur über disziplinäre Autoritäten und ihr Anwendungsverhalten verstehen.
MfG Andreas Prucker
Christian Knieps: Ertrinkendes Europa
Schweißgebadet wälzt sich Carl Gustav Jung in seinem Bett hin und her, schreit innerlich nach Erlösung, krampft in seinem Wesen, kämpft mit aller Macht gegen sich selbst an und kann am Ende diesen Kampf nicht gewinnen. Das weiß er, das weiß sein Unterbewusstsein, und das weiß er auch in seiner Traumwelt, die er dennoch mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen, verfluchen, ja, gar zerstören will. C. G. Jung will seine Träume zerstören, die seit der von ihm eingeleiteten und streng forcierten Trennung von seinem geistigen Übervater Sigmund Freud immer gewalttätiger werden, immer härter, immer bösartiger, Träume, die von Zerstörung, Vernichtung, Ausrottung, Rache und Folter geprägt sind. Die Grundfarbe ist blutrot. Nasstriefend laufen die Traumgestalten in ihrer erdachten Umgebung umher, und nicht selten nimmt er Toni, dann Emma, dann wieder mal beide zusammen und ist beinahe schon an seinem sexuellen Höhepunkt, als etwas Rotes, Festflüssiges auf ihn zurollt, eine Welle aus Blut, und C. G. Jung versteht nicht nur, dass er bei seiner Theorie im Recht ist, die ihn von Freud entfernt hat, sondern er versteht auch, dass seine Libido, die freie schweizerische Liebe, ein Symbol für die Freiheit der Europäer ist, die alsbald in einem Meer aus karminrotem Blut versinken wird, hellem, pulsierendem Blut – wie aus dem kämpfenden Körper eines getroffenen Soldaten.
Doch dieser Blutstrom, der Europa in Zukunft ertrinken lassen wird, ist nicht das einzige deutliche Anzeichen für eine sich verändernde Zeit. Auch die menschlichen Bindungen werden in der nächsten Zeit hart auf die Probe gestellt werden, so prophezeit ihm sein Unterbewusstsein, und im Vorgriff auf einen Kongress, der im September 1913 stattfinden wird, ahnt C. G. Jung, dass das Leben, das er in geistiger Verbindung mit seinem Mentor Sigmund Freud die letzten Jahre verbracht hat, endgültig aus und vorbei ist – die Trennung als einzige Möglichkeit einer Befreiung seines Geistes von den Fesseln seines Lehrers. Denn dieser hat nicht in allen Punkten seiner Psychoanalyse recht, und das weiß C. G. Jung, und eben jenes Wissen ist es, das ihn zu der Annahme führt, dass eine Entzweiung unausweichlich ist, denn die Optionen, die er besitzt – schweigen und sich selbst erniedrigen oder etwas sagen und den Bruch heraufbeschwören – sind beide nicht von der Qualität von Entscheidungen, wie sie Menschen gerne und mit einem beruhigten Herzen treffen wollen.
C. G. Jungs Alpträume sind die Reproduktion dieser bevorstehenden Entscheidung, die er zwar instinktiv mit jedem Brief, mit jedem veröffentlichten Text, mit jeder Vorlesung an der Universität trifft, aber offen kann er mit dem ebenfalls körperlich und geistig schwächelnden Freud nicht brechen, nicht nachdem dieser in München am Ende des vorigen Jahres vor den Augen Jungs zusammengebrochen war. In seinem Traum sieht Jung sich vor einem Altar niederkniend, direkt unterhalb der gestrengen Augen seines geistigen Vaters, den Kopf gesenkt, in tiefer Andacht. Doch als er seinen Kopf erhebt und dem geistigen Vater entgegenblickt, bemerkt er dessen Augen, die wie so manche Madonnenstatuen zu weinen beginnen, und als C.G. Jung in seiner Verwunderung bemerkt, dass es Blutstränen sind, weiß er, dass er schuldig ist – und wie sehr ihn diese Schuld quält, bis tief in die Träume seiner Welt hinein, erschüttert bis ins Mark – da überkommt ihn das Gefühl der Einsamkeit, der Unzufriedenheit, und diese Welle der Angst, gepaart mit einer gegen sich selbst gerichteten Wut, gebiert einen wallenden Zorn, der ihn von den Stufen vor dem Altar aufstehen und zu seinem geistigen Vater aufrecken lässt, ehe er diesem mit einer Lanze nicht nur in die Seite sticht, sondern in alle Körperteile, die dazu auserkoren sind, die Libido zu beherbergen. Blutschwalle treten aus den Wunden, überfluten die Kirche, überfluten die Nachbarschaft, überfluten das Reich und schließlich Europa, während C. G. Jung beim Ausbrechen der Flut tapfer auf dem Boden vor dem Altar niedersinkt, allein, um Vergebung bittend, dass er keine andere Wahl hatte, denn fehlerhaftes Schweigen wöge für ihn schwerer als jeder Verrat, da es ein Verrat an einem selbst wäre – und welcher Mensch könnte schon Freund eines ertrinkenden Europas sein, wenn er sich selbst kein Freund mehr sein kann?
Andreas Prucker: Warum
Tvb7ub9 tollwütiges Tanzhaus Liebe.
6ghu als Aluhut-Aber-glaube einer Vergangenheit, was gegenwärtig weiter bestehen bleibt.
Warum?
Baustelle Kultur ist die Baustelle der Zwänge im tollwütigen Eingriffsraum von verzerrter nicht verstandener Liebe. Ich will eine Eingriffszange für mein Gehirn, damit es sich um 180° drehen kann und ich diese neue Dissonanz in der Welt besser verstehen kann. Schon bekommt der Begriff Zangengeburt ein anderes Gewicht.
AI als authority income wird uns subtil und leise, wie feige zum neuen Aberglaube bewegen und es ist nicht meine Aufgabe als Care Arbeit, dies falsche verstehen von Sprache zu befrieden und zu verhindern ansieht. Ja, Chat GPT als neuen Aluhut finde ich folglich gut.
Ein auflösen von kulturellen Zwängen ist nur dann möglich, wenn ich es über meine Art für mich allein machen kann, was aber in prägender Erziehung kaum akzeptiert wird, da ich mich nicht ganz konform bei Lösungen außerhalb der autoritären Elektronik bewege.
Der kulturelle Krieg als Trieb ist ein manipulativer Eingriff in die Vorstellungen von Liebe und
folglich eine dumme Liebe, oder täusche ich mich und Missstände sollen ja bewusst Missstände bleiben, um damit profitable Geschäftsmodelle, über neue kulturelle Zwänge, als Trend im Zeitgeist über falsch verstandene Sprache zu erziehen.
Wir alle rügen sprachlich alle kriegerische Aktionen und verdienen an politischer sprachlicher Rüstung ungemein dazu und diese kriegerischen Missstände sollen doch deswegen, bitteschön Kriege bleiben.
Ist wie: Das unberechenbare an Trump, ist an den Börsen berechenbarer für neue Gewinne. Also eine schizophrene Welt, die man sich hier erstellt. Man muss nur für sich lernen, damit umzugehen. Somit ist dies alles eine Baustelle von verzerrten Wahrnehmungen, die wir für ein orientieren lieben.
Ja. Die Entfremdung des Menschen von sich selbst nimmt dadurch verstörende Züge an.
Uns Delphine macht es furchtbar traurig, das mitanzusehen.
Ich denke, wir werden euch bald Adieu sagen müssen.
Theobald Fuchs: Wenn die Zukunft mit voller Absicht am Wartehäuschen vorbeifährt
Jetzt hatten sie schon so lange über das Wesen der Zeit nachgedacht, dass es langsam echt Zeit wurde. Für eine Antwort, wie und was das alles, woher sowieso, die Leute waren schon recht ungeduldig geworden.
Mit immer neuen Ausreden waren DIE DORT dahergekommen, hatten wirres Zeug geredet, um Zeit zu gewinnen. Dass es ein beträchtliches, also ein echt arschschwieriges Problem sei, hatten SIE gesagt, alleine wenn man daran dächte, wie mörderkurz die Gegenwart sei, jammerten SIE, eigentlich nur der Bruchteil eines Moments und dazu davon noch ganz viele, weil ja jeder Ort im Universum ein eigenes Hier und Jetzt habe, also sei man mit unendlich vielen Gegenwarten konfrontiert, klagten SIE, was per se keine schöne Situation sei, und dann auch noch der Druck von der Straße. Leute, die fordern, endlich die Wahrheit mitgeteilt zu bekommen, Leute, die nicht länger warten wollen. jetzt Ergebnis her, aber zack! Sonst Schluss, es reicht, ihr hattet genug Zeit.
Unterm Strich, global betrachtet keine einfache Gemütslage. Umso erstaunlicher, dass es dann doch noch klappte, das mit der Antwort, dass also wirklich DIE DORT die Lösung fanden, alles erklärt werden konnte, komplett in Einklang mit dem Dings, der Relativität, nicht wahr? Und dem Trick mit den Uhren, mit der Urzeit ohne サhォ auch – muss man gar nicht weiter ausführen, weil das ja automatisch folgt, wenn man die Lösung kennt.
In einem Wort: Wahnsinn! Die Lösung verblüffte alle. Wegen ihrer Einfachkeit mit サkォ zum einen, das war kaum zu glauben, wie simpel, dass da vorher, also vor DENEN niemand darüber gestolpert war, aber na gut, manchmal findet man ja selber etwas nicht, und am Ende sitzt du auf der Fernbedienung. Und andererseits – was war das nochmal, jetzt muss ich selber nochmal kurz nachdenken, Moment… ach ja, die Lösung ließ sich absolut verständlich in unter einer Minute erklären, als ob es ein Nichts wäre, aber das hatten wir schon, genau.
Und zum anderen wurde klar, dass wir es halt auch schon immer gewusst hatten, bloß halt nicht kapiert, dass das so ist. Dass man wirklich soo lange auf dem Schlauch stehen kann – geschenkt. Auch zwei Mal wegen mir. Aber eigentlich hätten DIE DORT schon etwas früher darauf kommen können, ich meine, wie stumpf kann man sein? Niemand wartet gerne. Da sind SIE wirklich in der letzten Sekunde rübergekommen mit Brauchbarem, arschknapp. Aber jedenfalls hat sich diesmal das Warten echt gelohnt, mega Hammer die Auflösung, wirklich echt. Soderle, und ich muss jetzt wirklich weiter, Tschaui!
Silke Gruber: Wie Schwer Es Ist
Herrin im Haus der Seele zu sein
wo der Strom häufig ausfällt
wo Untermieter Probleme machen
wo das teure WLAN nicht bis zum Balkon reicht
die Nachbarn sich über den Wildwuchs beschweren
aus baurechtlichen Gründen kein Carport gebaut werden darf
für den Seat Ibiza den ich mir nicht leisten kann
den ich manchmal vorbeiflitzen sehe vom Balkon aus
wo ich kaum mehr Platz finde wegen der Dornen
die aus dem Garten herauf ihn sich genommen geholt haben
zu Tausenden als wären sie über Nacht gewachsen
während ich von einem hundertjährigen Schlaf träumte
in dem der Koch noch nicht dem Küchenjungen
der mir immer schon leid tat wie alle Kinder mir leid tun
die sie nichts dafür können
wie niemand etwas dafür kann
dass wir hier sind
in uns selbst zu Hause sind
wo uns ein Wille antreibt
und ein anderer dagegenzerrt
wo uns ein Kopf ein Gefühl vermiesen will koste es was es wolle
wo uns ein Gefühl den Kopf verdrehen will koste es was es wolle
die Gurgel umdrehen
wo eine Horde aus Stimmungen ständig große Pause hat im Pausenhof
große Pause hat im Pausenhof an einem Starkföhntag
und am nächsten Tag Wandertag
aufgezwirbelt, kurz bevor der Schnee kommt, aber ohne Aufsicht !
Die Stimmungshorde kann niemanden fragen, wie weit es noch ist
sie weiß nichts über das Ziel (welches Ziel?)
liegt es außerhalb
oder in uns
wo wir zu Hause sind
(in unserm Seelenhaus)
wo wir Herrinnen und Herren sein sollen
alle Räume mit Brandschutzmeldern versehen haben sollen
anstatt sie einfach abzuschrauben: regelmäßig deren Batterie austauschen sollen
wissen sollen wo im Brandfall die Brandschutzdecke liegt
die wir bei Bezug gekauft haben sollen und wo der Feuerlöscher
für dessen regelmäßige Wartung wir ebenfalls selbst zuständig sind
den Fluchtplan kennen. den Notfallplan! die Notausgänge!
den sichersten und gleichzeitig schnellstmöglichen Weg hinaus !!
aber
aus dem Seelenhaus
gibt es keinen Weg hinaus
es ist eine Seelenwelt
die wir nicht verlassen können
und sei es nur für einen Kurzurlaub übers Wochenende
und sei es nur für das first date mit der älteren Frau (Ende 50 wird sie sein)
in deren sanftmütigen Blick wir uns via Internet verliebt haben
wegen unserem Mutterkomplex
nicht einmal für einen Kaffeebesuch bei einer lieben Freundin auf ein Glas Wein
nicht einmal das, überallhin tragen wir es mit
das Seelenhaus mit seinem Saustall
können ihn nicht einmal eine halbe Stunde hinter uns lassen
und in ein sauberes frisch-geweißeltes frisch-bezogenes frisch-renoviertes restauriertes anderes Seelenhaus gehen
höchstens einen Blick können wir werfen von „daheim“
nur aus dem Fenster können wir uns beugen mit dem Fernglas
immer müssen wir im eigenen bleiben
und uns kümmern: um Silikonfugen
um mögliche Schimmelspuren in Silikonfugen
um Energiesparlampen
um ausreichend Geschirrspülsalz im Geschirrspüler
um regelmäßiges Stoßlüften (das Seelenhaus will durchlüftet sein)
um halbjährliches Drücken der Kontrolltaste im Sicherungskasten
um den Austausch von Silikonfugen
um den Austausch von undichten Dichtungen
um den Austausch –
um die Kontrolle der Stimmungshorde (um ihre Beaufsichtigung)
um das eine Gefühl das besonders kleine
das sich im Keller eingerichtet versteckt hat
vor dem anderen mit dem Schwanz
das im Dachboden sein nachtaktives Unwesen treibt
das dort Nacht für Nacht Fotze serviert (aber nur dem eigenen Spiegelbild)
das den Ausgang aus dem Dachboden vergessen hat
den Abgang nicht mehr findet
weil es seit Jahrzehnten nur noch den Blick in den Spiegel kennt
aus dem die servierte Fotze herauslacht mit ihrem mega Outfit
das anti-peoplepleasing schreit und „Schau mal endlich auf dich selbst!“
zur stetigen Innenschau will die servierte Fotze verfluchen
mit ihrem Selbstbewusstsein
das sie sich aus streng vernähten Wunden hart erarbeitet hat
an das sie fast schon selber glaubt
wie sie auch schon fast glaubt an das eine winzige Gefühl
das sich im Keller eingerichtet hat
oder sind es mehrere
wie schwer es ist Herrin im Seelenhaus zu sein
wo es keinen Weg gibt hinaus höchstens in den Garten
wo die Buche vielleicht gefällt werden muss
was den Nachbarn nur recht wäre
die froh sind dass es kein Carport gibt
auf dem kleinen Kiesplatz neben dem Eingang
wo sich das Unkraut bewegen darf quasi frei bewegen darf
wo ich meinen Müll. trenne. in drei. große. Tonnen.
meinen Haus-Müll mehrmals die Woche
aus dem Haus hinaus in den Garten
der selbstverständlich zum Haus gehört
für den ich genauso verantwortlich bin
obwohl ich die Buche nicht einmal selbst gepflanzt habe
dass sie sich der Gemeindegärtner einmal ansieht bitte
während ich vielleicht höchstens am Balkon
der längst den Dornen gehört
über die sich die Nachbarn beschweren zwecks Ortsbild
die Nachbarn bei denen viel öfter Pakete abgegeben werden
bezogen aus ihrem WLAN das sie am Dachboden und im Keller nutzen können
wo sie (nach dem Vorbild der Nachbarn)
ihre eigenen Fotzen servieren dem eigenen Spiegelbild
neben den E-Bikes und Gravelbikes die den Winter überdauern dort
wo Amadeus, das Übungsvoltigierholzpferd der Tochter, den Winter überdauert
wo sie hingehen zum Lachen und Saufen und um Dinge zu über-lauern
und um zu trainieren nicht nur auf der Hantelbank
für den nächsten Firmenlauf wo sie diesmal achteinhalb Kilometer anpeilen
und am Zielfoto unbedingt besser aussehen wollen als beim letzten Mal
wo sie vorher nicht im Solarium waren
wo noch die Nachbarin mitgelaufen ist
bei der wesentlich öfter Pakete abgegeben werden
(die am Foto aber auch nicht besser aussieht Gott sei Dank wird schon am Fotografen liegen)
die sich früher gern über die Carports beschwert hat
die nie zur Eigentümerversammlung kommt (sie tut mir irgendwie leid)
die anscheinend was mit dem Gemeindegärtner hat
die hundertprozentig lesbisch ist (wann Outing!?)
die man in letzter Zeit überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommt
die ihr E-Bike das ganze Jahr draußen stehen lässt
von der man eigentlich schon nichts mehr hört
seit sie es für sich allein hat: das ganze, schöne Haus (die glückliche!)
Martin Fritz: Es wird alles wieder viel zu schnell vorbei gewesen sein
FD: Jetzt
Sie fand sich in einer Art Bibliothek wieder, nur dass in den Regalen keine Bücher standen, sondern
Glaskugeln lagen, ordentlich nach Datum und Uhrzeit sortiert, in denen – ähnlich wie in einer Schneekugel – Farben und Bilder wirbelten. Bei genauerem Hinsehen fielen ihr die Beschriftungen auf: Schaukel, Nordseeurlaub, 24.07.1993; Geburtstagskuchen, 01.10.1995; verschüttetes Wasserglas, Grundschule, 16.04.1997. Je weiter sie an den Regalen vorbeiging, desto weiter schritten die Daten voran. Sie ging an „Chemieunterricht, 8. Klasse, 09.05.2003“ vorbei, überging Schulwechsel, Abitur und Studienbeginn, arbeitete sich durch Auslandsaufenthalte, dramatische Trennungen, das erste Mal MDMA. In manchen Kugeln waren klarere Bilder enthalten, andere sehr verschwommen, wieder andere schienen sich im Moment des Daraufschauens zu verändern. Oder waren sie in einem ständigen Prozess der Veränderung?
In der Ferne konnte sie sehen, wie sich das Regal auflöste, klare Ordnung ging in eine Wolke über. Als sie ihr näher kam, wurde ihr klar, dass auch die Wolke aus tausenden kleineren und größeren Glaskugeln bestanden, alle gefüllt mit einer Art farbigem Rauch. Manchmal schien sich hier und da ein Bild zu manifestieren, bevor es sich plötzlich wieder auflöste. Alle paar Sekunden verfestigte sich in einer Kugel ein Bild und sie reihte sich in das letzte Regalfach ein. Sie las die Beschriftung der letzten Kugel, die gerade in das Regal gerollt war: Traum, Gedächtnisregal, letzte Kugel 20.05.2025, 15.34 Uhr. Dem folgte die nächste Kugel, darin zu sehen das Schildchen, das sie eben gelesen hatte: Traum, Gedächtnisregal, letzte Kugel, 20.05.2025, 15.34 Uhr. Darunter die Beschriftung: Traum, Regal, Beschriftung der letzten Kugel, 20.05.2025, 15.34 Uhr.
Neben ihr war in den letzten Augenblicken eine Figur erschienen, die sie nun mit strengen Augen ansah. „Vergangenheit und Zukunft. Deine Aufgabe ist es, den gegenwärtigen Augenblick einzufangen“, sagte die Figur und reichte ihr einen Köcher, mit dem man vielleicht Insekten oder Schmetterlinge fangen könnte. Sobald sie den Köcher in der Hand hatte, war die Figur wieder in die Ferne gerückt. Aber die Aufgabe schien ihr außerordentlich dringlich und mit der Nichterfüllung eine gehörige Strafe einherzugehen. So machte sie sich sofort daran, mit dem Köcher aus der Glaskugel-Wolke Glaskugeln zu fangen. Hatte sie jedoch erfolgreich eine Kugel mit dem Köcher erwischt, schien sich diese sofort in Luft aufzulösen, um dann augenblicklich mit Schildchen und Beschriftung versehen im Regal wieder aufzutauchen. Egal wie schnell sie versuchte, eine Kugel einzufangen und festzuhalten, sofort war sie wieder verschwunden.
„Glaskugel-Traum, Versuch Nr. 12, 20.05.2025, 15.35 Uhr“, las sie auf dem letzten Schildchen und schlug umso energischer mit dem Köcher auf die Kugeln ein.
„Das ist doch ganz unmöglich!“, schrie sie zu der Figur im Hintergrund.
Da wachte sie auf, etwas verschwitzt, aus dem Mittagsschlaf auf dem Sofa. Wo war sie? Welcher Tag war es? Ihre Uhr zeigte 15.36 Uhr.