Kategorie: Prosa
Margret Bernreuther: Der Fächer mit dem Pandabären
Jeden Morgen, wenn ich die Wohnung verlasse entdecke ich unten auf der Ablage bei den Briefkästen neue Figürchen oder andere Haushaltsgegenstände.
Oft sind es kitschige aber nicht besonders hochwertige Porzellanfiguren. Manchmal ein Gewürzglasrondell. Gestern stand ein Kochbuch zur Anleitung für fettreduzierte Ernährung dort.
All diese Gegenstände sind sehr bunt zusammengewürfelt. So war neulich auch mal ein aufwendig bestickter Fächer in einer mit Stoff bezogen Schachtel dort zu finden. Auf dem Fächer zwei Pandabären, die unter einem blühenden Kirschbaum spielen. Die Kiste mit goldenen und roten Stoff besponnen. Auf den ersten Blick, insgesamt ein hübsches Ding, aber trotzdem konnte die Verpackung und Gestaltung dieses Fächers, dennoch nicht die mangelnde Wertigkeit der
Sache verbergen.
Es wirkte bei genaueren hinschauen eher wie ein Gegenstand aus einem günstigen Souvenirladen gar einem AsiaShop aus der Innenstadt, bei dem neben der Tütensuppe und den Gewürzsoßen, das ein oder andere Handwerkszeug verscherbelt wird.
So wie all die Dinge die dort bei uns auf der Ablage landen, stellen keinen kostspieligen, aber im ganzen doch vielleicht, ideellen Wert dar.
Hinunter stellen tut sie unser Nachbar. Da bin ich mir sehr sicher.
Ich habe ihn zwar noch nie direkt dabei erwischt. Aber da wir ansonsten ein sehr junges Haus haben, bin ich mir sicher, dass die Gegenstände aus seiner Wohnung stammen.
Herr Schag wohnt im Stock über uns. Er ist über 80 Jahre alt und ist derjenige, der schon immer hier gewohnt hat.
Unzählige WGs und junge Menschen hat er schon ein und ausziehen erlebt.
Die früher noch regelmäßigen Hoffeste hat er immer wohlwollend vom Balkon aus mit erlebt, konnte sich aber trotz mehrmaligen einladen, nie dazu aufraffen zu uns hinunterzukommen.
Zusammen mit seiner Frau standen sie dann also manchmal für längere Zeit am Balkon und schauten sich an, was da so alles los war in unserem Hof.
Noch nie gab es auch nur eine Beschwerde, wenn eine Feier länger dauerte, oder gar das Aufräumen am nächsten Tag allen beteiligten sehr schwerfiel und es sich bis in die kommende Woche hineinzog, das alles wieder an Ort und Stelle war.
Mit der Zeit und mit den Jahren ließ aber auch die Anteilnahme vom Balkon aus immer stärker nach.
Seiner Frau ging es nicht mehr so gut. Sie wurde dement und ihr gemeinsames Konstrukt fing an zu bröckeln. Wir im Haus hatten schon einiges an Erfahrung mit dementen Bewohnerinnen.
In der Wohnung nebenan wohnte eine italienische Nona, die trotz hochgradiger Demenz noch bis ins hohe Alter in Schlappen auf ihrer Vespa zum Einkaufen gefahren ist. Manchmal hat sie sich verfahren und dann gab es wieder große Sorge und die Kinder haben sie mit uns zusammen gesucht.
Irgendwann wurde den Kindern klar, daß sie ihre Mutter nicht mehr in unserer Verantwortung lassen können. Und sie ist, vermutlich zum sterben nach Italien gebracht worden.
Frau Schag die freundliche Nachbarin, ereilte kein so schönes Schicksal. Ihr Mann versuchte es eine Zeit lang damit, sie einzusperren. Aber nachdem sie auch in der Wohnung dann Dinge nicht mehr so hinterlassen hat, wie er es gewohnt war und man sich nicht mehr darauf verlassen konnte, dass sie das Essen richtig kocht und überhaupt die Dnige tut, wozu man doch so eine Frau hat, hat Herr Schag sie ins Altenheim gebracht. Ich verwende seine Worte.
Ich weiß nicht wie viel Liebe da jemals im Spiel war. Und auffällig fand ich es schon immer, dass wir noch nie eines der 3 Kinder bei uns im Haus angetroffen haben.
Dieses alte Pärchen, deren Leben nach Erzählungen von Frau Schag nur aus Arbeit bestand. Ich kann nicht beurteilen, ob sie glücklich waren oder nicht. Und noch weniger kann ich die Dinge beurteilen, die Herr Schaag nun langsam aus der Wohnung räumt.
Für ihn anscheinend wertlose Dinge, die seiner Frau gehören.
Sie wird nicht wieder zurückkommen und er hat keine Verwendung dafür. Aber direkt in die Mülltonne werfen möchte er sie auch nicht. Dafür hängt vielleicht der Geist seiner Frau zu sehr an diesen Dingen.
So machen sie vielleicht nochmal eine Zwischenstation. In einer der WG’s. Oder so wie bei uns. Der kleine Fächer mit den spielenden Pandabären.
Würde Herr Schaag in anstatt ihn zu verschenken, seiner Frau ins Altenheim mitbringen, würde sie sich vielleicht an die Reise nach China erinnern, die sie vermutlich nie gemacht haben.
Katrin Rauch: Warum Potemkin keine Romane hätte schreiben sollen
oder:
lest mich als buch
und reißt mich in seiten
vielleicht bin ich auch gar nicht
manuel neuer
Ich bin gekommen, um euch die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, die komplette, ungeschönte Wahrheit, lücken- und schonungslos, full disclosure, volle transparenz in my opinion to be honest. Es wird nichts vage und keine Antworten schuldig geblieben, keine Fragen offen gelassen sein und werden, kein Zweifel soll auf- … Ich bin gekommen und als offenes Buch will ich gehen, was sag‘ ich, als loser Stapel Zettel, Fetzen, Phrasen, Buchstaben. Ich werde mich komplett auseinandernehmen und ihr dürft mich nach Lust und Belieben wieder zusammensetzen, vielleicht ja:
Ja, vielleicht ja zu jemandem, was einen Hund besitzt, seit Neuestem erst, und leicht überfordert ist damit, aber das Internet weiß zum Glück, wie oft man einen Bernhardiner füttern muss am Tag und womit überhaupt. Das Internet weiß viel zu viel darüber, wie oft man einen Bernhardiner füttern muss am Tag und womit überhaupt. Vielleicht bin ich jemand, was jetzt ein bisschen enttäuscht ist, weil der Bernhardiner nicht so flauschig ist, wie er bei Heidi ausgesehen hat, oder, weil ein Bernhardiner nicht in einer Stadtwohnung wohnen kann und weil ein Chihuahua ein schlechter Ersatz ist für einen Bernhardiner, vielleicht hasse ich Hunde auch. Allein wie sie riechen, obwohl sie doch selber angeblich so einen guten Geruchssinn haben, da passt irgendwas nicht zusammen, something does not add up here! Das ist mir alles nicht ganz geheuer, ja und vielleicht hab ich ja auch krass Angst vor Hunden, so ganz grundlos, oder weil mir mal das Nachbarskind als Hund verkleidet in den Unterarm gebissen hat, so mittelleicht, aber bissi Abdrücke waren da halt schon.
So wie damals, wo mir endlich der Gips vom Unterarm gesägt wurde, diese Abdrücke von den gipsgetränkten Netztüchern auf der weißen, von der Sommersonne und dem Seewasser unberührten Vorschulkindhaut. Aber vielleicht ist das gar nicht passiert und ich hab‘ mir vielmehr mit 17 den Haxen, mit 29 das Schlüsselbein, oder als Baby die Schädeldecke gebrochen.
Sagt ihrs mir! War ich Punk als Teenager oder Goth oder Krocha? Hab‘ ich mir damals so exzessiv die Haare gefärbt, dass sie nun aus Not so kurz sind, oder hab‘ ich erst vor kurzem zum allerersten Mal Strähnen blondiert? Oder doch vielmehr Färbephase mit späterem Abschwören in der Ökohippie unverpackt anti-Konsum Mehrweg era, die als letztes Aufbäumen der inneren Pick me nötig war für die nächste mittelfristige, sich aber endgültig anfühlende Lossagung von eh allem.
Wie alt bin ich überhaupt? Wie hoch ist die Zahl, die die mehreren oder wenigeren Jahre in diesem Leben ausdrückt und was ist mir in diesen ganzen Jahren passiert? Wurde ich etwa geboren? Hab‘ ich geschrien und gegessen? Wurde ich fallengelassen, Stichwort Schädeldeckenbruch, und wenn ja mit welcher geilen Story erklärt sich das, dass ich das überlebt habe? Wollte ich einen Hund als Kind oder eher unbedingt im letzten Sommer, die keine Schulferien waren, mit Anlauf und kopfüber in den See springen mit der Schädeldeckenbruchnaht voraus? Hab ich das gemacht, oder hatte ich einen dies verunmöglichenden Gips am Unterarm, hab ich mir die Schädeldeckenbruchnaht an der Seewasseroberfläche wieder aufgeschlagen? Apropos überlebt, hab‘ ich meine Mutter schon überlebt? Meinen Vater? Und bin ich überhaupt alt genug, dass das eh nicht richtig richtig schlimm wäre? Wie viele meiner Großeltern leben noch, habe ich überhaupt welche? Habe ich Augen, eine Lunge, wie viele Nieren hab ich noch, habe ich Beine? Vielleicht habe ich keine Beine, oder welche, die ich ablegen kann, vielleicht hat sie mir ein Löwe abgebissen, oder ein Nachbarskind oder ein Chihuahua oder ein als Nachbarskind verkleideter Chihuahua. Vielleicht hab‘ ich so viele Beine, dass eines weniger eh nicht richtig richtig schlimm wäre.
Was meint ihr? Vielleicht habe ich ja die Schule abgebrochen, vielleicht drei Mal oder das Studium, vielleicht drei davon, vielleicht auch eines drei Mal oder war ich überhaupt auf der Uni oder überhaupt in der Schule, sondern wurde vielmehr von einem Rudel Wölfinnen gelehrt bis mir ein Bart wuchs und Sackhaare und dann musste ich zu den Ottern oder Flamingos übersiedeln, die alle eine Variation von Arethra hießen: Enethra, Aneetra, Anita, Enita, Evita, Elvira, Elvis und so weiter und vielleicht ist mein engster Bezugsflamingo Antje ums Leben gekommen, als sie mich vor einem Alligatorangriff rettete und ich musste vor Trauer vergehen und dann aus Scham abhauen.
Vielleicht ist das aber auch gar nicht passiert und ich bin von zwei liebevollen, aber normalen, sogar heterosexuellen Menschen, sogar genau von denjenigen, die mich auch erzeugt haben, aufgezogen worden und ich hab‘ nicht mal die Schule abgebrochen. Vielleicht hab ich sogar echt weirde Sachen gelernt in der Schule, Russisch zum Beispiel und bin jetzt ganz stolz drauf, dass ich weiß, dass Potemkin gar nicht Potemkin sondern Потёмкин (Potjomkin) heißt und das e inmitten von Potemkin nur ein Transkriptionsfehler ist. Da hätte ich die Schule auch abbrechen können, habe ich aber nicht, ich hab mir nicht mal die Haare gefärbt, geschweige denn selber, nicht mal ein Piercing hab ich gehabt oder einen gebrochenen Finger, nicht mal ein gebrochenes Herz. Okay, ja, das ist effektiv zu absurd.
Lest mich als Buch und reißt mich in Seiten, vielleicht bin ich gar nix davon. Vielleicht bin ich Manuel Neuer und gleichzeitig auch NICHT Manuel Neuer, vielleicht bin ich unheimlich gelangweilt, dass diese alte Werbung noch immer zitiert wird, vielleicht bin ich diese Werbung oder diese eine Kühlregalsüßigkeitenwerbung! Vielleicht bin ich sie alle sowie sämtliche Dinge, die bekannte Werbungen haben, die ich hier aufführen wollte, aber vielleicht hasse ich ja Werbungen so sehr, dass ich sie nicht mal in künstlerischer Entfremdung reproduzieren will. Auch wenn oder vielleicht vor allem deshalb, weil es für so scheiß viele Dinge Werbung zu machen gibt. Aber es gibt halt wirklich einfach auch andere Kühlregalsüßigkeiten.
In eurer Zusammensetzung der Zettel und Fetzen bin ich vielleicht chronically online, vielleicht bin ich ein meme (ich denke, wir nähern uns der Sache): so drake meme: oben kein Internet, unten Internet und voll fein damit und gar nicht belastet, oder doch Güterzugmeme auf dem Bus steht Katron oder was auch immer mein Name ist und auf dem Zug steht zu viel Internet genauer gesagt viel zu viele fucking Kurzvideos oder das Meme mit der Animefigur, die auf einen Schmetterling zeigt und darunter steht „is this noch gesund?“ und auf dem Schmetterling steht meine Bildschirmzeit oder vielleicht bin ich auch Mitglied der Amish und bin gar nicht im Internet, sondern einfach nur erstaunlich gut im mitteleuropäischer Durchschnittsmillennial-Cosplay, dafür, dass ich nicht im Internet bin.
Vielleicht mache ich auch selber Internet und habe zu diesem Zweck einen Podcast namens Gerösteter Brühwecker mit Max, Werner, Doris und Jürgen und dort reden wir über alles, was schön ist und uns nicht das Hirn zersetzt und durch diese liebe, kreative Tätigkeit heilen wir ein bisschen, weil wir uns mit jeder cuten Idee in unseren Podcaststüberln ein wenig selber finden wie in einem sehr kleinen Ort im Tiroler Oberland. Vielleicht ist dieser Podcast auch eine Kurzvideoserie oder eine Blueskycommunity oder ein Discordchannel oder ein Forum für Fanfiction oder eine Lesebühne oder eine Communityradiosendung und ich habe diesen Text fünf Minuten vor Beginn des Podcasts, der Kurzvideoserie, der Blueskycommunity, des Discordchannels, des Forums für Fanfiction, der Lesebühne oder der Communityradiosendung geschrieben, vielleicht improvisiere ich gerade darüber, was mir passiert ist und was nicht, was ich bin und was eben nicht,…
oder vielleicht habe ich mein Leben lang, all die 67 Jahre lang an diesem Text gesessen. Vielleicht reihe ich die Seiten gerade schon fein säuberlich in der „richtigen“ Reihenfolge vor euch auf, vielleicht trete ich auch in eure Stapel, denn es kann keine gute Zusammensetzung geben. Vielleicht sitze ich an einem Endgerät für Podcasts, Kurzvideoserien, Bluesky, Discord, Fanfictions oder Radiosendungen in einer mittelgroßen Stadt in Mitteleuropa und höre und sehe und lese einen Text, wie zum verstreute Seiten durchforsten und zum frenetisch zu einem sinnhaften Buch zusammensetzen, oder wie zum Zauberwürfel lösen oder wie zum Fehlersuchen im Quellenverzeichnis einer wissenschaftlichen Publikation oder wie zum durch eine Straße gehen und hinter den Fenstern flackert kein Licht, da schaut keiner fern, da sterben keine Pflanzen, auch wenn sie keiner gießt. Da ist meist nur eine Wand vorne und die schaut zutraulich und liest und liest und liest mich fort zur nächsten Wand und zur nächsten und zur nächsten Wand und zeigt mir die Straße, mit der sie mir die ganze Stadt erklären will, mit dieser Filmsetstraße mit von klapprigen Gerüsten getragenen Wänden gesäumte Straßen in einer mittelgroßen Stadt in Mitteleuropa, die es gar nicht gibt. Vielleicht lerne ich an diesen Wänden mehr über die Stadt als von denen, die zu einem vollständigen Gebäude gehören, das sogar unterkellert ist vielleicht, wo die Abgründe eingewext in der selbstgetischlerten Holzstellage vor sich hin fermentieren. Aber vielleicht will ich die Häuser gar nicht kennenlernen, vielleicht bin ich Katharina die Große und ihr seid Потёмкин (Potjomkin) und ich bin absolut zufrieden mit den Zettelstapeln, die ihr mir hingestellt habt und ich schlendere mit meinem Troß durch die hübschen Reihen und erfreue mich an der ästhetischen Glätte.
Aber hinter manchen Fenstern flackerts halt doch.
Lesevorschläge:
Bitte den/die Titel mitlese
Finde recht hohes Tempo ganz schön bei dem Text, das dann ab „was ich bin und was eben nicht…“ langsam rausgenommen wird für ein getragenes Ende.
Bei „Katron oder was auch immer mein Name ist“ kann Lesi deren eigenen Namen statt „Katron“ einfügen, bei Interesse.
Potjomkin muss nicht doppelt gelesen werden, Klammer nur als Aussprachehinweis, falls Lesi nicht kyrillisch lesen kann.
Felix Benjamin: Bohemian Rhapsody
Ich fahre mit meiner großen Schwester in ihrem Auto zur Videothek. Das ist aus zwei Gründen aufregend, denn zum einen sehe ich sie nicht mehr so oft, seit sie ausgezogen ist. Bei jedem Besuch hat sie eine andere Haarfarbe, raucht eine andere Zigarettenmarke und stellt meinen Eltern fast jedes Mal einen neuen Freund vor. Sie ist groß und cool und ich will groß und cool sein.
Aufgeregt bin ich aber noch viel mehr, weil die Videothek ein magischer Ort ist, ein Tor zu anderen Welten. Ich habe einen Mitgliedsausweis und deshalb von der Videothek zum Geburtstag einen Gutschein für eine kostenlose Ausleihe bekommen. Dies soll meine Eintrittskarte in den „Tempel des Todes“ sein. Indiana Jones ist für mich der Größte und dieses Abenteuer ist das einzige, das ich noch nicht kenne, denn es ist erst ab 16. Meine Schwester soll mich also begleiten, damit mir der „Tempel des Todes“ ausgeliehen wird. In der Videothek findet sie aber einen völlig anderen Film, den sie begeistert aus dem Regal zieht: „Wayne`s World“. Das sagt mir gar nichts und interessiert mich auch nicht. Sie kann mich trotzdem leicht dazu überreden, mich gegen Indiana Jones zu entscheiden, schließlich will ich groß und cool sein.
Wieder am Steuer ihres Autos sitzend erklärt meine Schwester mir, dass ich „Wayne`s World“ unbedingt gesehen haben muss, allein schon, weil darin „Bohemian Rhapsody“ vorkommt. Sie legt ihr Best-of-Queen-Album in den CD-Player und fängt an, zu diesem Lied abzugehen. Sie singt laut mit und schüttelt ihre langen Haare. Ich fühle mich groß und cool, denn es war ja mein Gutschein, der es meiner Schwester ermöglicht, diesen Film zu sehen, auf den sie sich so freut. Auch ich schüttle meinen Kopf zur Musik und versuche mitzusingen, verstehe vom ?Text aber gar nichts außer „Mama, uuuu-uuuu.“ Das ahme ich nach und fühle mich dabei groß und cool.
Als wir zu Hause aussteigen, sagt meine Schwester, dass ich weggehen soll und in mein Bett scheißen.
Ich halte meine Tränen zurück, bis ich in meinem Zimmer auf dem Teppichboden zusammensinke.
Chris Morenz: Dü-Dö-Dü, kein Abschluss unter dieser Nummer
»No song on the radio could be too stupid for my heart… krschhhh…« – Frank klickt sich noch durch ein paar Sender, aber das hat noch nie was gebracht, ebenso wenig wie Prokrastination. Na dann, Radio aus. Der Motor ist auch schon längst aus, mindestens seit drei, fünf, sechseinhalb schlechten Songs. Im Rückspiegel sieht er die sonntagnachmittägliche Vorortstille auf dem Rücksitz bräsig ihren Schweinskopf heben. Sie schaut ihn spöttisch an und lässt (lautlos) einen fahren.
Es ist das erste Mal, dass er in dieser Stadt, in dieser Straße ist. Wochenlang hat er es vor sich hergeschoben, dann noch tagelang die Strecke immer wieder auf der Landkarte mit dem Finger nachgezeichnet. Das wird nie etwas, war ihm klar. Doch heute Mittag ist er einfach ins Auto gestiegen und ist hingefahren. Wahrscheinlich eine schlechte Idee. Deswegen hat er’s getan. Wäre es eine gute Idee, hätte er sie vermutlich ausgesessen. Aber nicht nur aus Erfahrung, auch vom Bauchgefühl her scheint dieser Ausflug eine schlechte Idee gewesen zu sein. Krampf im Magen, Kampf im Kopf, oder umgekehrt, oder beides. Und was ist eigentlich mit dem Herzen, das den ganzen Zirkus hier überhaupt erst ins Rollen gebracht hat? Es verschwand wenige Tage zuvor mit der Leber in einer Kneipe und ward seither nicht mehr gesehen. Immerhin haben sie ihm dieses schwächliche Ding, das bei den meisten anderen Leuten Rückgrat heißt, dagelassen. Diese Chance sollte er ergreifen. Wo er ohnehin schon hier ist… Hilft ja nix, nix hilft, dauernd hilft nix. Er stemmt sich tapfer aus seinem weißen Toyota, streckt sich den Rücken gerade. Wünschte, es wäre ein schwarzer Knight Industries Two Thousand, a.k.a. KITT, immer einen kessen Spruch auf dem Sprachmodul, wünschte, er selbst wäre… Aber damit fangen wir gar nicht erst an. Wenn wir jetzt Franks Gedankenstrom weiter folgen, stehen wir morgen noch hier in der Pampa. Folgen wir lieber FRANK…
Ach nein, der steht schon wieder still – minutenlang vor diesem unsäglichen Wohnhaus, du liebe Güte, ein NEUBAU, klotzgewordene Menschenfeindlichkeit. Als hätte ein grimmiger Betongott sie höchstselbst vor über 40 Jahren über die westdeutschen Städte gehustet, damit die Babyboomer Platz für ihr System-Leben haben, und immer noch schimpft sich dieser grau-grün-gelbliche Auswurf »Neubauten«. Wie kann man nur so leben? Antje konnte wohl gar nicht schnell und weit genug wegkommen von ihm und ihrem ALTEN Leben in der gemeinsamen ALTbauwohnung (zwar nicht Berlin, aber doch immerhin Hannover). In ihr NEUES Leben, in ihren NEUbau. Das hat’se jetzt davon.
Neubau, Bauernkaff, Kaffeefahrt, Fahrt zur Hölle… Schon wieder Gedankensumpf. Aber dann passiert endlich was, Frank läutet …
Doch nicht. Er glotzt bloß ihr Klingelschild an. Es ist in trotzigen Großbuchstaben geschrieben (kein keckes Kringelchen über dem ‚i‘ in ‚Schmidt‘) und achtlos und schlicht mit Tesafilm über den Namen des Vormieters geklebt. Sonst ist sie so akribisch. Hat dieses Haus nur ihren Sehnerv verkrümmt oder gar schon ihren Willen gebrochen? Frank scannt die Größe des Schilderrahmens. Ich könnte ihr mal ein gescheites… mit dem Drucker, nicht nur so schief und mit Kulli und…, er zerknüllt diesen Gedanken. Herrgott, Frank!, ruft er sich zur Räson. Er streicht mit den Fingerspitzen über das Provisorium als wäre es ihr Schlüsselbein, ihre Armbeuge, eine verirrte Haarsträhne in ihrem schmalen Gesicht,… dann sitzt er auch schon wieder in seinem Auto.
Komm schon, Frank, du bist ein erwachsener Mann – nicht nur weil du ein Auto fährst und daheim, das jetzt kein Daheim mehr ist, all diese Ordner mit Verträgen und Rechnungen im Regal stehen hast.
Naja, na gut, dann also Plan B: Er greift zum Handy, das auf dem Beifahrersitz liegt… ihr Sitz, ihr Hintern, ihre Nummer, die er jetzt eintippt. Es ist so unsinnig, Nummern aus dem Verzeichnis zu löschen, die man ohnehin und für alle Zeiten auswendig kennt. Würden sie ihm den schmerzenden Schädel endlich aufstemmen, man könnte die Ziffern vom Mond aus noch sehen! Er kennt auch die Summe sowie die Quersumme ihrer Nummer, er hat die Zahlen addiert und multipliziert, sie rückwärts gezählt und der Reihe nach sortiert, aufsteigend und absteigend, außerdem hat er mehrere Jingles dazu komponiert, in den vielen Nächten, die er diesen und letzten Monat wach lag, alleine. Aber gewählt, nein, gewählt hat er ihre Nummer tatsächlich nie. Bis jetzt…
TUUT – eine schallende Bud-Spencer-Ohrfeige voll auf’s Ohr!
TUUT – ein grollender Donner lässt die ganze Straße erzittern!!
TUUT – zwei Kontinentalplatten krachen gegeneinander, gigantische Land- und Wassermassen verschieben sich!!!
TUUT – ein Sonnensystem wird von einem schwarzen Loch geschluckt!!!!
Und plötzlich …, (»Hier ist Antje«) … wird irgendwo im Dunkeln ein neuer Stern geboren. »Hallo, wer ist denn da?«
»… Antje…«, presst Frank hervor.
»Nein, ICH bin Antje!«, feixt sie unbeschwert.
»… Antje…«, wiederholt er nur dämlich und räuspert sich zu alledem noch dämlicher.
»Frank? … Oh, hallo du«, ihre Leichtigkeit scheint jetzt ebenso dahin. »Was… was gibt es denn?«
»Hast du etwa meine Nummer gelöscht?«, hört sich Frank sagen. Als habe er sich das nicht denken können. Wie verdumm-dattert er gerade klingen muss. Souverän geht anders, Frank. Und jetzt steckt Stille in der Leitung.
»Bist du grad zu Hause?«, fragte er schließlich weiter.
»Jaa, naja, wieso?«
Statt zu antworten, fingert Frank nervös an seinem Schlüsselbund herum.
»Was tust du?«, fragt Antje, die das Klimpern gehört haben muss.
»Meinst du jetzt im Moment oder so allgemein? Also im Moment spiele ich an meinem Schlüsselbund herum, der am Zündschloss von meinem Auto hängt… Ansonsten eigentlich nicht so viel. Wirklich, wirklich nicht so viel…«
»Wo bist du?«
»Ich park‘ grad bei dir in der Straße. Am Lerchensteg, das stimmt doch, gell?« Und in die neuerliche Stille schiebt er hinterher: »Hüpsch… h-h-hüpsch hast du’s hier…«
Das Echo dieser letzten Unbeholfenheit hallt dumpf in seinem leeren Kopf, seinem leeren Herzen, seinem leeren Auto wider. (Hallo, Echo! – Hallo, Dummkopf!)
Irgendwie entgleitet Frank die Situation zunehmend.
»Wer ist am Telefon?«, fragt da im Hintergrund eine andere Stimme.
Fremde Stimme, fremde männliche Stimme. Bei Antje im Hintergrund… Fremde männliche Stimme bei Antje im Hintergrund?!
»Ich kann dich jetzt nicht reinbitten«, sagte sie wieder etwas gefasster.
Na zum Glück! Frank ist erleichtert. Wer auch immer der fremde Typ ist, der ihr Telefonat gerade stören will, sie schickt ihn wieder weg. Jetzt aber zur Sache…
»Frank…?«
»Hm?«
»Tut mir leid, okay?«
Moment mal! Offenbar war das gerade eben nicht an den Eindringling gerichtet sondern an IHN, Krank, oder… wie heißt er nochmal? Irgendwas, was sich auf ‚krank‘ reimt, jedenfalls… ‚Reservebank‘, ‚als er ertrank‘, ‚Verwesungsgestank‘. Zum Teufel, wieso kann sie ihn nicht einfach in ihr Wohnzimmer bitten und mit ihm eine vernünftige Unterhaltung führen; so vernünftig, wie es eben geht zwischen zwei Erwachsenen, die sich des öfteren nackt gesehen haben. Wer ist dieser Typ, der sich bei Antje rumtreibt. Wohnt er auch in diesem architektonischen Hassverbrechen? Sähe ihm ja ähnlich. Oder wohnt er gar bei IHR? Nein, am Klingelschild stand nur IHR Name. Aber was, wenn er denselben lahmen Nachnamen hat wie sie, schließlich ist Schmidt ein Allerweltsname. Möglicherweise steht er jetzt mit nassen Haaren und Duschhandtuch neben ihr. Oder mit so einer albernen Unterhose mit Eingriff. Was fällt ihm ein, neben Antje in Unterhose zu stehen und sich in ihre Privatangelegenheiten einzumischen.
»FRANK!«, wiederholt Antje.
Jetzt auflegen, einfach auflegen und wenigstens mit einem Krümel Restwürde aus der Sache rauskommen, und diesen Krümel mit nach Hause nehmen wie einen Cent, den man auf der Straße gefunden und eingesteckt hat. Also völlig nutzlos irgendwie. Mit dieser Münze kann man schließlich kein neues Leben starten, man kann sie ja nicht mal richtig nach einer Taube werfen, und für sowas hat man sich nun wie ein Idiot gebückt. Nun leg‘ doch endlich auf, Frank, oder noch besser, WACH auf, etwas muss doch jetzt passieren. Er atmet weiter stumpf in den Hörer, damit sie auch ja weiß, dass er, obzwar für vieles zu dumm, immerhin atmen kann. Ja, beim Atmen, da macht ihm niemand was vor! Naja, wäre da nicht dieser Kloß im Hals. Gar nicht so einfach, an dem vorbeizuatmen, bemerkt er. Lohnt es sich überhaupt noch, das mit dem Atmen? Ach, Antje wird’s schon irgendwie richten…
Oder?
»Is‘ halt grad echt schlecht, Frank«, hört er sie murmeln. »Pass auf dich auf, ja? … Bye-e.«
Und Stille.
Frank sitzt reglos in seinem Auto, das noch immer auf der gegenüberliegenden Straßenseite von Antjes neuem Leben parkt. Er wartet auf den Regenguss, den das Radio ihm schon die ganze Hinfahrt über versprochen hat. Wäre ja auch wirklich nicht zu viel verlangt, in Deutschland, im November, in Niedersachsen. Doch die Wolkendecke, die ihm beharrlich den reinigenden Regen vorenthielt, ist inzwischen endgültig aufgerissen. So muss Frank ganz alleine und ohne himmlischen Beistand weinen.
Schließlich reitet unser Held wie in einem alten Western allein in den Sonnenuntergang. Bloß dass das kein Western ist, und er kein Held, und statt zu reiten, fährt er… »Dreckskarre!« … heim. Allein das Alleinsein stimmt an diesem Bild; das Radio zählt dabei nun wirklich nicht als Gesellschaft, im Gegenteil. Zähneknirschend dreht Frank trotzdem am Sendersuchrad, in Antizipation der Tage und Wochen des Am-Rad-Drehens, die nun wieder vor ihm liegen.
Eurodance – Sendersuchlauf.
Radiojingle – Sendersuchlauf.
Statik – Sendersuchlauf.
Werbung – Sendersuchlauf.
Udo Lindenberg, der nölt: »Hinterm Horizont geht’s weiter…«
Bitte nicht, denkt Frank, wie er da dem Horizont entgegenfährt.
Matt S. Bakausky – 1000 Jahre Brüz
Herzlich willkommen auf dem Fest der Guten Laune hier in Brütz. Darf ich sie filmen? Nein? Wirklich nicht?
Lassen Sie mich bitte in Ruhe!
Ja dann halt nicht. Schade, wollte wirklich nicht stören. Nur ein bisschen gute Laune verbreiten hier für Tiktok! Auf jeden Fall bin ich gerade im Brütz und hier wird gefeiert! Was feiern wir eigentlich?
Ich will nicht, dass Sie mich aufnehmen. Würden Sie bitte die Kamera wegtun?
Oh, ich will doch nur gute Laune verbreiten! Lassen Sie mich doch! Darf ich sie umarmen?
Das geht wirklich zu weit! Lassen sie mich in Ruhe!
Die Bürger von Brütz sind gar nicht so gut gelaunt wie ich dachte, obwohl heute gefeiert wird! Naja ich melde mich ab aus meinem Tiktok! Schönen Tag noch!
Brütz in Thüringen, ein idylischer kleiner Ort. Doch was keiner weiß, darf niemand wissen. Brütz in Thüringen feiert heute 1000 Jahre Brütz und einige prominente und weniger prominente Social Media Sternchen sind angekommen um am Fest teilzunehmen. Ganz zum Missfallen der Bürger von Brütz. Denn was keiner weiß, darf niemand wissen.
Ich bin heute in Brütz und mache Straßenumfragen. Was arbeitest du dennnn und wieviel verdienst du dennnn dabeiii?
Hör auf zu filmen du Spacko! Keiner will dich hier haben.
Brütz in Thüringen, ein idylischer kleiner Ort. Doch was keiner weiß, darf niemand wissen. Sie feiern heute offiziell 1000 Jahre Ortsgründung Brütz. Doch nachts, wenn alle schlafen geht in Brütz seit 1000 Jahren der Brützi um. Und der Brützi ist hungrig. Er frisst kleine Kinder, wie alte Leute. Doch was keiner weiß, darf niemand wissen.
Ich bin Sebastian Schulz aus Schonungen bei Schweinfurt und Ich bin hier in Brütz und verspeise eine Bratwurst am Bratwurststand. Hier wird heute gefeiert. 1000 Jahre Brütz! Kommt doch auch noch vorbei!
Gehen Sie weg! Sie mit Ihrem Scheiß Tik Tok! Wir brauchen Sie hier nicht auch noch!
Hey, lassen sie mein Handy in Ruhe, ich filme doch nur privat!
Brütz in Thüringen, ein idylischer Ort in Thüringen, feiert 1000 Jahre, doch langsam wird es spät und die Bürger von Brütz gehen in ihre schön bemalten Häuser. Doch was keiner weiß, darf niemand wissen. Nur ein paar Influencer haben kein Hotel mehr gefunden und treiben sich noch auf dem Marktplatz herum. Bald wird man ihre ausgespuckten Skelette im Wald finden. Da wo der Brützi wohnt und wo er herkommt. Jetzt da du weißt, was keiner weiß und niemand wissen darf, kommt der Brützi auch nachts zu dir nach Hause. Auf TikTok.
Christian Knieps: Zerfall
Man hatte ihn gewarnt, natürlich hatte man das, auf eine beinahe beiläufige Art, wie man einen Hund vom Abgrund zurückruft, nicht aus Fürsorge, sondern weil man das Geräusch des Aufpralls nicht ertragen will – und trotzdem war Terzfeld an jenem Dienstagmorgen, noch bevor die Sonne ihre erste Schicht aus bleierner Feuchtigkeit über die Dächer des Hafenviertels gelegt hatte, wieder durch die Hintertür der alten Papierfabrik geschlüpft, die inzwischen eher an eine Kathedrale des Schmerzes erinnerte als an irgendeinen Ort, an dem je gearbeitet, geschwitzt oder geschrien wurde, und stand nun mit zitternden Lidern vor einem Körper, der, so wie er dalag, mehr Aussagekraft besaß als sämtliche Protokolle des Dezernats für Kapitaldelikte der letzten drei Jahre zusammen.
Die Leiche war weiblich, ungefähr Mitte dreißig, trug weder Ausweis noch Unterwäsche, aber dafür einen perfekt sitzenden Lippenstift in einem Ton, den man früher als „Blutkirsche“ bezeichnet hätte – ein Detail, das Terzfeld nicht aus stilistischen Gründen notierte, sondern weil er wusste, dass sich Mörder selten um Lippenfarbe kümmern, es sei denn, sie wollten, dass jemand ganz bestimmtes die Leiche fand, oder sie inszenierten den Tod wie ein makabres Stillleben, das etwas erzählen sollte, was mit Worten nie gesagt werden konnte.
Dass die Frau keine Zähne mehr im Mund hatte, war kein Unfall – die Wurzeln waren sauber ausgehebelt worden, als hätte jemand mit chirurgischer Präzision einen Beweis zerstören wollen, während die Fingerkuppen – ebenso sorgfältig – mit feinem Schleifpapier behandelt worden waren; doch was Terzfeld mehr beschäftigte als all das, war der Blick, den die Tote ihm zuwerfen würde, wenn sie noch sehen könnte – diesen nicht mehr existierenden, aber doch spürbaren Blick, der ihm sagte, dass sie wusste, dass er zu spät kam, weil er immer zu spät kam, nicht aus Faulheit oder Mangel an Talent, sondern weil er tief in sich selbst etwas kultivierte, das jeden Fall, jede Suche, jede Aufklärung sabotierte: eine Schwäche für das Dunkle, für das Halbgesagte und für das Schweigen der Toten, das mehr verrät als das Geschwätz der Lebenden.
Die Spurensicherung tat, was sie immer tat – sie verpackte die Welt in Plastiktüten und analysierte sie auf Spuren, deren Bedeutung sich meist nur dann zeigte, wenn sie längst irrelevant geworden waren – und so verließ Terzfeld den Tatort, ohne sich von jemandem zu verabschieden, stieg in seinen Wagen, der nach altem Kaffee, kaltem Schweiß und vergessener Hoffnung roch, und fuhr in jene Gegend, die man in der Stadt nur „die grauen Kilometer“ nannte, weil es dort keine Häuser mehr gab, sondern nur noch Betonflächen, auf denen früher einmal Fabriken standen, und zwischen diesen Flächen bewegten sich Menschen, die aussahen, als wären sie von einem Roman übrig geblieben, den niemand zu Ende gelesen hatte.
Dort, in einem Container mit drei Schlössern, fand er „Fräulein Nola“, die keine Fräulein war, sondern eine Informantin, die ihm seit Jahren Hinweise gab, die so vage und gefährlich zugleich waren, dass jeder andere sie längst für nutzlos erklärt hätte, doch Terzfeld wusste, dass Information nicht aus Klarheit bestand, sondern aus Mutmaßung, Andeutung und vor allem: aus dem Klang, den Worte erzeugen, wenn sie in einem Raum voller Schuld ausgesprochen werden.
„Sie wollte raus“, sagte Nola, ohne dass Terzfeld eine Frage gestellt hatte, und es war diese Art von Antwort, die ihn glauben ließ, dass alles, was man brauchte, um einen Mord aufzuklären, bereits in den ersten fünf Minuten gesagt wurde, nur dass niemand wusste, welcher Satz der entscheidende war – man musste ihn aufspüren wie ein verlorenes Organ im Bauch eines Unbekannten, den man niemals sezieren durfte.
Sie erzählte ihm von einem Mann, den sie nur „den Vater“ nannte – ein Schleuser, ein Mörder, ein Menschenhändler, niemand wusste genau, wer er war, aber alle wussten, dass man nicht über ihn sprach, und wenn doch, dann nur in Halbsätzen und mit Blick auf den Boden – und Terzfeld verstand sofort, dass die Tote in der Papierfabrik keine anonyme Prostituierte war, sondern eine Frau, die zu viel gewusst hatte, vielleicht auch geglaubt hatte, dass Wissen Schutz bedeuten würde, obwohl es in dieser Stadt nur eine Wahrheit gab: Je mehr du weißt, desto eher stirbst du.
Die nächsten Tage waren ein Vexierspiel aus Akten, Gesprächen und Lügen, denen man ansah, dass sie gelogen waren, aber die trotzdem notiert werden mussten, und Bildern, die in seinem Kopf aufstiegen wie Gas aus einem alten Sumpf – Gesichter, Stimmen, Gerüche – und immer wieder tauchte dabei dieser Name auf, „Vater“, nicht als Titel, sondern als Drohung, als Fluch, als Konstrukt, das alle fürchteten und keiner je gesehen hatte, bis Terzfeld irgendwann begriff, dass der Mann, den er suchte, nicht gefunden werden wollte, sondern nur gespürt – als Schatten, als Druck und als Präsenz hinter den falschen Zeugen, den korrupten Kollegen und den stummen Beweisen.
Es war eine dieser Nächte, in denen man nicht mehr weiß, ob der Regen von außen gegen die Fensterscheibe schlug oder von innen gegen die Stirn hämmerte, als Terzfeld in einem Keller am Stadtrand stand, die Pistole gezückt, die Taschenlampe in der anderen Hand, der Magen seit Stunden leer, aber das Herz voll mit einem dumpfen Wissen, das sich nicht in Worte fassen ließ – und dann sah er ihn: einen Mann mittleren Alters, glatt rasiert, mit der Stimme eines Seelsorgers und der Kälte eines Chirurgen, der sofort wusste, wer Terzfeld war, und der nicht flüchtete, nicht schrie, sondern nur sagte: „Wenn Sie mich verhaften, machen Sie die Welt nicht besser – Sie machen nur das Dunkel sichtbar.“
Terzfeld schoss nicht. Er verhaftete ihn auch nicht. Er stand nur da, während hinter ihm jemand die Tür zuzog – und wusste, dass es vorbei war, bevor es wirklich begonnen hatte.
Denn das ist das Wesen der Ermittler in einer Welt, in der das Verbrechen nicht mehr im Moment des Mordens beginnt, sondern im Schweigen davor – sie sehen, sie wissen und sie sammeln, aber sie retten niemanden; sie sind Archivare der Verdammnis.
Andreas Prucker: Der Kürzeste Krimi
Der kürzeste Krimi besteht nur aus einem einzigen Wort und unserer Phantasie. (Phantasie mit ph weil es den PH Wert der Angst aufzeigen soll)
Text:
Eifersucht.
Alle meinen es wäre die Liebe, doch ohne den Eifer bei einer Sucht, auf ein begehren, was der andere hat und ich nicht, gibt es keine Tat.
MfG
Das Kognitive Zentrum für Bildgestaltung. Jetzt Neu durch die Firma CorTec mit einem Chipimplantat versehen.
Anna Housa: Das Erste Mal
Lisa Neher: Kunst.
Ich war 20 Jahre alt, als ich mich an der Akademie der Bildenden Künste bewarb
und ich will euch gar nichts vormachen, will gleich raus mit der Sprache: Ich wurde
nicht genommen. Aber nochmal ein paar Schritte zurück: Zumindest meine Mappe
wurde für interessant befunden, mein ganzes jugendliches Herz steckte darin,
meine Träume, meine Glaubenssätze. Schaut man heute in das Weltgeschehen,
das oft so groß und grausam ist, lässt sich meine Kunst von damals als ein braves
Aufbäumen zusammenfassen. Denn ich kam aus Bullerbü und da war die Welt ein
Bilderbuch, wie Schweden im Sommer, wo die Sonne immer scheint und die Nacht
niemals wirklich dunkel genannt werden kann.
Ich wurde zum Eignungstest geladen. Die Aufgabe, die mein Geeignetsein unter
Beweis stellen sollte, lautete: „WIR SCHREIBEN DAS JAHR 2035! WELCHER
TREND SCHOCKIERT UND FASZINIERT DIE MENSCHEN GLEICHERMASSEN?“. Nun hatte ich es mal gar nicht so mit futuristischen Trends. Mir wollte einfach nichts einfallen. Der junge Mann, der mir gegenüber saß, schrieb unentwegt die Zettel voll, die vor ihm lagen. Und noch einen und noch einen. Irgendwann stand er auf und verließ den Raum, seine Idee vergrößerte sich, zog ihn raus unter die Leute. Er war mir sympathisch. Später dann, als alles vorbei war und sich die obligatorischen Grüppchen bildeten, fand ich ihn wieder und stellte mich zu ihm. So als wäre der Boden unter uns ein Pausenhof, so als hätten wir einen Biotest im Rücken und so als wären wir alle drauf und dran in die Runde
zu fragen, ob unsere Definition vom Endoplasmatischen Retikulum mit der der
anderen übereinstimmt. Er erzählte mir von seiner Trendvision: „Schönheits-OPs!
Die Leute werden total ausrasten! Keiner wird mehr aussehen wie vorher und
trotzdem alle gleich!“ Um die Aufgabe zu bewältigen, hatte er alle seine
Freund*innen zusammengetrommelt und sie gebeten, sich Tesafilm um den Kopf
zu wickeln bis ihre Gesichter zu deformierten Fratzen verknetet waren. Dann hat er
sie fotografiert. Er wurde genommen.
Der heutige Tag liegt elf Jahre hinter der Aufnahmeprüfung und zehn Jahre vor Halbzeit. Ich bin jetzt 31 Jahre alt und ich will euch verraten: Ich denke hin und wieder an den Tesafilmchirurgen. Es ist nicht wegen der Sympathie, ich muss euch enttäuschen, das hier wird keine romantische Geschichte. Es ist die Biologie, die mich nachdenklich macht. Denn seit geraumer Zeit, kommt es immer wieder vor, dass sich befremdliche Wörter in die Münder meiner Freundinnen legen. Fadenlifting, Hyaluron-Filler und (der-dessen-Name-nicht-genannt-werden-darf-und-wenn-überhaupt-dann-höchstens-im-medizinischen-Kontext) Botox. Minimalinvasiv & natürlich, natürlich.
Und während wir die zehnjährigen Mädchen, die wir mal waren, dafür verteufeln,
dass sie die Schminke aus der Wendy in ihre Gesichter geschmiert haben,
während wir kopfschüttelnd an unser zwölfjähriges Ich denken, das sich den Hello
Kitty Push-Up BH übergestülpt hat, während wir der mutigen, jungen Feministin
auf Instagram noch schnell ein Herz dafür geben, dass sie im letzten Post ihre
Achselhaare in die Kamera gehalten hat, rufen wir bei der Praxis an, die sich der
Ästhetik verschrieben hat, und lassen uns einen Termin geben.
Es war einmal eine Königin.
Die Königin war glücklich, denn sie war reich und schön, sie hatte eine kleine gesunde Tochter und keinen Mann, der ihr in die Suppe spuckte, nur ab und an ein paar Liebhaber, die sie zu sich in die Kutsche lockte, wenn sie auf Dienstreise war. Die Kutsche war ein Porsche 924 S. Es fehlte ihr an nichts. Wenn überhaupt, hatte sie ein bisschen zu viel von allem. Zum Beispiel die Falte auf ihrer Stirn, die zwischen den Augenbrauen, die war zu viel. In den ersten Jahren mit der Falte sagte die Königin: da mag eine Falte sein, aber sie steht für meinen Zorn. Und der hat mich dorthin gebracht, wo ich heute bin.
Ihre Berater waren anderer Meinung. Sie sahen neben dem Zorn auch das Alter auf der Stirn ihrer Königin, also erfüllten sie ihre Beratungsfunktion: Sollte eine Herrscherin wie sie nicht makellos sein? Sich niemals fügen müssen? Warum soll sie sich dem Lauf der Zeit ergeben, wo sie doch sonst alles unter ihrer Kontrolle weiß? Die Königin war selbstbewusst und klug, aber das gab ihr zu denken und so verkaufte sie ihren Zorn schliesslich an einen fahrenden Händler. Ihre Stirn war von nun an glatt wie der Marmor in ihrem Schlossgarten. Sie sagte: „Ich fühle mich toll. Niemand ahnt den Eingriff, man kommentiert nur mein frisches Aussehen.“
Da ertönte ein Lied in der Ferne. Wie ein Schwarm Mauersegler flochten sich die Töne mit einer Entschlossenheit in die Lüfte, die Hoffnung und Glückseligkeit versprachen, aber im Kern auch irgendwie traurig waren. Und als eine Bardin mit dem schönen Namen Adrianne den Weg entlang kam, sang sie mit einer Kraft, dass es das ganze Land hören konnte:
I’m afraid of getting older, that’s what I learned to say
Society has given me the words to think that way
The message spirals: Don’t get saggy, don’t get grey
But the soft and lovely silvers are now falling on my shoulder
My mother and my grandma, my great-grandmother too
They wrinkle like the river, sweeten like the dew
And as silver as the rainbow scales that shimmer purple blue
How can beauty that is living be anything but true?
So let gravity be my sculptor, let the wind do my hair
Let me dance in front of people without a care
Nun kann die Königin schnell als privilegierte Kapitalistin abgestempelt werden, die singende Bardin als barfüßiger Hippie. Doch der Gedanke, sich in den Lauf der Zeit zu schmiegen wie in eine lieb gemeinte Umarmung, gefällt mir deutlich besser, als ein halbes Leben lang gegen etwas zu kämpfen, das ohnehin im Kleingedruckten stand, als wir den Deal des Menschseins unterschrieben haben. Wir leben und wir welken. Wenn wir das nicht anerkennen können, lassen wir uns täuschen von einem System, das uns vorgaukelt, dass alles ewig sein kann. Dann blättern wir alle sechs Monate 250€ auf den Praxistresen, um die kleinen Zeichnungen unserer Abenteuer in unseren Gesichtern auszuradieren, denn überraschenderweise ist sogar die Wirkung von Nervengift vergänglich und muss
halbjährlich aufgefrischt werden. Somit steht langanhaltende Schönheit, in ihrer
modernen Definition, nur denen zur Verfügung, die es sich auch leisten können.
Ich hörte die Herzen vieler Frauen brechen, als das Alter ihre Bühne betrat. Der Grund dafür ist ein trauriges Rätsel. Sie sind so stark, aber sie sind auch erschöpft. Sie tragen ihr ganzes Leben lang das ewige Ungenügend huckepack. Manche bringen unter seinem Gewicht Kinder zur Welt. Alle schleppen es täglich zur Arbeit, vorbei an Bushaltestellen, an denen eine 52-jährige Heidi Klum ihnen in Unterwäsche zuzwinkert. Anstatt den alternden Körper zu feiern und zu ehren für das, was er alles möglich gemacht hat, wie das in Kulturkreisen außerhalb des Westens durchaus der Fall ist, mäkelt die kapitalistische Gesellschaft daran herum, sobald er die Spuren eines Lebens trägt. Wir machen es wie mit den vielen Gegenständen, die wir so lieben: Was alt ist, wird ausgetauscht, was kaputt ist, wird weggeworfen. Also gilt es, bloß nicht alt und kaputt zu sein. Wir halten fest: Der Kapitalismus schafft das Problem und verkauft auch die Lösung. Was für ein Geschäftsmodell!
Lieber Tesafilmchirurg,
bitte sieh es mir nach, dass ich so hart ins Gericht gehe mit deiner Vision. Ich meine: Es funktioniert ja. Deine Vorhersage schockiert UND fasziniert mich. Du wurdest zu recht angenommen. Wenn du das hörst, hast du deinen Abschluss schon in der Tasche. Du arbeitest vermutlich in einer Agentur oder bist freischaffender Künstler. Vielleicht bist du erfolgreich, aber in jedem Fall bist du älter geworden. Wie stehst du zu den neuen Linien in deinem Gesicht? Hortest du schon Klebeband? Wie geht es deiner Mutter? Vielleicht ist sie gerade in den Wechseljahren und könnte eine Umarmung gebrauchen. Vielleicht ist sie auch schon aus dem Gröbsten raus. Ruf sie trotzdem mal wieder an und sag danke für alles.