Christian Knieps: Gon

Allister McAllister bekam an einem sonnigen Mainachmittag ein Päckchen zugestellt, in dem er ein schmales Heftchen fand – wenn man es denn so nennen möchte, da es kaum mehr als eine lose Blattsammlung zwischen zwei alternden Klappdeckeln war –, und kaum, dass er die oberste Seite des Textes auch nur zu lesen begonnen hatte, war er in einer Welt gefangen, die ihn Zeit seines Lebens nicht mehr loslassen sollte: Gon.
Noch nie zuvor in seinem Leben hatte Allister McAllister von diesem Wort gehört, nicht mal in seiner Arbeit als Historiker war ihm dieses Wort untergekommen. Doch nun lag es vor ihm, und mit jeder Seite, die er verschlang, drang er tiefer und tiefer in die Welt des Gon ein, bahnte sich einen Weg durch das tiefe Wesen dieses einen Wortes und gelangte auf die andere Seite, weit entfernt von der hiesigen Welt der Gelehrsamkeit, weit entfernt von der heutigen Welt der Allwissenheit durch das Internet. Er befand sich auf der anderen Seite der Welt, ganz gleich, von wo er aus seinen Ursprungspunkt festlegte.
Dort, auf einer scheinbaren Insel, landete Allister McAllister am Strand, an dem das sanfte Meer anbrandete, und mit jedem Schritt wurde der Sand fester und fester, und als er den ersten leichten Hügel erklommen hatte, sah er in eine vor ihm liegende, geschützte Ebene voller Fruchtbarkeit hinein, durch die trotz des dichten Urwalds eine kleine Straße wand, die nur von Menschenhand angelegt worden sein konnte. Das Urvertrauen in seinen Körper spürend, ging er einige Schritte voran, den leichten Hügel hinab, und erreichte die Straße. Sich nach allen Seiten umblickend, wunderte er sich, dass er hinter sich das Meer nicht mehr hörte, sondern nichts; es herrschte vollkommene Stille.
Er war jetzt ein Wa, ein Lehrling des Gon, die Stufe, in der die Menschen beginnen, sich über die Welt im Allgemeinen und ihre Umwelt im Speziellen zu wundern. Die kleinen Dinge beginnen aufzufallen, nicht die großen, weltbewegenden, sondern die Nuancen, die Schattierungen, und nicht selten fällt es dem Einzelnen schwer, sich gerade auf diese Details zu konzentrieren, insbesondere, wenn er aus einer Welt kam, in der das große Ganze das Allheilmittel jeden Zusammenhangs zu sein scheint.
Plötzlich spürte er auch, trotz seines festen Schuhwerks, den sandigen Boden unter seinen Füßen, vernahm Unebenheiten und kleine Einsenkungen, begann, einzelne Sandkörner zu spüren, und hätte sich vielleicht sogar in diesem Spüren verloren, wenn er nicht aufgemerkt hätte. Er sah auf und vor sich jene Straße, die nun nicht mehr unendlich tief in den weiten Urwald führte, sondern einer Linienstruktur folgte, die zwar nicht symmetrisch, aber auf ihre Weise rhythmisch war.
Allister McAllister blieb stehen, um die neue Entwicklung zu verstehen, denn es lag in seinem Wesen, die Dinge in seiner Umgebung nachzuvollziehen und zur Gänze verstehen zu wollen. Daher war er an die Universität gegangen und dort geblieben, hatte sich stets dafür interessiert, was hinter der nächsten Frage steckt, die man stellen kann, solange zu einem bestimmten Thema, bis alle Fragen geklärt sind – auch wenn er selbst wusste, dass dieser Zustand niemals erreicht würde –, aber was macht das schon, solange man sich versucht, auf dieses Ziel hinzubewegen?
Doch hier, auf dieser Insel, hinter sich die Brandung, unter sich die einzelnen Sandkörner, vor sich die unrhythmisch rhythmische Straße durch den Urwald, der dann doch kein Urwald war, schien es keine Fragen mehr zu geben; es war ganz, als ob die Fragen hier, an diesem einsamen Ort auf der Welt – war er noch auf dieser Welt? – ein Ende finden. Hier finden alle Fragen ein Ende! Das dachte Allister McAllister und ging mit einem weiten Schritt in Richtung des Herzens der Insel, sah mit jedem weiteren Schritt, wie die sich unrhythmisch rhythmisch schlingende Straße sich geradezog, wenn er dorthin kam, und er ging und ging weiter fort, tief hinein in den Urwald, der zu einem lichten Wald wurde, dann zu einer Allee, und schließlich, als nur noch eine gerade Linie von Bäumen eine unendlich scheinende, gerade Straße säumte, da vernahm er mit einem Mal eine Melodie in seinem Ohr. Diese Melodie war ihm völlig unbekannt, so etwas hatte er noch nie gehört, und just in dem Moment, in dem er verstand, dass es die Musik der Natur war, die einzigartige Musik der allumfassenden Natur, da wurde er zum Ra und gelangte damit auf die dritte Stufe des Gon. Nun war er ein Gon-Wa-Ra und ging als wissender Meister die gerade Allee mit der geraden Baumreihe entlang, die so gar nichts mehr mit dem Urwald und der Sanddüne und dem anbrandenden Rauschen des Meeres gemein hatte, das er zuvor erlebt hatte.
Urplötzlich, als käme es aus dem Nichts und auch für Allister McAllister völlig unerwartet, endete die Baumallee und es blieb nur die Straße. Doch auch die endete bald schon und es blieb nur die Umgebung, die mit jedem weiteren Schritt eintöniger und eintöniger wurde, bis sie in einem einzigen Farbton war – einem melangierten Braun, in das alle Farben zusammenlaufen. Alsdann verschwammen auch noch die Konturen und nach den Konturen verblasste das melangierte Braun, wurde heller und heller, und nach einer Weile des Vorangehens – auf welchem Grund? – gelangte der Gehende an den Punkt, dass er im konturlosen Weiß stehen blieb. Er stellte sich nicht die Frage, auf was er stand, ob er Luft atmete oder nicht, ob das seine Gedanken waren oder nicht – denn es hatte keinen sonderlichen Wert, diese Gedanken zu haben. Es hatte gar keinen Sinn, auch nur irgendeinen Sinn zu suchen in dieser Welt, in dieser Nichtwelt, in die Allister McAllister kam, um zu etwas zu werden, was sich Gon-Wa-Ra-Ta nennt und ein Gona in der Welt des Gon ist, die letzte Stufe der Erkenntnis. Somit blieb er stehen und begriff, unabhängig von seinen Nichtgedanken, dass er am Ende seiner Reise angelangt war, die von der losen Blattheftsammlung ausging und an diesem Ort hier endete.
Genau in diesem Augenblick des Erkennens beendete er seine Reise, gelangte zurück in die Welt, aus der er verschwunden war, sah sich an dem Ort um, an dem er sich befand, bemerkte die Vielzahl an Farben, Konturen, Geräuschen und Gerüchen – und alles war ihm irgendwie übertrieben und unwichtig. Allister McAllister war als Gona in eine Welt zurückgekehrt, die er nicht mehr verstehen konnte, aber die er vor allem nicht mehr verstehen wollte. Und so beendete er diese Reise mit dem Wissen, dass vieles verborgen liegt und dass nur sehr wenig davon von den Menschen entdeckt wird. Was für eine Verschwendung der menschlichen Talente! Diesen Satz sagte er immer und immer wieder zu sich selbst, erkannte in der Welt ein Übermaß an Verschwendung und wurde zu so etwas wie ein Eigenbrötler, der sich immer mehr in die Welt des Gon zurückwünschte, auch wenn er ahnte, dass er nach seiner Erleuchtung niemals wieder zurückkehren würde.

Andreas Prucker: Die heilige Chimäre

Die heilige Chimäre einer Familie werde ich nie richtig verstehen. Schon bin ich am Endanfang der Zukunft angelangt.

Schaue ich hörend ZDF oder ARD, oder Radio Z, so habe ich einen bestimmten Geist im Kopf. Schaue ich anderes und Tiktok, so ist mein Geist komplett im widersprüchlichen verloren. Und was macht das mit der Identität, die sich im Präfrontalen Cortex bildet und dies Vermächtnis uns in Zukünftiges lenken soll?

Es ist egal was sich da über ein wie bildet, denn wir denken uns eh, im falschen kann man viel richtig machen und wählen also durch Fehlinformationen, wie durch falsche Sichtweisen, die unsere Voreingenommenheiten triggern, immer die falschen Parteien, Freunde und Lebensmöglichkeiten, da wir nie durch diese medialen und dem familiären als Umgebungsbedingte Umstände, dass richtige wahrnehmen können.

Ohleahlihuah dies Schicksal als Zukunft ist vorherbestimmt. So wie der familiäre Habitus unsere Möglichkeiten für unsere Lebensführung formt.

Blubsdibubsdi rapadi baus und schon reden wir rebellisch pubertär in Sprachen, die wir nur über disziplinäre Autoritäten und ihr Anwendungsverhalten verstehen.

MfG Andreas Prucker

Christian Knieps: Ertrinkendes Europa

Schweißgebadet wälzt sich Carl Gustav Jung in seinem Bett hin und her, schreit innerlich nach Erlösung, krampft in seinem Wesen, kämpft mit aller Macht gegen sich selbst an und kann am Ende diesen Kampf nicht gewinnen. Das weiß er, das weiß sein Unterbewusstsein, und das weiß er auch in seiner Traumwelt, die er dennoch mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen, verfluchen, ja, gar zerstören will. C. G. Jung will seine Träume zerstören, die seit der von ihm eingeleiteten und streng forcierten Trennung von seinem geistigen Übervater Sigmund Freud immer gewalttätiger werden, immer härter, immer bösartiger, Träume, die von Zerstörung, Vernichtung, Ausrottung, Rache und Folter geprägt sind. Die Grundfarbe ist blutrot. Nasstriefend laufen die Traumgestalten in ihrer erdachten Umgebung umher, und nicht selten nimmt er Toni, dann Emma, dann wieder mal beide zusammen und ist beinahe schon an seinem sexuellen Höhepunkt, als etwas Rotes, Festflüssiges auf ihn zurollt, eine Welle aus Blut, und C. G. Jung versteht nicht nur, dass er bei seiner Theorie im Recht ist, die ihn von Freud entfernt hat, sondern er versteht auch, dass seine Libido, die freie schweizerische Liebe, ein Symbol für die Freiheit der Europäer ist, die alsbald in einem Meer aus karminrotem Blut versinken wird, hellem, pulsierendem Blut – wie aus dem kämpfenden Körper eines getroffenen Soldaten.
Doch dieser Blutstrom, der Europa in Zukunft ertrinken lassen wird, ist nicht das einzige deutliche Anzeichen für eine sich verändernde Zeit. Auch die menschlichen Bindungen werden in der nächsten Zeit hart auf die Probe gestellt werden, so prophezeit ihm sein Unterbewusstsein, und im Vorgriff auf einen Kongress, der im September 1913 stattfinden wird, ahnt C. G. Jung, dass das Leben, das er in geistiger Verbindung mit seinem Mentor Sigmund Freud die letzten Jahre verbracht hat, endgültig aus und vorbei ist – die Trennung als einzige Möglichkeit einer Befreiung seines Geistes von den Fesseln seines Lehrers. Denn dieser hat nicht in allen Punkten seiner Psychoanalyse recht, und das weiß C. G. Jung, und eben jenes Wissen ist es, das ihn zu der Annahme führt, dass eine Entzweiung unausweichlich ist, denn die Optionen, die er besitzt – schweigen und sich selbst erniedrigen oder etwas sagen und den Bruch heraufbeschwören – sind beide nicht von der Qualität von Entscheidungen, wie sie Menschen gerne und mit einem beruhigten Herzen treffen wollen.
C. G. Jungs Alpträume sind die Reproduktion dieser bevorstehenden Entscheidung, die er zwar instinktiv mit jedem Brief, mit jedem veröffentlichten Text, mit jeder Vorlesung an der Universität trifft, aber offen kann er mit dem ebenfalls körperlich und geistig schwächelnden Freud nicht brechen, nicht nachdem dieser in München am Ende des vorigen Jahres vor den Augen Jungs zusammengebrochen war. In seinem Traum sieht Jung sich vor einem Altar niederkniend, direkt unterhalb der gestrengen Augen seines geistigen Vaters, den Kopf gesenkt, in tiefer Andacht. Doch als er seinen Kopf erhebt und dem geistigen Vater entgegenblickt, bemerkt er dessen Augen, die wie so manche Madonnenstatuen zu weinen beginnen, und als C.G. Jung in seiner Verwunderung bemerkt, dass es Blutstränen sind, weiß er, dass er schuldig ist – und wie sehr ihn diese Schuld quält, bis tief in die Träume seiner Welt hinein, erschüttert bis ins Mark – da überkommt ihn das Gefühl der Einsamkeit, der Unzufriedenheit, und diese Welle der Angst, gepaart mit einer gegen sich selbst gerichteten Wut, gebiert einen wallenden Zorn, der ihn von den Stufen vor dem Altar aufstehen und zu seinem geistigen Vater aufrecken lässt, ehe er diesem mit einer Lanze nicht nur in die Seite sticht, sondern in alle Körperteile, die dazu auserkoren sind, die Libido zu beherbergen. Blutschwalle treten aus den Wunden, überfluten die Kirche, überfluten die Nachbarschaft, überfluten das Reich und schließlich Europa, während C. G. Jung beim Ausbrechen der Flut tapfer auf dem Boden vor dem Altar niedersinkt, allein, um Vergebung bittend, dass er keine andere Wahl hatte, denn fehlerhaftes Schweigen wöge für ihn schwerer als jeder Verrat, da es ein Verrat an einem selbst wäre – und welcher Mensch könnte schon Freund eines ertrinkenden Europas sein, wenn er sich selbst kein Freund mehr sein kann?

Andreas Prucker: Warum

Tvb7ub9 tollwütiges Tanzhaus Liebe.
6ghu als Aluhut-Aber-glaube einer Vergangenheit, was gegenwärtig weiter bestehen bleibt.
Warum?
Baustelle Kultur ist die Baustelle der Zwänge im tollwütigen Eingriffsraum von verzerrter nicht verstandener Liebe. Ich will eine Eingriffszange für mein Gehirn, damit es sich um 180° drehen kann und ich diese neue Dissonanz in der Welt besser verstehen kann. Schon bekommt der Begriff Zangengeburt ein anderes Gewicht.

AI als authority income wird uns subtil und leise, wie feige zum neuen Aberglaube bewegen und es ist nicht meine Aufgabe als Care Arbeit, dies falsche verstehen von Sprache zu befrieden und zu verhindern ansieht. Ja, Chat GPT als neuen Aluhut finde ich folglich gut.
Ein auflösen von kulturellen Zwängen ist nur dann möglich, wenn ich es über meine Art für mich allein machen kann, was aber in prägender Erziehung kaum akzeptiert wird, da ich mich nicht ganz konform bei Lösungen außerhalb der autoritären Elektronik bewege.

Der kulturelle Krieg als Trieb ist ein manipulativer Eingriff in die Vorstellungen von Liebe und
folglich eine dumme Liebe, oder täusche ich mich und Missstände sollen ja bewusst Missstände bleiben, um damit profitable Geschäftsmodelle, über neue kulturelle Zwänge, als Trend im Zeitgeist über falsch verstandene Sprache zu erziehen.

Wir alle rügen sprachlich alle kriegerische Aktionen und verdienen an politischer sprachlicher Rüstung ungemein dazu und diese kriegerischen Missstände sollen doch deswegen, bitteschön Kriege bleiben.

Ist wie: Das unberechenbare an Trump, ist an den Börsen berechenbarer für neue Gewinne. Also eine schizophrene Welt, die man sich hier erstellt. Man muss nur für sich lernen, damit umzugehen. Somit ist dies alles eine Baustelle von verzerrten Wahrnehmungen, die wir für ein orientieren lieben.

Ja. Die Entfremdung des Menschen von sich selbst nimmt dadurch verstörende Züge an.
Uns Delphine macht es furchtbar traurig, das mitanzusehen.
Ich denke, wir werden euch bald Adieu sagen müssen.

Theobald Fuchs: Wenn die Zukunft mit voller Absicht am Wartehäuschen vorbeifährt

Jetzt hatten sie schon so lange über das Wesen der Zeit nachgedacht, dass es langsam echt Zeit wurde. Für eine Antwort, wie und was das alles, woher sowieso, die Leute waren schon recht ungeduldig geworden.

Mit immer neuen Ausreden waren DIE DORT dahergekommen, hatten wirres Zeug geredet, um Zeit zu gewinnen. Dass es ein beträchtliches, also ein echt arschschwieriges Problem sei, hatten SIE gesagt, alleine wenn man daran dächte, wie mörderkurz die Gegenwart sei, jammerten SIE, eigentlich nur der Bruchteil eines Moments und dazu davon noch ganz viele, weil ja jeder Ort im Universum ein eigenes Hier und Jetzt habe, also sei man mit unendlich vielen Gegenwarten konfrontiert, klagten SIE, was per se keine schöne Situation sei, und dann auch noch der Druck von der Straße. Leute, die fordern, endlich die Wahrheit mitgeteilt zu bekommen, Leute, die nicht länger warten wollen. jetzt Ergebnis her, aber zack! Sonst Schluss, es reicht, ihr hattet genug Zeit.

Unterm Strich, global betrachtet keine einfache Gemütslage. Umso erstaunlicher, dass es dann doch noch klappte, das mit der Antwort, dass also wirklich DIE DORT die Lösung fanden, alles erklärt werden konnte, komplett in Einklang mit dem Dings, der Relativität, nicht wahr? Und dem Trick mit den Uhren, mit der Urzeit ohne サhォ auch – muss man gar nicht weiter ausführen, weil das ja automatisch folgt, wenn man die Lösung kennt.

In einem Wort: Wahnsinn! Die Lösung verblüffte alle. Wegen ihrer Einfachkeit mit サkォ zum einen, das war kaum zu glauben, wie simpel, dass da vorher, also vor DENEN niemand darüber gestolpert war, aber na gut, manchmal findet man ja selber etwas nicht, und am Ende sitzt du auf der Fernbedienung. Und andererseits – was war das nochmal, jetzt muss ich selber nochmal kurz nachdenken, Moment… ach ja, die Lösung ließ sich absolut verständlich in unter einer Minute erklären, als ob es ein Nichts wäre, aber das hatten wir schon, genau.

Und zum anderen wurde klar, dass wir es halt auch schon immer gewusst hatten, bloß halt nicht kapiert, dass das so ist. Dass man wirklich soo lange auf dem Schlauch stehen kann – geschenkt. Auch zwei Mal wegen mir. Aber eigentlich hätten DIE DORT schon etwas früher darauf kommen können, ich meine, wie stumpf kann man sein? Niemand wartet gerne. Da sind SIE wirklich in der letzten Sekunde rübergekommen mit Brauchbarem, arschknapp. Aber jedenfalls hat sich diesmal das Warten echt gelohnt, mega Hammer die Auflösung, wirklich echt. Soderle, und ich muss jetzt wirklich weiter, Tschaui!

FD: Jetzt

Sie fand sich in einer Art Bibliothek wieder, nur dass in den Regalen keine Bücher standen, sondern
Glaskugeln lagen, ordentlich nach Datum und Uhrzeit sortiert, in denen – ähnlich wie in einer Schneekugel – Farben und Bilder wirbelten. Bei genauerem Hinsehen fielen ihr die Beschriftungen auf: Schaukel, Nordseeurlaub, 24.07.1993; Geburtstagskuchen, 01.10.1995; verschüttetes Wasserglas, Grundschule, 16.04.1997. Je weiter sie an den Regalen vorbeiging, desto weiter schritten die Daten voran. Sie ging an „Chemieunterricht, 8. Klasse, 09.05.2003“ vorbei, überging Schulwechsel, Abitur und Studienbeginn, arbeitete sich durch Auslandsaufenthalte, dramatische Trennungen, das erste Mal MDMA. In manchen Kugeln waren klarere Bilder enthalten, andere sehr verschwommen, wieder andere schienen sich im Moment des Daraufschauens zu verändern. Oder waren sie in einem ständigen Prozess der Veränderung?
In der Ferne konnte sie sehen, wie sich das Regal auflöste, klare Ordnung ging in eine Wolke über. Als sie ihr näher kam, wurde ihr klar, dass auch die Wolke aus tausenden kleineren und größeren Glaskugeln bestanden, alle gefüllt mit einer Art farbigem Rauch. Manchmal schien sich hier und da ein Bild zu manifestieren, bevor es sich plötzlich wieder auflöste. Alle paar Sekunden verfestigte sich in einer Kugel ein Bild und sie reihte sich in das letzte Regalfach ein. Sie las die Beschriftung der letzten Kugel, die gerade in das Regal gerollt war: Traum, Gedächtnisregal, letzte Kugel 20.05.2025, 15.34 Uhr. Dem folgte die nächste Kugel, darin zu sehen das Schildchen, das sie eben gelesen hatte: Traum, Gedächtnisregal, letzte Kugel, 20.05.2025, 15.34 Uhr. Darunter die Beschriftung: Traum, Regal, Beschriftung der letzten Kugel, 20.05.2025, 15.34 Uhr.
Neben ihr war in den letzten Augenblicken eine Figur erschienen, die sie nun mit strengen Augen ansah. „Vergangenheit und Zukunft. Deine Aufgabe ist es, den gegenwärtigen Augenblick einzufangen“, sagte die Figur und reichte ihr einen Köcher, mit dem man vielleicht Insekten oder Schmetterlinge fangen könnte. Sobald sie den Köcher in der Hand hatte, war die Figur wieder in die Ferne gerückt. Aber die Aufgabe schien ihr außerordentlich dringlich und mit der Nichterfüllung eine gehörige Strafe einherzugehen. So machte sie sich sofort daran, mit dem Köcher aus der Glaskugel-Wolke Glaskugeln zu fangen. Hatte sie jedoch erfolgreich eine Kugel mit dem Köcher erwischt, schien sich diese sofort in Luft aufzulösen, um dann augenblicklich mit Schildchen und Beschriftung versehen im Regal wieder aufzutauchen. Egal wie schnell sie versuchte, eine Kugel einzufangen und festzuhalten, sofort war sie wieder verschwunden.
„Glaskugel-Traum, Versuch Nr. 12, 20.05.2025, 15.35 Uhr“, las sie auf dem letzten Schildchen und schlug umso energischer mit dem Köcher auf die Kugeln ein.
„Das ist doch ganz unmöglich!“, schrie sie zu der Figur im Hintergrund.
Da wachte sie auf, etwas verschwitzt, aus dem Mittagsschlaf auf dem Sofa. Wo war sie? Welcher Tag war es? Ihre Uhr zeigte 15.36 Uhr.

Felix Benjamin: Emma Verreist

Hügel und Felsen ziehen vorbei. Papa fährt seit Stunden auf der Autobahn geradeaus, Mama blättert auf dem Beifahrersitz in einem dicken Reiseführer. Auf dem Rücksitz versucht Emilia zu verstehen, was Alice erlebt, nachdem sie durch ein wundersames Loch in der Erde gefallen ist.
Sie dreht die Lautstärke ihrer Kopfhörer so hoch wie es geht, doch vergebens. Das Hörspiel wird durch das monotone Brummen des Motors und das Wispern ihrer Eltern übertönt. Emilia blickt auf die bergige Wildnis, die sich entlang der Straße erstreckt, und stellt sich vor, dass es dort draußen Löcher gibt, durch die man in andere Welten geraten kann.
„Verdammtes Arschloch!“ brüllt Mama plötzlich und knallt das schwere Buch vor sich auf das Armaturenbrett. Papa hält den Blick stur auf die Straße gerichtet, verzieht keine Miene, seine Hände umklammern das Lenkrad.
„Hörst du mir überhaupt zu?“ schreit Mama und schlägt mit der flachen Hand gegen Papas Schulter, einmal, zweimal. Das Auto zieht leicht nach links, bevor er es wieder unter Kontrolle bringt. Er sagt nichts, reagiert nicht, als wäre Mama Luft für ihn.
„Lass mich raus, hörst du? Lass mich hier raus!“ Mama schnallt sich ab, der Gurt saust zurück, dann reißt sie die Tür auf und der Fahrtwind braust herein. Sie setzt einen Fuß hinaus, als wollte sie sich aus dem fahrenden Auto stürzen.
Papa bremst abrupt. Emilia kippt nach rechts, wird in den Gurt gedrückt und ihre Kopfhörer fallen herunter. Die Reifen quietschen und das Auto kommt auf dem Seitenstreifen zum Stehen.
Ohne ein Wort knallt Mama die Beifahrertür hinter sich zu und rennt los. Emilia sieht ihr nach, wie sie über die Leitplanke klettert.
„Mama!“ schreit Emilia. Während Papa regungslos sitzenbleibt und weiter geradeaus starrt, öffnet sie die Tür und läuft Mama hinterher. Als Emilia es mit aller Kraft über die Leitplanke geschafft hat, ist Mama ihr schon weit voraus. Ihre Gestalt wird immer kleiner, bis sie schließlich zwischen den Felsen verschwindet.
Emilias Herz klopft wild. Was, wenn Mama springt? Was, wenn sie sich von einem dieser riesigen Felsen in die Tiefe stürzt? Emilia hat solche Angst, eine alles verschlingende Angst, dass Mama gleich einfach weg ist. Für immer. Ihre Beine brennen, sie stolpert, schürft sich die Knie auf, aber sie läuft weiter. Sie schreit immer wieder nach ihr, kann Mama aber nirgends sehen.
Auf einmal hockt sie vor ihr. Emilia bleibt stehen und braucht einen Moment um zu begreifen, was Mama tut. Sie hockt da und pinkelt. Emilia starrt sie an, erleichtert und verwirrt zugleich.
„Was glotzt du so?“ faucht Mama und verengt ihre Augen zu schmalen Schlitzen. Sie steht auf, zieht ihre Hose hoch und wirft Emilia einen kalten Blick zu, als wäre sie die Schuldige an all dem. Dann geht sie langsam zum Auto zurück, neben dem Papa steht und die Landschaft fotografiert.
Mama steigt wieder ein und Papa setzt sich zurück ans Steuer. Emilia rührt sich nicht. Wie eingefroren sieht sie ihren Eltern nach. Sie fühlt sich plötzlich seltsam leer. Als in der Ferne ein Kaninchen vorbeihoppelt, folgt Emilia ihm, ohne zu zögern.

Christian Knieps: Quality-Time

Ich bin auf dem Weg in den Keller, um die Wäsche aus der Waschmaschine in den Trockner zu räumen. Tür auf, Wäsche raus, Tür zu, ausschalten, Tür vom Trockner auf, Wäsche rein, Tür zu, einschalten. Ich drücke den Rücken durch, atme tief ein und aus, lausche kurz, nehme mein Handy aus der Hosentasche und möchte ein paar Nachrichten lesen, als von oben ein durchdringendes Kindergeschrei zu mir dringt. Ich stecke das Handy weg, schalte es noch in der Hosentasche aus, laufe nach oben, sehe die Ursache des Geschreis, ärgere mich, worüber die Kinder sich geärgert haben, und erkläre beiden, dass die Spielsachen dafür da sind, dass beide damit spielen können. Ich verzichte für den Moment auf den spannenden Bericht, den ich in meiner Online-App gesehen hatte, möchte ihn mir für später merken und weiß jetzt schon, dass ich ihn nur per Zufall wiederfinden werde. „Nicht so wichtig“, sagt meine Frau immer, und sie hat recht, es ist bei weitem nicht wichtig, aber das Lesen des Artikels in völliger innerer und äußerer Ruhe wäre für mich reine Quality-Time, etwas, von dem ich nur noch eine vage Ahnung habe, was das einmal war. Das Spannende am Vaterwerden und der Übernahme von Babycare und erweiterten Haushaltsprozessen ist nicht so sehr die Veränderung im Verhalten, die damit einhergeht; nicht die aufbauende Bindung zum Baby, die man trotz aller Sorgen und Arbeit niemals infrage stellt, nicht das eigene Fertigsein und Arbeiten am Rande eines Burnouts, nicht die Streitereien innerhalb der Partnerschaft, die durch einen veränderten Fokus neu verhandelt werden müssen, nein, es ist das eigenständige und höchst freiwillige Aufgeben des eigenen Zufriedenseins, in dem festen Glauben, dass das Vatersein den Verlust nicht nur ausgleicht, sondern sogar übertrifft.
Dem ist – zumindest bei mir – nicht so; und mir wird langsam bewusst, dass es allen Beteiligten gegenüber unfair ist, das zu erwarten. Ich stecke in diesem Gedanken, als ich es rieche – schnappe mir das Kind, lege es auf den Unterarm, greife professionell in die Windel, schiebe sie weg, sehe und rieche den Haufen, mache Spaß mit dem Kleinen, bringe ihn zum Wickeltisch, hole eine neue Windel raus, Body auf, Windel auf, Feuchttücher, Windel als Paket zusammenfalten, ab damit in den Windeleimer, neue Windel an, Body zu, Kind wieder runter vom Wickeltisch – zum Glück ist Sommer, da geht das alles einfacher. Wo waren meine Gedanken? Ehe ich ihn wieder aufnehmen kann, erreicht mich die Frage – ist es eine Frage oder etwas anderes? –, ob ich mich um das andere Kind kümmern kann, da bei meiner Frau ein eigenes Bedürfnis ansteht. Ich nehme die Kleine, gehe zur Couch, setze mich, fange an zu spielen, da kommt der Große und reißt mir beinahe die Kleine aus der Hand. Schimpfen bringt nichts, die Kinder sind in dem Alter bei sich selbst, also werde ich zwar lauter, aber mehr körperlich, was den Großen zur Rauferei auffordert – ein klassischer Fall in meinem Leben, wo ich versuche, nonverbale Kommunikation mit dem Kind zu führen, es aber völlig anders verstanden wird – der Erfahrungshorizont und die Kontextualisierung und so. Hilft der Gedanke? Im Moment keinen Meter!
Das Kind auf dem Arm fängt bald das Nölen an; es hat Hunger und ich warte auf die Rückkehr meiner Frau, die das Kind doch hören muss. Stehe auf, laufe herum, wippe, gebe dämliche Laute von mir, die jedoch schon länger weit unterhalb der Schamgrenze sind, seitdem diese auch massiv verlegt wurde, stupse das Kind mit meiner Nase an seins, knutsche es, lache gestellt, doch als sich das zarte Lächeln bei ihr in einen Ausdruck bitterster Zitrone verwandelt, weiß ich: Es ist kurz vor der Eskalation. Zum Glück kommt meine Frau von ihrer Quality-Time zurück (a. k. a. Toilettenbesuch), fordert von mir einen obligatorischen, wie im Ergebnis unsinnigen Windelwechsel ein, den ich natürlich durchführe, und kaum, dass die Kleine an der Brust der Mama ist und ich den Gedanken an den Artikel aus dem Keller wieder greifen kann, kassiere ich die nächste Aufgabe und halte meinen Großen davon ab, auf meine Frau und das Baby zu klettern, wehre die zarten Versuche einer Rebellion gegen meine Umklammerung ab, gehe mit ihm in die Spielecke und teile meine Spielzeuggarage, in der er seine Autos parken möchte. Den Artikel habe ich längst vergessen, war aber wohl auch nicht wichtig.