Elmar Tannert: Ins Land der Franken fahren

In den guten alten Zeiten klang das Wort „Budget“ nicht nur französisch-elegant, sondern durch das gedehnte „e“ am Schluss auch sehr großzügig: „Büdschee“. Im Zuge der Anglisierung Europas ist auch sein Stiefzwilling von der Insel bei uns bekannt geworden, den man genauso schreibt, aber barsch bellend „Batschitt“ spricht. Bezeichnenderweise hat sich das englische Batschitt in Koppelung mit dem Wort „low“ verbreitet, mit Vorliebe im Jargon der Cineasten. Ein low budget-Film ist, wie wir wissen, ein Film, der mit einem Minimum an materiellem Aufwand gedreht wurde.
Inzwischen sind wir soweit, dass Batschitt das „low“ gar nicht mehr braucht, um billig zu klingen. Eine Hotelkette hat dies als erstes bemerkt und flugs das Wort mit ihrem Namen kombiniert, und nun prangen die zwei Wörter, Hotelname plus Batschitt, an vielen grauen Gebäuden, die sozialistischen Plattenbau-Charme versprühen und oftmals in Gewerbeparks an Stadträndern auf verzweifelte Reisende mit schmalem Geldbeutel lauern – Leute wie mich also.
Die Gründe zu nennen, weshalb ich in Würzburg übernachten musste, und dies möglichst preisgünstig, würde hier zu weit führen. Kommen wir lieber gleich zur wesentlichen Feststellung, die ich etwa so umreißen würde: Ein solches Ausmaß an Trostlosigkeit auf gleichbleibend hohem Niveau, vom abendlichen Empfang am Rezeptionsautomaten bis zum industriell vorfabrizierten Frühstück, hatte ich für meine bescheidenen fünfzig Euro weder erwartet noch bisher so erlebt, nicht einmal in den Ländern, die man früher unter „Ostblock“ subsumierte. Um diesen Effekt zu erzielen, greift die Leitung des Hauses zu allen Mitteln. Ist man etwa nach Eingabe diverser Geheimzahlen ins Innere des Hauses vorgedrungen, oder, mit anderen Worten: Hat man per Kreditkarte das Zimmer bezahlt, ohne vorher prüfen zu können, wofür man sein Geld ausgibt, wird man bunter Broschüren ansichtig, die sich mit liebevoll ausgewählten Abbildungen der Würzburger Altstadt als besonders wirkungsvolles Kontrastmittel erweisen, um dem Gast vor Augen zu führen, in was für einer architektonischen Zweckmäßigkeitshölle er da gelandet ist.
Es fehlt dieser Sorte Hotel eigentlich nur eines: Der vollautomatische Gastroboter, der an rauhen Winterabenden noch frohgemut durch die zugigen Straßen des Gewerbeparks flaniert, um, bevor er sich zur Ruhe legt, seine Seele an den lauschigen Autowerkstätten und Speditionshöfen zu erbauen und seinen Hunger im drei Kilometer entfernten Schnellrestaurant zu stillen, und später, in seine Zelle zurückgekehrt, selig über dem Faltblatt einschlummert, das ihm eine Karriere als selbständiger Franchise-Hotelierroboter anpreist. Den menschlichen Gast dagegen versetzt die Lektüre in Weltuntergangsstimmung, denn nun hat er die Gewissheit: Dies Hotel, in dem er nächtigt, ist nicht etwa durch ein bedauerliches Versehen zustandegekommen, ist kein einmaliges Missgeschick, dessen Ausradierung kurz bevorsteht, sondern wird sich noch in unzähligen weiteren Exemplaren über die Welt verbreiten, wird Reisende mit vermeintlicher Preisgünstigkeit in Zimmer locken, aus deren Fenstern man sich stürzen möchte, und mit seiner puren Existenz den Begriff „Gastlichkeit“ verhöhnen. „Sowas lebt“, ist der letzte Gedanke des Reisenden, bevor er sich im Elend seiner sterilen Herberge, die ebenso artgerecht ist wie der Käfig einer Legebatterie, in den Schlaf weint, „sowas lebt, und das Parkhotel in Fürth musste sterben …“
Ein Batschitt-Hotel wird niemals sterben. Jeden Tag Punkt zehn Uhr vormittags, wenn der letzte Gast das Weite gesucht hat, wird es durch einen ausgeklügelten Mechanismus in die Hölle hinabgesenkt und von armen büßenden Seelen in seine Einzelteile zerlegt, mit siedendem Schwefelwasser gereinigt, desinfiziert und pünktlich zum Check-In am Nachmittag wieder zusammengesetzt und an die Erdoberfläche gehoben. So wird es mitsamt seinen Artgenossen die Zeiten überdauern, immerdar, und falls das nicht stimmen sollte, dann versteht es zumindest perfekt, den Anschein zu erwecken, als ob es so wäre.
Nichts gegen ein kleines Budget – aber vielleicht sollte man vom low budget-Film hin und wieder auch den künstlerischen Anspruch übernehmen. Damit die Realität nicht zum schlechten Film wird.

 

Franz Walser: Erstis verteidigen

Das hier ist ein Plädoyer für Erstis. Für die Innenseiter, für die, die es bald geschafft haben werden. Ich will sie endlich nicht mehr angreifen, sondern zumindest ein Mal in Schutz nehmen. Seit Jahren zieht man über sie her, Facebook-Seiten werden gegen sie erstellt, Hetze oft großgeschrieben. Sie sind Lachnummern und wir finden es gut. Warum eigentlich? Haben wir sonst nichts, worüber wir uns lustig machen können?
Waren wir nicht alle mal Erstis? Ich zumindest schon. Dreimal sogar. Kann ich weiterempfehlen, die Straßenbahn ist kostenlos, das Alkoholproblem auch (fast) man lernt neue Leute kennen und irgendwann ist man routiniert und garnix ist mehr peinlich.
Betrachtet doch ausnahmsweise die andere Seite, ihr Lieben. Hey, es ist wirklich nicht einfach. Jahrelang von Helikoptereltern großgezogen. Maßnahmen zu jedem Dreck in der Schule, Gewaltfreie Kommunikation zu erlernen ist überhaupt das Wichtigste. Zum Essen gibt’s Grünkernküchle (alter ich werd wütend wenn ich nur dran denk nix gegen Gemüse aber im Ernst was is los manchmal) und Schnitzel von Kälbern, die bei Vollmond zu Tode gestreichelt wurden. Und alle in der SMV mitgemacht, mit Leuten, die man seit der fünften Klasse kennt, außer Johnny, der war schon im Kindergarten mit am Start. KOMM EY! Kein Wunder, dass man da im ersten Semester gar nicht zurecht kommt mit uns abgebrühten Langzeitstudierenden. Das dauert halt einen Monat oder zwei, bis das gesparte Geld von Omas Abigeschenk verballert ist und man sich zum ersten Mal für das Billigpesto entscheiden muss. Das Saufverhalten passt sich auch erst nach der dritten WG-Party an und ey, dass der AK gegen Rechts mehr die Billovariante von der Jugendantifa ist und die geilen Leute da wenig Bock drauf haben und lieber in der Pilsbar ihren Lohn aus der Kneipe versaufen – das sind Lebenserfahrungen, die brauchen Zeit, da muss man sich erstmal drauf zu entwickeln, bis man ausreichend abgestürzt ist und keine Lust mehr hat auf die ganze soziale Scheiße, weil eh alles unausweichlich den Berg runter geht. Ausgrenzung von Eingegrenzten, nennt sich das, was da betrieben wird mit den Erstis, und es gefällt mir nicht.
Apropos Mobbing gegen Menschen, die alles haben: Work’n’Travel-Kids. „Boah voll schwer wieder deutsch zu reden, ich hab voll die Wörter vergessen, like seriously!!“ Ja, da haben wir alle schon herzlich drüber gelacht; diese Vollidioten, ne, haha. Perspektivwechsel: Da hängt ein Mensch, ausgestattet mit allem, was die gehobene Mittelschicht zu bieten hat, ein Jahr in einem anderen Land ab. Da gibt es dann auch alles, was man „von daheim“ schon so kennt: Freie Wahlen, schöne Natur (Räuberhose nicht vergessen), Großstädte, fremdenfeindliche Innen- und Außenpolitik, und Google. Man kann sich wirklich nicht beklagen. Okay, Riesenspinnen und Krokodile. Sonst chillig. Nach diesem Trip kommen die Leute zurück und beherrschen ihre Muttersprache nicht mehr? Ich lache da nicht drüber, ich mache mir Sorgen.
Ich stelle das jetzt mal ganz offen in den Raum: Gehen wir auf diese Menschen zu oder grenzen wir sie aus? Wollen wir so den Weg beschreiten, den Friedrich Merz uns bereiten wird, ist das unsere Vorstellung vom schönen Leben? Wo ist sie denn, unsere Willkommenskultur? Hey Ersti, komm‘ her, ich lad‘ dich auf ’nen Fernet ein und danach erzählst du mir was von Kängurubabys. Du zahlst mir ein Pils und ich erklär‘ dir, warum die Gesellschaft nicht das Stück Dreck ist, für das du sie mit 14 gehalten hast, sondern noch viel, viel schlimmer. Wird ’ne wilde Nacht am Tresen und danach schicken wir die Selfies nur uns selber.

Tibor Baumann: Im Fluss ist es still

And am I born to die?
And lay this body down?
And as my trembling spirits fly Into a world unknown
A land of deeper shade
Unpierced by human thought
The dreary region of the dead
Where all things are forgot

David Tibet / Current93 Idumae,
Black Ships ate the sky

Die Nacht umschloss sternenklar das Land.
Wie drohend schwarz-lilane Wolkenberge, die sich stürmend den Horizont erobern, versank er mit all seinem Leben, sein ganzes Ich, in einem Strudel, der ihn stumm wie den Kosmos machte. Mit kaltem Wind die Ahnung des kommenden Sturms, wie das Grollen, herannahender, preschende Pferde einer Streitmacht. Und dann war es immer still; in dieser Stille flog er. Klares Wasser, das war es schon immer gewesen, Wasser, dass ihn umgab. Und die Wolkenpferde, die preschten voran, Steine versprengend, trugen sie ihn und waren doch nur Gischt und Schaum. Es verstummte sein Vater, der alte Adler; eine Sternschnuppe die aufleuchtend verglühte. Und letztlich fühlte er, wie er gezeugt wurde, eine Nova, ein Aufkeimen, eine Vereinigung und ein vergehender Prozess im Moment seiner Entstehung.
Edgar schlug die Augen auf und starrte in das im silbrigen Dunkel liegende Schlafzimmer. Sein Inneres war aufgewühlt wie aufschäumendes Wasser, das den Fels hinabstürzt. Neben ihm, tief in den weißen, gestärkten Laken schlief entrückt seine Frau. Edgar fühlte deutlich das Zimmer, das Haus, den großzügigen Garten, die Stadt, jeden Raum um sich herum, als wäre er in spiralförmigen Muscheln eingebettet, die ein Außen kannten und doch kein Außen hatten, da sie sich in ewiger Wiederholung in einen neuen Raum verwandelten.
Edgar setzte sich unsicher auf, rückte auf die Bettkante. Über die breite Treppen, die dunklen hölzernen Stufen, schlich sich das Ticken der Uhr hinauf. Edgar hob den Blick und sah durch die Länge des Schlafzimmers, als ob er dem Geräusch entgegen sehen könnte.
Eine Weile saß er nur dort. Dann stand Edgar traumwandlerisch auf und verlies leise das Schlafzimmer. Nur eine schmale Shiloutte des Mannes, der am Tag so viel Macht und Kraft ausstrahlte.
Über die Balkonade die die beiden Flügel des Familiensitzes verband, ging er in sein Arbeitszimmer. Langsam, vorsichtig setzte er sich unter den ölfarbenen Augen des Familienporträts der Steins, in seinen Arbeitssessel. Sein Blick suchte etwas im Dunkel, an den Rücken der Bücher in den hölzerneren Regalen, in den rauschenden Blättern, die vor dem Glas der Fensterscheiben mäandernd das Mondlicht unterbrachen und wispernd von einem Draußen erzählten.
Plötzlich atmete Edgar ein, sich erinnernd dem Ersticken nahe zu sein, fliehend, sich an das Leben krallend, als wäre er beinahe Untergegangen, schöpfte er tief Luft.
Mit großen, festen Händen, strich er sich das dunkle Haar und die silbernen Streifen nach hinten. Ein Geste voll Würde, trotz des schief sitzenden Schlafanzuges. Dann knipste er die gelb schienende Schreibtischlampe an und zog mit energischer Geste die bereitgelegten Unterlagen zu sich.
So endete Edgar Steins Nacht bevor der Tag anbrach.
Es würde ein sonniger Tag werden; als ob der Herbst dem Sommer ein letzten, schwachen Glanz gewähren wollte, bevor das Grau sich über das Land legen würde.
Der alte Kern der Stadt thronte mit Schloss und Wehr über dem Fluss und verbarg die sich dahinter ausbreitende Bauten aus Stahl und Glas und die speienden Schlote, das Räderwerk, die Tonnen an Dingen und Material, die verschoben, genommen und wieder gegeben wurden, die sich in Betonadern ergossen, Schneisen durch das Grün und die Berge zogen, bis zur nächsten Stadt, dem nächsten Flughafen, den Bahnstrecken und den unsichtbaren Verbindungen der Menschen, die sich über alles legten: über Land, Fluss und Himmel, über Berge, Meer und Luft hinweg, hinein in die Ebenen der Impulse, der unsichtbaren Konstrukte der Metaphysik, der Gedanken und Informationen, in Überzeugungen und Willen gegossen, sinngebende Riesen ohne Körper, für die wieder aus Stein und Recht, aus Glas und Macht, gigantische Konstrukte und Türme und Mahnmale und Häuser und Plätze errichtet waren.
Die Kirchturmuhr schlug guten Morgen; auch an diesem Morgen. Ein Tag, der so wie jeder anderen im Strom der Zeit sich in die Abfolge aller Dinge reihte.
Tau netzte die Wiesen und Wälder deren Wipfel mit bunten Tupfen das Land färbten, die die Stadt einfassten. Wie ein Band zwischen Welten zog sich der Fluss am alten Kern aus mittelalterlichen Bauten entlang, erst weiß und wild, dann klar und blau und schließlich langsam und grün, die Stadt verlassen, in die Wälder verschwindend. Eine riesenhafte Schlange in ruhiger Bewegung, sich der eigenen Größe und Unumstößlichkeit dank der Anpassungsfähigkeit an Fels und Erde bewusst.
An diesem Tag, in dieser Stadt, an jenem Fluss, geschah der Anfang. Es geschah zum ersten mal. Nicht als Auslöser. Nicht in Verantwortung. Nicht als plötzliches Ereignis. Es geschah als Teil der Tatsachen, die sich aus dem mikroskopisch kleinsten Zusammenhang und denen kosmologischen Ausmaßes entwickeln. Unweigerlich und vollkommen; variabel, die Welt, die uns immer solche Angst gemacht hat, da sie, um so tiefer wir in sie blicken, ohne formende Macht, sich selbst bedingt und hervorbringt. Ein solcher Anfang war es.
Hätte jemand bemerkt, dass es hier tatsächlich zum ersten Mal geschah, hätten manche vielleicht von einem Auslöser, dem ersten Verlust, einer sich ausbreitenden Krankheit, vielleicht auch von einem Schuldigen gesprochen. Aber es war ein unbemerkte Anfang; das Gegenteil dessen, was sonst dem Ersten zugedacht ist:
Kein Ruhm, keine Ehrung. Kein Urteil und keine Anteilnahme.
Lilia und Edgar saßen an dem alten, großen Holztisch im Wintergarten, von dem der Blick über den wilden, großen hinteren Gartenteil schweifen konnte. Die bunten Köpfe der Eichen leuchteten bunt und die Sonne fiel glitzernd auf das Paares.
Lilia durchforstete ihre Nachrichten auf dem Tablet, trank gesüßten Kaffee und aß Obst und Nüsse zum Frühstück. Immer wieder sah sie auf und musterte heimlich forschend, ein wenig besorgt, nach einem Moment suchend, da sie seinen Blick fangen konnte, die Züge des Mannes, den sie so gut kannte. Edgar sah nicht auf. Es war keine Missachtung. Er war schon in seinen Tag verstrickt, las die Berichte zu den Vertragsmemo noch einmal und durchsah abwechselnd die morgendliche Zeitung, während er grünen Tee trank. Das Essen ignorierte er. Einer jener Morgen, an denen er nach einer Aufforderung Lilia etwas zu essen erwidert hätte, dass ihm das Leben bis in den Rachen stünde und sich sofort übergeben müsse, wenn er jetzt esse.
Die Keramik klirrte leise, als Lilia ihre Tasse abstellte. Edgar verwarf wieder die Zeitung. Sanft legte sie ihre Hand auf seine.
„Ich nehme den ersten Flieger wieder zurück.“, lächelte sie ihn ernst an. Edgar runzelte die Stirn.
„Nimm dir Zeit. Leopold freut sich.“, erwiderte er wegwischend. Er entzog seine Hand und leerte seine Tasse. Forschend sah sie ihren Mann an, der Aufstand und das dunkelblaue Sakko anzog, die Manschettenknopf gehaltenen Hemdaufschläge hervorzog, die Weste zurechtrückte, den linken Arm schüttelte und so die Uhr an ihren Platz brachte.
Seine strenge Haltung verriet nichts. Aber Lilia kannte ihn nun schon zu lange. Seine innere Unruhe war wie ein dunkles Tier, das im Augenwinkel lauert. Als wäre da eine Vorahnung, die er nicht zu benennen im Stande war.
Mit flachen, festen Händen strich er die dunklen, silber durchzogenen Haare zurück. Sich aufrichtend, sah er von den Papieren, dem Tisch auf, hinaus, in die Ferne. Seine Habichtgestalt warf den Schatten lang in das hinter ihm liegende Haus.
Mit einer Absage in der Geste griff Edgar nach dem Memo, der Zeitung, schob es in seine Ledertasche. Die Hand auf ihrer Schulter, küsste er Lilia auf die Stirn.
„Sag dem Jungen, ich bin stolz auf ihn.“ Lilia sah Edgar erschrocken an; es war ein Abschied. Ihre Hände legten sich kurz ineinander und das so vertraute Gefühl, den jeweils so ungleich empfundenen, aber geliebten Menschen gekannt zu haben, legte einen Zufriedenen Moment in die Gesichter der beiden. Und betonte die Vergangenheitsform, das Gefühl des geschehenen und nicht im Moment sich ereignenden. Edgar nahm Hut, Mantel und Tasche von der Garderobe und seine Schritte verhallten im langen, hohen Flur und verschwand nach draußen. Lilia konnte durch den schmalen Galsstreifen in der hohen Türe sehen, wie der Fahrer hinter Edgar die Türe des Wagens schloss. In seltsamer Art war das der letzte Blick, den sie auf Edgar legte.
Der Fahrer lenkte mit ruhiger Hand den Wagen, der wie ein schwarzes Schiff durch den Verkehr glitt. Edgar besah sich die Welt, von außen, getragen, durch das Vehikel. Die Unterlagen lagen nutzlos in seiner Hand, auf seinem Schoß verstreut.
Er blickte hinaus und sah das Treiben, das vorüber zog, wie ein getragenes Theaterstück.
Edgars Vater war ein strenger, aber liebevoller Mann gewesen, der von seinem einzigen Sohn – bedingt durch den Kindstot des ersten und dem tragischen Unfall, der Mutter und Tochter dem Leben entriss – alles verlangte. Bedingungslosen Erfolg und absolute Hingabe an die Familie und das Leben, also, alle Handlungen und Unternehmungen, die nicht geringer als groß sein durften. Edgar wusste schon früh um seine Privilegien – und das sie nichts wert waren, wenn man nichts damit tat:
„Dein Aufrechter Gang ist ein Geschenk der Evolution, Edgar.“ Sein Vater hatte wie ein alter Adler über den jungen, schmalen Edgar gebogen. „Dank dieser Entwicklung, hat dein Körper die Fähigkeit Energie umzusetzen, die ein so komplexes Gehirn füttert, das zu solch erstaunlichen Leistungen fähig ist.“, fuhr er fort. Es war ein Sonntag gewesen, der Vater im schwarzen Anzug. Tee auf einem Tablett. Ein schweres Buch auf dem kleinen Gartentisch. Der Siegelring an der krallenartigen Hand des Vaters, da er mit dem Zeigefinger auf die Stirn des keinen Edgar tippte, bestimmt, aber frei von Gewalt. „Wir können sprechen und denken und die Welt mit unseren Sprache anreichern; wir denken und formen die Welt, weil wir uns organisieren.“ sagte er mit tiefem Bass und griff die Hände, die kleinen Hände, mit seinen großen:
„Verstehst du?“ Das Haar stand Edgar ein bisschen wirr vom Kopfe, mit dem er ernst nickte. Der Vater strich ihm lobend über die Wange. Stolz den er sparsam ausgab.
Edgar schloss sein Architekturstudium mit Bravour ab und nicht, weil er der beste in den mathematischen Grundlagen, den statischen Eventualitäten oder in der historischen Betrachtung der Errichtung war, sondern weil er es zu einem neuen Gedanken zu konstruieren wusste. Edgar war noch keine dreissig Jahre, als er die Architektur mit dem Gedanken der strukturellen, zivilisatorischen Errichtung verknüpfte. Seine Überlegungen nutzte er um ein Architekturbüro aufzubauen, dass global und anthropologisch dachte. Das Errichten von Häusern, Brücken, Tempeln, das Planen von Netzen und Zusammenhängen von Behausung und Netzwerk, wurde in Edgars Händen mehr als die Planung von Bauunternehmungen. Es war die Idee der Überlegenheit des Menschen; die Architektur als Beweis, wofür anderen Götter, Propheten, Lenin, Kapital oder Erfolg benötigten. Er zog die Menschen in seinen Bann, mit seinen Ideen, seinem Blick und um so älter Edgar wurde um so mehr wurde aus dem Habicht der alte Adler, der mit scharfen Verstand und geschliffenen Worten die Menschen um sich herum mit seiner Idee zu verbinden wusste.
Die Mitarbeiter von „Stein&Stein“ waren Teil einer Idee; seiner Idee der Welt, auf die jedes Bauwerk zu einem besseren Nutzen und größerer Schönheit, effizienter Nutzbarkeit und klarer, zivilisatorischem Überlegenheitsbeweis führte. Architektur und Zivilisation, das Zeichen der Herrschaft des Menschen, ein Alleinstellungsmerkmal, dass es immer wieder neu zu denken galt. Von der hoch bezahlten Managerin bis zum letzten Putzmann, waren sie Teil einer Gemeinschaft, denen Edgar weltweite Privilegien einräumte, Wohn- und Reisemöglichkeiten, Bildung und Entwicklungsmöglichkeiten – im Sinne seiner Idee, die zur Bewegung wurde.
Er errichtete mehr als Gebäude. Er organisierter die Menschen, mit seiner Idee errichtete Edgar Stein eine Gemeinschaft im Glauben an die Geschichte, den Mythos. Von Erfolg waren all die großen Unternehmungen gekrönt, weil Gemeinsamkeit ansprach, die zu Identität durch Zugehörigkeit führt.
Edgars Arbeit führte ihn virtuell über drei Kontinente und in verschiedenen Lebenskontexte. Die Projekte und Absprachen mit hoher Priorität leitete er immer noch selbst. Edgar brachte diese Idee mit sich, wie eine Präsenz, die an ihm, seiner Haltung, seiner Wortwahl hing; der Mythos, die Geschichte die ihn durchdrang öffnete ihm und seinen Unternehmungen Tür und Tor.
Edgar sah auf; der Wagen hielt leise an einer Ampel, deren rotes Licht sich spitz auf die Gestalt des Fahrers legte.
„Ben, drehen Sie um.“ Edgars Stirn lag in Falten. Als wüsste er nicht genau weshalb, aber doch, dass es richtig war. Energisch legte Edgar die Unterlagen zur Seite.
„Fahren sie mich in mein Atelier.“ Der Fahrer nickte knapp und wendete mit grünem Licht den Wagen in die entgegengesetzte Richtung.
Jenes Haus, das Edgar als sein Atelier bezeichnete, hatte er als Ruine erworben, um es neu zu beleben. Jeden Strich, jede Leitung, jedes Stück Putz, alles hatte er selbst getan. Und im Tun, hatte er seine Gedanken ordnen können, die wilden Gedanken eines jungen Menschen. Und geordnet hatte er die Idee entwickelt. Hier hatte ersten Grundstein für sein Imperium, seine Auffassung, seine Geschichte zur Welt errichtet, während er das Haus neu erdacht und erbaut hatte.
Das Haus war schlicht eingerichtet, ein Gegenentwurf zu dem, was ihm das Erbe seiner Familie aufzwang. Keine pompöse, dunkel-eicherne Vergangenheit; Edgar hatte die alte Bausubstanz mit neuen, klaren Linien vereint, die in Glas mündete, so dass der vorbeiziehende Fluss, die wogenden, Bäume, das Gras des sanften Abhangs, der sich über die Wipfel spannende Himmel, Teil des großzügigen Hauptraumes werden konnten.
Edgar stand kaum atmend inmitten der Stille. Den Fahrer hatte er fortgeschickt. Starr, mit kurzen Bewegungen suchten seine Augen, irrten zwischen dem kleinen Tisch, dem dezenten Sofa, dem Draußen, hin und her. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als mochte es sich dafür entscheiden ihm herauszuspringen. Zu beenden, was es vorantreibt, voran, immer nur voran, immer diesem einen, diesem bestimmten, diesem letzten Schlag entgegen.
Vage erinnerte er: fernes grollen; schäumende Pferde, das Vergehen eines hellen Sterns.
Losreißend trat Edgar an die lange Glasfront. Mit leisem Klick löste sich der Hebel und mit elegantem Geräusch glitt die Tür zum Garten, zum Fluss, zur Seite. Der Wind griff nach dem Raum, zerzauste Edgars Haar. Das graue Sakko klappte nach hinten. Edgar trat auf das feuchte, grüne Gras, auf dem bunte Blätter getupft waren. Edgar folgte einem schmalen Weg aus flachen Steinen; in seinen Augen spiegelte sich plötzlich eine Sicherheit, ein folgsamer Instinkt, der ihn leitete, auch ohne zu Wissen wohin.
Zuerst an seinem Grundstück entlang, wo sich nach einer gemauerten Erhöhung der Holzsteg in den Fluss zog, dann zur Böschung wurde, als er durch eine geschlosserte Tür aus dem Grundstück trat.
Er war dem Fluss jetzt nahe. Das stete Rauschen des Flusses ließ ihm die Haare aufstehen; erotische Anziehung, mehr als Lust, aber Verlust des Bewusstseins. Der Pfad zog sich durch einige Büsche, die ihm in seinen Weg ragten, ihn sanft streiften. Das Wasser auf den welkenden Blättern hinterließ dunkle Sprenkel auf seinem Anzug. Und als sich die Büsche lichteten, wand sich der kleine Pfad noch ein Stückchen weiter, über einen Hügel, und verschwand dann nach unten.
Da schoss der Fluss entlang. Sein Herz schlug. Einmal muss es aufhören. Den Sinn erhält der erste Schlag davon, das ein letzter kommen wird.
Edgar trat auf den Buckel, den das Land aufwarf. Einige Schritte unter ihm rauschte das Wasser wild, wie jung, spielend, neckend, bald schäumend um Felsen und Brocken, schnaubte an den Rand seines Bettes.
Edgar trat die Schritte hinab und stand am Rand des schäumenden Gewässers. Die feinen, dunklen Herrenschuhe waren von einigen Sandkörnern hell getupft. Schmal ging Edgar in die Hocke und seine Hand hing in das Wasser, das eiskalt seine Haut zu einer dünnen Membran werden ließ. Trotzdem war er wie starr, die Hand im Kalten, den Blick auf das Weißwasser gerichtet, in dem schäumende Pferde davonstoben, nur um Platz für die nächsten, wilden Scharen zu machen.
Nur die kleine Bucht, an der Edgar stand, war ruhig, lud ein in den Fluss zu steigen.
In alten Zeiten hatten die Menschen sich davon erzählt, dass die Flüsse reinigen, dass ihr Wasser sanft davon trägt, was Unheil und Krankheit, was drohender Tod gewesen sein mag. Und Heilung nur dann erreicht ist, wenn das fortgespült, was von abgeschütteltem Siechtum übrig blieb. Die weißen Frauen und die Scharlatane, die Schröpfer und Pillendreher, die Doktoren der feinen Gesellschaft und die sich kümmernden Mönche, alle waren sie immer an diese Stelle am Fluss gekommen. Dem Wasser wurden Eiter und Verbände, Auswurf und geschröpftes Blut, Fäkalien und Schienen überlassen.
Fortgespült um dem Vergessen zu überantworten, was so viel Leid brachte.
Mit ruhiger Bestimmtheit entledigte sich Edgar seiner Kleidung; sorgfältig legte sie auf einen großen Quader in die Sonne. Dann stieg er ohne Erbarmen in das eisige, rauschende Wasser.
Die Kälte ließ ihn aufheulen. Seine Hoden zogen sich zusammen, die Haut spannte sich wie dünnes Papier über seinen ganzen Laib – tausend kalte Eisen durchgetrieben -, das Wasser wie ein Kokon. Das Rauschen erfasste ihn und er trieb hinab, entging knapp einem Felsen, ging kurz unter. Der Fluss rauschte gleichgültig. Edgar schnellte aus dem Wasser, das Haar hing ihm ins Gesicht, japsend spukte er Wasser, johlte etwas, ein Wort, einen Schrei, einen Jubel – und wurde von schäumenden Wasser erfasst wie ein Blatt im Sturm.
Nach einer großen Biegung, erschienen die hohen Spitze der Berge hinter den Bäumen. Die weißen Pferde und Fratzen aus Gischt verging in sanftes Strudeln; hell, in klarem Blau nahm sich der Fluss sein Bett. Mit entschiedener Kraft trieb er den Körper, den er umschloss, hinab; bis auf den Grund sah Edgar. Seine Füße im eiskalten Blau konnten den Grund berühren, streckte er sich. Im Vorbeigleiten berührte er einen runden Stein, der kurz und träge ein wenig unter Wasser rollte und wieder zum liegen kam.
Edgar hatte den wilden Lauf überstanden. Die Kälte trat zurück. Der Fluss trug ihn, schnell, aber gleichmäßig; vorbei an den letzten Häusern, dem Wald entgegen, der an den grünen Rändern des Flusses begann. Die Wipfel rauschten sanft und einige Blätter fielen in das durchsichtige Wasser.
Edgar machte einige Schwimmzüge und und brachte sich in die Mitte des Flusses, drehte sich vertrauensvoll auf seinen Rücken. Den Blick nach oben, trieb er dahin. Ein Vogel durchkreuzte den blauen Himmel, in Richtung eines Wolkenbergs. Edgars schlanke Gestalt war jede Anspannung genommen. Sein Geschlecht, seine Beine, seine Armee, glitten immer wieder sichtbar zur Wasseroberfläche, hielten sich natürlich im Gleichgewicht. Sein Blick war klar und ruhig.
Der Fluss nahm eine weitere Biegung und wurde tief und ruhig, von dunklem Grün. Und ohne ein Geräusch, ohne, dass es einen Moment des besonderen Ereignis gegeben hätte, verschwand Edgars Körper im Wasser, nach unten, zuerst blasser werdend, dann ganz und gar fort, so dass nur das träge Grün blieb.
Am Ufer hatte ein Alter Baum sein Haupt müde geneigt und einige Äste ragten ins Wasser, in ewiger, nie ausführbarer Vorwärtsbewegung gefangen. Die Wurzeln des Baumes entstiegen der Erde und krallten sich an einen Felsen, der trotzig seine alte, bemooste Haut aus dem Fluss aufhob.
Edgars Hände griffen aus dem dunklen Grün an den Fels. Zwei körperlos Arme. Krallend hielt er sich fest und zog seinen nackten Körper hinauf. Haut auf Stein, das Moos war weich.
Dann saß er dort. Die Sonne fiel durch das Blätterdach. Auf seiner Haut perlte das kalte Wasser. Er öffnet den Mund. Alle Worte waren ihm entwichen, alle Geschichte. Kein Mythos, kein Überzeugung.
Vögel stiegen auf – vielleicht erzählten sie sich vom Tag an dem Edgar die Idee der Geschichte, von Linie und Bau verlor:
Es saß ein nasser Mensch auf einem Stein und trank die Wärme der letzten Herbstsonne.
Edgar Stein wurde zwei Tage nachdem er auf dem Stein gesessen hatte von einer Polizeistreife in seinem Atelier aufgesucht. Frau und Sohn hatten sich Sorgen gemacht, er hatte Termine verpasst, war nicht erreichbar gewesen und auch in seinem Sportclub nicht aufgetaucht.
Die Polizei konnte aber nichts weiter feststellen, meldete aber, dass Edgar Stein nicht verschwunden sei. Aber auf gewisse Weise irrte man sich.
Lilia fand ihren Mann nicht wieder. Edgar wusste alles, kannte sie, aber er konnte nichts mehr von dem aufrechterhalten, was er einmal gewesen war. Etwas schien an ihm zu fehlen; er verstand seine eigene Firma nicht mehr, das Band zwischen den Meilensteinen, die er geschaffen hatte, die Verbindungen zu Menschen, die er nie gesehen hatte, die aber Teil des Stein Imperiums waren, all die Verflechtungen und die fundamentalen Erzählungen, die einmal aus ihm gekommen waren – verschwunden als würde man nach Tropfen aus einem Fluss im weiten Ozean suchen.
„Stein&Stein“ begann zu zerbrechen. Eine Notiz im Wirtschaftsteil.
Als Edgar Stein vor der Öffentlichkeit in die Einsamkeit und schließlich in den verwirrten Selbstmord floh, reihte sich diese Nachricht ein. Zuerst waren auch dies nur Randnotizen. Kurze Meldungen.
Als ein Attentat in der Hauptstadt nicht durchgeführt wurde, weil der junge Mann die Geschichten seiner Anführer vergessen hatte und damit auch den Sinn seiner Aufgabe, die sich in selbst gebauten Sprengsätzen um seinen Leib manifestiert hatten, begann die globale Gemeinschaft ihre Aufmerksamkeit auf das seltsame Verschwinden der Geschichten zu lenken.
Das Erschrecken kam, als Menschen mit Macht, in wichtigen Positionen, religiöse Führer, Konzernleiter, die in der Öffentlichkeit standen, Politiker und Kriegsherren den Sinn ihrer Geschichten verloren und die Zügel losließen.
Die Fälle häuften sich. Das Vergessen wurde immer größer.
Flugzeuge stürzten vom Himmel, Fabriken verwaisten, Züge standen still, das Internet wuchs nicht weiter, Menschen konnten nicht mehr mit mehr Menschen interagieren, als sie sich Gesichter merken konnten.
Unsere Fähigkeit, die uns überleben machte und uns die Geschichte erfinden ließ, wir seien die Krönung der Schöpfung – sie verschwand. Und die Erkenntnis, dass wir keine Krone sind, sondern verwoben, keine Herrscher, sondern Teil dieser Welt, dieser Tiere, dieser kosmologischen Momente, die sich genau zu uns hin entwickelt hatten um sich dann weiter zu entwickeln, diese Erkenntnis trat nie ein.
Wir hielten weiterhin unsere gesprochene Krone fest. Sprachen weiterhin als Herrscher und Bändiger, Bezwinger und Privilegierte.
Vom Ende der Welt wurde gesprochen und geschrieben. Von dem Untergang der Welt. Das Chaos wurde immer größer. Religionen versuchten die Ereignisse in ihre Erzählung zu integrieren, Halt, Trost oder den gerechten Zorn zu spenden; Wissenschaftler suchten fieberhaft nach Erklärung und Heilung, nach einem Modell des Verstehens. Die Politiker entwickelten Strategien, jene die gewählt werden sollten, erzählten ihre Geschichte, was sie tun würden um die verängstigten Menschen hinter sich zu vereinen, während versprengte Randgruppen ihre Stunde gekommen sahen und die verwirrten und alleingelassenen hinter sich sammelten.
Und dann verstummten auch diese Geschichten, die sich wegen der Ereignisse gebildet hatten.
Die großen Gemeinschaften zerbrachen. Die großen Unternehmungen verstummten. Langsam kam alles zum erliegen.
In dem Moment, da wir gezeugt werden, da Samen und Ei sich vereinen, beginnen wir. Ein Prozess. Ein Anfang eines Wunders aus exakten Gegebenheiten – das einem Ende entgegen sehen muss um diesen Anfang zu wagen. Ein erster Herzschlag meint, dass es einen letzten gibt.
Der Fluss entspringt und vergeht vergeht im Ozean. Und Edgar und dieser erste Moment, war vergessen im Meer der Ereignisse.
Der Fluss spült um den Felsen, der sein Haupt aus dem grünen Tiefen hebt.
An diesem Felsen trafen sich früher die Menschen um dem Fluss die Asche derjenigen zu übergeben, die in das Reich der Toten fuhren; eine Verbindung zwischen den Welt. Der Stein als Zeichen der Stelle, an der das fließende Gewässer den Übergang zu einer anderen Welt darstellt. Menschen kamen hier zusammen, um sich gemeinsam zu verabschieden, zu Trauern; Riten verbanden sie, selbst wenn sie sich nicht kannten, die Gemeinschaft wuchs und die Bedeutung wurde von Mund zu Ohr weiter und weiter gegeben.
Bis der Mythos dieser Gemeinschaft verschwand. Eine große, globale Geschichte, die wir uns immer wieder erzählten und die nun verblasst.
Es ruft ein Vogel im Wind. Der Fluss ergießt sich ins Meer und das Wasser vereint sich um aufzusteigen, zu jenen Wolken, die dem fliegenden Freund ein weißer Berg sein mögen. Wer mag sich schon erinnern?
Die Welt wird bleiben. Nur wir überqueren den Fluss. Und dann ist es ein Fels und ein Fluss, auch immer noch. Es wird nur eine weiße Seite bleiben.
Wer untergeht, der hinterlässt die Welt.


Erzähler: Felix Benjamin
Lilia/Stimme: Anja Gmeinwieser
Edgar: Chris Bellaj
Vater: Arthur Roscher

Musik:
Kai Engel
Jared C. Balogh
Daniel Birch

Andreas Lugauer: U-Bahn-Türen

Leute, die ihr bei manuellen U-Bahntüren nur einen Flügel öffnet – eure Strafe in der Hölle sei eine ewige U-Bahnfahrt, ohne Ausstieg, ohne Endstation, es möge dabei immer morgendlicher Werktagsverkehr herrschen, alle Sitzplätze sollen belegt sein, die Stehplätze auch und euer Kopf möge angeschmiegt werden von Schultern, Oberarme sollen euch einklemmen links und rechts und vorne und hinten, Hutkrempen mögen in einer Tour euer Gesicht streicheln und Pelzkrägen ebenso, Hunde eure Hände ablecken, sämtliche Handschlaufen mögen vollgeniest sein mit gelbem und grünem und meinetwegen auch weißlichem Lungenauswurf, Heuschrecken sollen durchs Abteil schwärmen, Frösche eure Hosenbeine hochschleimen, Mücken und Fliegen in eurem nassgeschwitzten Kragen sitzen, Stroh soll herumliegen und ihr euch fragen warum, an jeder Haltestelle mögen Abgase ins Abteil schwallen (und zwar durch vollständig geöffnete Türen!), der Schaffner möge fortwährend unverständliche Durchsagen machen, die verstanden zu haben ihr bestätigen müsst, nach jeder Station sollt ihr kontrolliert und wegen Schwarzfahrens zur Strafkasse geschickt werden, Harn- und Stuhldrang möge euch plagen bis kurz vorm Zerreißen und jede Haltstelle soll aus nichts als Toiletten bestehen (dumm nur, dass ihr ja nie aussteigen könnt), in Erbrochenem von Wochenendnachtfahrgästen sollt ihr stehen bis zu den Knöcheln, der Schweiß soll nicht nur die Fenster beschlagen, sondern auch von der Decke tropfen, der U-Bahnfahrer soll in die U-Bahnhöfe bremsruckeln, dass es euch fast auskommt, der Fahrgast neben euch möge Elektro hören, als sei Samstagnacht im Club, in den Kreißsaal sollt ihr dringend müssen und auf eine Beerdigung, zu einer Prüfung wie zur Konkursverhinderung eurer Firma, der Blinddarm möge euch plagen in der Größe vom Schoße bis zum Halse, die rettenden Insulinspritzen mögen in den U-Bahnhöfen bereitstehen (dumm nur, dass ihr ja nicht aussteigen könnt), euer Vater möge euch vom vorderen Abteilende beäugen und eure Mutter vom hinteren, die Lampen sollen flackern und [Fragment]

Raphael Stratz: Wie wir uns einander passend machen

Ein einzelner Staubfussel kann viel verursachen. Gerät er in einen Rauchmelder, so schlägt dieser unter Umständen falschen Alarm, woraufhin große Fertigungshallen geräumt werden müssen, die Produktion für etwa zwanzig Minuten zum erliegen kommt und wirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe entstehen. Außerdem können die produzierten Waren deshalb nicht rechtzeitig geliefert werden, was einen Handelskrieg mit Paraguay auslöst und letztlich zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Kanada und Dänemark führt.
Ein einzelner Staubfussel könnte auch, sollte er nicht ordnungsgemäß entfernt worden sein, in einem Operationssaal landen. Dort gelangt er an das Besteck der zuständigen Ärztin und verbleibt schließlich im Körper des zu operierenden. Da der arme Mensch aber eine Augentransplantation erhält und sich das kleine Stück Schmutz gar ungünstig hinter seinen neuen Sehapparat klemmt, muss dieser nun für den Rest seines Lebens die Welt wie durch ein beschlagenes Fernglas betrachten.
In meinem Fall fiel der Fussel auf mein Mobiltelefon. Er entschloss sich, dies zu tun, als ich gerade im Wartebereich eines großen deutschen Bahnhofes saß und auf eben jenem Mobiltelefon mit einer Datingapp spielte. Mir war nicht ganz klar, woher er gekommen sein mochte, befand ich mich doch in einem riesigen Saal mit etwa dreißig Meter hohen Decken. Doch vielleicht hatte er einfach einen der vorbeihastenden als Transportmittel genutzt, um auf meinem Telefon Platz nehmen zu können.
Kurz betrachtete ich meinen ungebetenen Gast, entschloss mich dann, meine gute Kinderstube zu ignorieren und wischte ihn beiseite. Dies war der Moment, in dem Miriam in mein Leben trat.
Sie hatte sich unter dem Schmutz befunden. Genauer gesagt: Sie war innerhalb meines Mobiltelefons gewesen und hatte mich durch dessen Bildschirm hindurch angeblickt. Als ich nun den Staub beiseite wischte, signalisierte ich der Datingapp, dass sie mir rein optisch und aufgrund der spärlich angegebenen Informationen interessant erschiene. Es stellte sich heraus, dass Miriam mich, als ich sie meinerseits durch den Bildschirm ihres Gerätes hindurch angrinste, ebenfalls für attraktiv befunden hatte. Dies wurde mir auch umgehend angezeigt. Ich freute mich ein wenig über diesen unverhofften Zufall, hatte ich doch gar nicht beabsichtigt, sie gar so offensiv zu bestätigen und nur ein Stückchen Staub hinfortwischen wollen. Dann beließ ich es aber dabei, hatte ich ja nur ein Stückchen Staub hinfortwischen wollen und mich mit ihrem Profil gar nicht auseinander gesetzt.
Wäre sie tatsächlich interessant, so dachte ich mir, würde sie mir schon eine Nachricht schreiben, in der sie mir dies zeigte.
Sie schrieb mir tatsächlich, einen Tag später:
„Schreibst du mir auch irgendwann?“
Die Nachricht als Solche überraschte mich. War sie es doch, die mir in diesem Moment schrieb und natürlich würde ich ihr auf diese Nachricht antworten. Wir wären hier wieder bei meiner guten Kinderstube.
„Ja.“ Antwortete ich also wahrheitsgemäß.
Ihr schien meine knappe, präzise Art nicht sonderlich zu imponieren, doch irgendetwas daran musste es ihr angetan haben. Sie schien es nun nämlich als eine Art Herausforderung zu sehen, mir mehr zu entlocken. Sie durchlöcherte mich mit allerhand Fragen, die ich ihr selbstverständlich wahrheitsgemäß beantwortete und erfuhr auch einiges über sie.
Wir schrieben in der folgenden Zeit sehr viel mit einander. Miriam hatte ohne Zweifel auch mich neugierig auf sie gemacht. Ich erfuhr, was sie beschäftigte, sie womit ich meine Zeit verbrachte und mein Geld verdiente, ich von ihrer Familie und Träumen.
Nach einigen Wochen fragte sie mich, ob ich nicht denke, dass es langsam aber sicher an der Zeit wäre, sie auf ein Date einzuladen.
Warum sie nicht einfach mich einlüde, fragte ich zurück.
Weil das so ginge, dass der Mann die Frau einlädt und nicht umgekehrt, erklärte sie mir. Ob ich ein Feminist sei, wollte sie wissen.
Ich erklärte ihr daraufhin, dass ich sehr wohl ein solcher bin, es aber ganz unabhängig davon einfach erwachsen von ihr fände, wenn die Frage nach einem Date von ihr käme, wenn sie sich eines wünschte. Sie lies sich davon nicht beeindrucken und bestand weiterhin darauf, wenn dann hätte ich sie einzuladen.
Dies tat ich einige Zeit später, als mir danach war. Wir trafen uns, verstanden uns prächtig und vereinbarten, uns wieder zu sehen. In der darauf folgenden Zeit hatten wir viele Treffen, wir waren einander sehr sympathisch und unsere Gespräche wurden zunehmend intimer.
Als wir eines Abends nach einem sehr romantischen Date mit anschließendem Spaziergang vor der Tür ihres Wohnhauses angekommen waren, fragte sie mich, ob ich sie nun nicht endlich einmal küssen wolle. Ich fragte sie, weshalb sie mich denn nicht einfach selbst küsste, woraufhin sie erwiderte, ich sei der Mann, weshalb unser erster Kuss zwangsläufig von mir ausgehen müsse.
Ich dachte in diesem Augenblick nicht viel nach und küsste sie auf den Mund, was ich kurz darauf bereute. Ich bereute es nicht des Kusses wegen. Dieser war für sich genommen absolut akzeptabel und nichts wofür man sich hätte schämen müssen. Ich bereute es, weil ich ihr durch diesen Kuss in ihrem Denken, er müsse von mir kommen, Recht gab.  Allerdings wischte ich diesen Gedanken beiseite, als mir aufging, dass es sich nun ohnehin nicht mehr rückgängig machen ließ. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass sie nun, da wir uns noch einmal näher gekommen waren, künftig sicher emanzipierter, zumindest mir gegenüber auftreten konnte.
Ich täuschte mich.
Miriam und ich entwickelten in den darauf folgenden Monaten eine Beziehung mit einer etwas merkwürdigen Dynamik. Sie hielt an ihren insgesamt doch recht traditionellen Rollenbildern fest, die besagten, jede Initiative habe von mir – als Mann – auszugehen. Währenddessen wünschte ich mir eine aufgeklärte, emanzipierte und feministische Frau an meiner Seite. Ich hatte nie den Anspruch an sie, eine Vorkämpferin für Frauenrechte zu sein und chauvinistischen Mannsbildern öffentlich die Stirn zu bieten. Dennoch wäre es mir zu wissen lieb gewesen, dass sie ihren eigenen Kopf hatte und ihren Willen auch klar definieren und durchsetzen konnte.
Im Prinzip war dies auch der Fall. Sie hatte ihre Vorstellungen davon, wie Dinge zu laufen hatten, aber das waren andere als die meinen.
Sie war der Meinung, ein Mann hätte die Frau in einer Liebesbeziehung zu führen und dies nach einem speziellen, althergebrachten Schema. Dieses betraf das gesamte Leben: Ich sollte entscheiden, wohin wir Essen gingen, wenn wir dann im Restaurant saßen, musste ich die Rechnung bezahlen. Saßen wir vor dem Fernseher, so sollte ich das Programm auswählen und dann die Fernbedienung in Beschlag nehmen. Es war auch der Fall, wenn wir mit einander schliefen, aber das geht niemanden etwas an.
Sie bräuchte einen Mann, der zeige, wo es langgeht, erklärte Miriam mir immer wieder.
Ich machte ihr daraufhin jedes Mal klar, wie wichtig es mir war, dass meine Partnerin selbst weiß, was sie will.
Aber das wisse sie doch ganz genau, entgegnete sie daraufhin immer wieder: Einen Mann, der zeige, wo es langgeht.
Wir waren etwa sechs Monate ein Paar, als mir aufging, dass wir uns missverstanden. Wir waren genau das, wir jeweils brauchten:
Ich zeigte an, wo es lang geht, indem ich von ihr forderte, mir zu sagen, was sie wollte.
Sie hatte ihren eigenen Willen, den sie mir dann erklärte.
Ich wiederum zeigte dann wieder an, wo es langging, indem ich das von uns beiden diskutierte Ergebnis zu meinem Willen machte und diesen durchsetzte.
Letztlich bekamen wir beide, was wir wollten. Zumindest in unseren Köpfen. Mir ist natürlich klar, dass das keinesfalls optimal ist, aber ich finde mich damit ab. Inzwischen sind wir seit beinahe drei Jahren zusammen und ich rechne damit, dass Miriam mir demnächst nahelegt, ich möge ihr einen Heiratsantrag machen. Wie ich darauf reagieren werde, weiß ich noch nicht. Vermutlich werde ich kein vernünftiges Argument dagegen finden.
Es ist erstaunlich, was ein einzelner Staubfussel auslösen kann.

Felix Benjamin: Reise ins Licht

Du bist noch ein Kind und liegst in deinem Bett. Deine Mama kommt zur Tür rein und sagt zu dir, dass du jetzt endlich das Licht ausmachen sollst. Du fragst, ob sie dann das Licht im Flur anlassen kann, weil du sonst Angst hast. Sie sagt zu dir, dass das nur Stromverschwendung wäre, wünscht dir eine gute Nacht und macht die Tür hinter sich zu. Du rufst sie nochmal zurück.
Du fragst, was sein wird, wenn du mal gestorben bist. Was da dann sein wird, wenn du nicht mehr lebst. Deine Mama sagt zu dir, dass da einfach nichts sein wird. Du antwortest, dass dir das ganz schlimme Angst macht. Und sie erwidert, dass alles irgendwann zu Ende ist, dass das ganz normal ist und man davor gar keine Angst haben muss. Sie wünscht dir nochmal eine gute Nacht und geht aus deinem Zimmer. Du bleibst im Dunklen liegen und hast so große Angst wie noch nie zuvor.
Du versuchst dir das Nichts vorzustellen. Ist das dann für immer so dunkel wie jetzt? Nein, es kann ja nicht dunkel sein, das wäre ja auch irgendetwas. Bist du dann für immer so einsam wie jetzt? Auch nicht, denn um einsam sein zu können, müsste es dich ja geben, und es wird dich nicht mehr geben. Deine Mama hat gesagt, da wird einfach nichts sein. Nichts.
Du hast Angst vor dem Einschlafen. Das ist ein bisschen wie Sterben, denkst du.
Irgendwann bist du offenbar doch eingeschlafen, denn du wachst auf. Du liegst im Dunkeln und hörst deine Mama schreien, du hörst deinen Papa schreien. Du kannst kein Wort verstehen, aber irgendwie hört es sich schlimmer an als sonst. Es kracht und scheppert und klirrt. Du suchst den Lichtschalter neben deinem Bett, doch du findest ihn nicht. Du stehst auf und tastest dich an der Wand entlang, bis du die Tür gefunden hast. Du machst sie auf und findest auch im Flur den Lichtschalter nicht. Du tappst mit deinen nackten Füßen über den kalten Boden durch die Dunkelheit. Du tastest dich an der Wand entlang, immer den Schreien hinterher, bis du das Schlafzimmer deiner Eltern gefunden hast.
Du drückst die Türklinke nach unten und siehst deine Mama neben dem Ehebett stehen. Sie steht da in Unterwäsche und schreit und greift immer wieder wahllos nach Sachen um sie herum, um sie ins Bett zu schmeißen. Sie sieht dich nicht, und du gehst weiter ins Zimmer rein. Du siehst deinen Papa im Bett sitzen, er sitzt da halb unter der Bettdecke und schreit. Er sieht dich, wie du neben ihm am Bettrand stehst, und ehe du dichs versiehst, packt er dich und zieht dich zu sich ins Bett.
Er drückt dich ganz fest an sich, du kannst dich nicht mehr bewegen. Er sagt immer wieder: „Keine Angst, mein Kind, ich beschütz dich vor dieser Nutte, ich beschütz dich vor dieser Hure“. Aber er sagt das nicht zu dir, er sagt das zu deiner Mama, die umso mehr schreit und umso mehr Sachen um sich schmeißt. Er beschützt dich nicht, im Gegenteil, du bist sein Schutzschild. Du kannst dich nicht rühren, du bist gefangen. Du kannst den Sachen nicht ausweichen, die dir entgegenfliegen. Du machst die Augen ganz fest zu, du presst die Lippen aufeinander und hältst die Luft an.
Auf einmal wird alles ganz leicht.
Da wo du jetzt bist, da ist nicht Nichts. Da ist alles, nur Mama und Papa sind da nicht.

Ruben Trawally: BETT

Der Begriff leitet sich vom weisen Satz von The Who „You better you bett“ ab, was soviel bedeutet wie „Besser schlafen“ respektiv „In der Ruhe liegt die Kraft“.
Das Betten versucht man auch in Las Vegas, oder in der Deutschen „Buß und Bett AG“, wobei kein Mensch weiß wo die Aktionäre schlafen. Gerade in Randbett-zirken Europas (auch Grenzbett-zirk genannt) liegen die wahren Könner der horizontalen Revolution. Sachsens Politiker gönnen sich auch einmal im Jahr ein Heavy Betting Festival, mitunter ohne Fremde, Freunde, oder gar Liebste. Dass Bettler den ganzen Tag schlafend nichts machen stimmt zwar, jedoch sind sie gefälligst nicht mit Soße zu beschmieren.
Hier noch ein paar Fakten:
Schon Richard von Weizsäcker schlief während seiner Amtszeit 3651 Mal in einem Bett. Kaum zu glauben, aber wahr.
Die Berg und Talbahn im Himalaya sollte Tibett mit Ost-Timoor verbinden, wurde jedoch niemals fertiggestellt. Der Baubeginn verschob sich von 1767 bis ins späte Technozeitalter.
Das Römische lectus genialis dient heute noch der Vermehrung von Menschen, bei Fakiren ist hierzu auch ein Nagelbett dienlich.
Die Anzahl von Himmelbetten und zählt man nach wie vor: Allfa – Betta – Ghamma -Dälta; Zu deutsch: Nordost – Südwest – Links – und das ganz hinten.
Das Hochbett findet heutzutage den meisten Zuspruch, da die Gärtnerkultur innerstädtisch weiterhin auf Distanz zum Boden baut. Bettziehungsweise anbaut. Falls ihr an einem vertrockneten Hochbett vorbeilaufen solltet, tut mir also einen gefallen, und gießt bitte. Gießen für Genießer.

Elmar Tannert: Fränkische Gastlichkeit

Das Bett ist bekanntlich ein Ort verschiedenster Lustbarkeiten. Eine davon ist das Frühstück. Ja, im Bett wollten wir frühstücken, die Geliebte und ich, im Bett unseres mittelfränkischen Kleinstadthotelzimmers, wohinein die Morgensonne Wärme und strahlend Licht sandte. „Geh in den Frühstücksraum!“ gurrte die Geliebte mir ins Ohr, „und jag uns ein Frühstück, mein Held!“ – „Ja, mit Gottes Hilfe!“ sagte ich, frisierte mich mit einer Handvoll Leitungswasser, streifte Hemd und Hose über und machte mich tapfer auf den langen Weg zum Frühstücksraum, am anderen Ende des Korridors gelegen. Dort, in bedrohlichem Halbdunkel, wachte die Wirtin strengen Blicks über ihr Sortiment aus Semmeln, Aufschnitt und Marmelade.
Fröhlich wünschte ich ihr einen guten Morgen, und bestimmt habe sie nichts dagegen, wenn man sich ein Frühstück aufs Zimmer nehme.
Da musterte sie mich wie einen unartigen Buben und sagte, sie habe aber das Buffet extra so schön aufgebaut.
„Ihr Buffet“, sagte ich, „ist wirklich wunderschön. Aber noch viel schöner ist das Zimmer, das Sie uns zugedacht haben – wie dort die Sonne zum Fenster hereinlacht! Deshalb würden wir mit großer – Sie ahnen gar nicht, mit wie großer! – Freude im Bett frühstücken.“
Die Wirtin atmete tief durch, und ihre Stirnfalten verkündeten Unheil.
„Sie werden damit gar keine Mühe haben“, versicherte ich eilends. „Ich selbst werde das Tablett mit all den guten Dingen füllen und eigenhändig aufs Zimmer bringen.“
Ihr Gesicht verfärbte sich, ihre Miene wurde düster. „Nein. Das ist nicht erlaubt.“
„Sie sind die Wirtin!“ sagte ich. „Sie können es erlauben!“
Aber sie erlaubte nicht.
Geknickt meldete ich der Geliebten die verlorene Schlacht. Als wir gemeinsam im Frühstücksraum Platz nahmen, servierte uns die Wirtin den Kaffee mit dem Charme eines Getränkeautomaten, und wir nahmen unsere erste Tagesmahlzeit gemäß § 5 Absatz 2 der fränkischen Hotelfrühstücksverordnung zu uns, diszipliniert und unter Aufsicht.
Reisender, merk: Franken ist nicht romantisch, sondern protestantisch. Wenn du dir mit der Dame deines Herzens ein Zimmer nimmst – erkundige dich vorab an der Rezeption, ob man bereit ist, euch eine der elementarsten Freuden des Lebens zu gönnen: Ein Frühstück im Bett. Sonst hast du die Rechnung ohne die Wirtin gemacht.