Matt S. Bakausky: Freiheit ohne Waschmaschine

Freiheit bedeutet für mich eine Waschmaschine, um die eigene Wäsche zu waschen. Kennst du die Bilder von den glücklichen Menschen in Indien, die ihre Wäsche im Fluss waschen? Nein, ich habe keine Waschmaschine also verbringe ich viel Zeit im Waschsalon. Aber ich drücke mich davor, da es viel Zeit kostet. Viel zu viel Zeit, aber ist eigentlich meist ziemlich entspannt im Salon.

Betrete ihn durch eine Klapptüre und spiele eine Runde Poker mit dem ein oder anderen Ass im Ärmel. Bis ich auffliege und es draußen zum Duell kommt. Dann muss ich für meine Freiheit kämpfen, aber ich bin ein guter Schütze. Und meistens rennt der Gegner weg, wenn ich ihm zack den Hut weggeschossen habe. Den Leben ist den meisten doch wichtiger als die Poker-Ehre.

Im Poker bin ich mittelmäßig und das reicht für einen mittleren Platz in der Highscore beim Briefpoker online. Früher war das Internet Freiheit für mich, mit Menschen kommunizieren, die viel Interessanter waren, als die Kinder in der Schule. Mit denen kam ich nur durch Saufen in Kontakt. Besoffen fühlte ich mich frei. Mit einer Kippe im Mund, wie ein Cowboy aus der Werbung.

Irgendwann habe ich dann erfahren, dass Freiheit gar nichts mit Zigaretten zu tun hat. Schuld war die Lektüre von obskurer Literatur. Erfuhr, dass die meisten Menschen wie Roboter ihrer Konditionierung hinterherlaufen. Da begann ich mich zu dekonditionieren, das lief immer eine Weile gut, nur kamen da Persönlichkeitsanteile zum Vorschein, die irgendwie im Konflikt mit der konformen Mehrheit standen und mir wurde die Freiheit entzogen.

Die Polizei fand mich merkwürdig und steckte mich erst mal auf Freiheitsentzug in die Klapse. Dort war ich dann wirklich frei, denn Verrückte können tun und lassen, was sie wollen. Na ja, so weit wie es die aktuelle Konditionierung zulässt. Also nur ein wenig mehr als die Normalen. Fliehen aus der Klinik war ganz ok, wurde dann irgendwie langweilig, als mir das Geld ausging.

Freiheit hat auch mit Geld zu tun. Nicht umsonst sagte mir ein Guru: Schau, dass du dich bildest und den Menschen nützlich machst, um Geld zu verdienen und mehr Freiheit zu erlangen.

Ein paar Jahre später merkte ich, dass ich es nicht schaffe, meine Konditionierung komplett abzulegen und das die eigentlich ganz ok ist. Der Drang nach Freiheit brachte mich auf die Idee, dass Gedanken mich einschränken.

Also lebte ich eine Zeit ohne Gedanken. Ließ das Leben Leben sein, ohne es zu bewerten.  Aber das war etwas problematisch, als die Emotionen mich wieder ins Denken drangen. Erwachen schön  und gut, aber die Emotionen der unteren Chakras sind trotzdem nicht weg, nur weil das Kronen-Chakra sich öffnet. Habe ich dich an dieser Stelle verloren?

Ich sitze immer noch in meiner Wohnung, die Wäsche stapelt sich. Der Waschsalon wartet, hat jedoch jeden Tag offen. Ich bin happy, aber das geht auch vorbei. Und Freiheit? Freiheit ist ein Wort. Die Bedeutung dahinter ist, was ich suche.

Matt S. Bakausky: Fliegen umkreisen seinen Körper

“Warum fliegen da fliegen um deinen Freund?”, fragt mich Sabrina.

Ich will es nicht zugeben, aber mein Freund ist tot.

“Er hat’s nicht so mit der Hygiene”, antworte ich selbstbewusst.

“Und wieso bewegt er sich nicht?”

“Er hat gerade eine außerkörperliche Reise, das macht er manchmal” sage ich halbgelogen. Damit ist Sabrina erstmal zufrieden, denke ich. Eine Sichtung der Smartphone-Uhr verrät, dass mein Freund wohl vor etwa zehn Stunden verstorben ist.

“Hast du das Geld?”, versuche ich das Gespräch wieder auf sachliche Bahnen zu lenken.

“Es müffelt ganz schön, wann kommt dein Freund wieder von seiner Reise zurück?”

Ich schreie sie an “Scheiße, er ist tot, siehst du nicht dass er tot ist?”

Jetzt fängt sie an zu weinen. “Gib mir schon das Geld, nimm den Stoff und verzieh dich”, sage ich etwas ruhiger, wobei ich ihr anfangs in die Augen starre und dann zu Boden blicke.

“Hör mal Marc, willst du nicht einen Krankenwagen holen?”

“Ich möchte keinen Krankenwagen holen” antworte ich trocken.

“Scheiße was ist nur aus dir geworden, Marc. Lässt hier einfach deinen Freund verrecken.”

“Ich weiß nicht was ich tun soll”, gebe ich schluchzend zu. “Er hatte einen Bündel Scheine dabei und wollte mehr als sonst”

“Du bist echt das Letzte”, faucht sie mich an, stürmt ins Bad und schließt die Tür von innen ab. Ich setze mich neben die Leiche, nehme seine Hand und fange an zu weinen. Sage ihm, dass er jetzt an einem besseren Ort ist. Sage mir, dass er jetzt an einem besseren Ort ist. Sabrina ist immer noch im Bad.

Ich rufe “Du weißt, dass ich keiner Fliege was zu Leide tun kann. Es war ein Unfall.” Jetzt entsteht ein Plan. Ich muss mich der Situation stellen, doch zunächst muss ich Sabrina auf meine Seite bringen. Ohne ihre Unterstützung geht hier nichts.

“Kannst du mir vielleicht helfen, Sabrina”
Sie antwortet nicht.
“Ich muss da ein paar Sachen wegschaffen, bevor ich die Sanitäter rufe”
Keine Antwort.
“Sabrina?” rufe ich. Ich gehe zum Bad und klopfe an die Tür. “Es tut mir Leid, Sabrina, aber ich könnte wirklich deine Hilfe gebrauchen”
Leises Schluchzen aus dem Bad.

“Es springt auch was für dich raus, Sabrina, mach bitte die Tür auf”

“Okay, du kannst das Zeug haben, alles, du musst es nur mitnehmen”
Sie öffnet die Tür, kommt aber nicht raus. Ich sehe das als Einwilligung. Nehme eine Plastiktüte aus dem Vorratsschrank und packe, die Sachen ein. Gehe durch die Wohnung von Geheimversteck zu Geheimversteck. Laufe mit dem vollen Beutel in den Flur und da steht sie mit rotgeweinten Augen.

“Ach Sabrina”, ich will sie umarmen, jedoch drückt sie mich von sich. Sie packt den Beutel in ihren Rucksack und verschwindet.
Jetzt ist der Moment der Wahrheit gekommen.
Mein Freund sitzt still da, Fliegen kreisen um ihn.

Ich wähle die Nummer.

Matt S. Bakausky: F wie Liebe

Dieser Text beruht auf wahren Begegebenheiten.

Ich bin verliebt. Beim Online-Dating hat es Klick gemacht. Sabine liebt mich auch, ganz bestimmt. Ich wollte eigentlich das Angebot kündigen, doch dann tauchte sie plötzlich wie aus dem Nichts auf. Ist das nicht romantisch? Ich mit 35 noch einmal die große Liebe finden! Wer hätte das gedacht. Stolz erzähle ich meinem Kumpel Bert davon. Er kann sich das irgendwie nicht vorstellen, so ganz einfach nur durch den Austausch von Worten und Fotos sich zu verlieben. Man muss doch die Person mal treffen oder zumindest ihre Stimme hören. Aber ich bin auf Wolke Sieben. Sabine will nun mal nicht Telefonieren, so sind Frauen eben  schreibt sie, ja sie ist etwas schüchtern, traut sich nicht. Ich muss sie also erst mal überzeugen, dass es sicher ist mit mir zu sprechen. Auch ihre E-Mail-Adresse will sie mir noch nicht geben, sie meint, dass sie die vor allem geschäftlich verwendet. Ich zeige mich verständnisvoll, denn sie muss ja sehen, dass ich nicht gefährlich bin. Mein Kumpel Bert fragt nach ein paar Wochen, was denn jetzt los sei, ob ich sie mal getroffen hätte. Ich sage ihm, dass sie noch nicht so weit ist, dass sie zwar ein wunderbarer, jedoch schüchterner Mensch, sei. Bert ist auf einmal interessiert an dieser Online-Dating Webseite und fragt mich, ob die kostenlos ist. Ich sage ihm, dass man da nur Nachrichten schreiben kann, wenn man zahlt. Und er fragt wie viel ich dafür denn zahle, dass ich dieser Frau schreiben kann. Und ich traue es mich nicht ihm zu sagen. Doch er lässt nicht locker. Und ich sage es ihm. Er sagt: „159 Euro im Monat, spinnst du? Und seit wann bist du da dabei?“ Ich sage ihm, dass er sich beruhigen soll. Ich bin erst seit einigen Monaten dabei und anfangs hatte ich nur einen Basic-Account und jetzt habe ich einen Pro-Account. Der Unterschied ist, dass man mit dem Pro-Account besser gefunden wird, mehr Reichweite hat und man sehen kann, wer sein Profil besucht hat. Bert ist immer noch entsetzt und meint jetzt: „Die verarschen dich doch! Für 159 Euro im Monat würde ich dir auch ein paar Nachrichten zuschicken. Schon mal dran gedacht, dass das auch ein Dude sein könnte?“ Nein, nein, so ist das nicht. Ich breche erstmal den Kontakt zu Bert ab, denn meine große Liebe –  Sabine – ein Dude, das kann nicht sein und Bert scheint sich da in etwas hinein zu steigern. Aber es nagt doch an mir, dieses Gespräch und ich spreche meine Traumfrau darauf an. Sie reagiert geschockt und ist beleidigt. Als ich mich entschuldige, reagiert sie erst nicht. Ich habe es wohl versemmelt, sie hat sich seitdem nicht mehr gemeldet. Ich habe diese wunderbare, jedoch schüchterne Frau verjagt. Ich traute mich nicht mein Profil zu kündigen, Sabine könnte jeden Tag auf mich zukommen und antworten. 

Ich kam auf die Idee nach ihr zu suchen. Und begann eine kleine Zettelkampagne in meiner Stadt … „Wer kennt diese Frau?“ … jemand fotografierte diesen Zettel ab und er landete im Internet. Ein TV-Sender rief mich an und fragte mich zu meiner Kampagne aus. Ich wurde in eine Talkshow eingeladen. Erzählte von meiner großen Liebe Sabine und wie ich sie verloren hatte. Dann als ich eine Träne vom Gesicht wischte und die Kamera darauf zoomte, in diesem Moment sagte die Moderatorin … „Wir haben die Frau auf dem Foto gefunden!“ und ich freute mich so sehr das ich zu schwitzen anfing und mir ganz warm ums Herz wurde. Ich fragte: „Ist Sabine heute hier?“ … Und die Moderatorin sagt: „Nein, aber wir haben eine Videobotschaft“. Und da war sie – meine Traumfrau – auf dem Bildschirm. Ein Reporter interviewte sie scheinbar zu dem Foto meiner Kampagne… jedoch sprach sie auf einer anderen Sprache und ein Dolmetscher übersetzte ihre Worte. „Ich bin die Frau auf den Fotos, ja“ „und wie ist ihr Name?“ „Ich heißte Tereza“… „und kennen Sie diesen Mann?“ „Nein, ich kenne ihn nicht.“ – Wie ist das möglich, dachte ich mir… sie wird sich doch an mich erinnern… „Ich habe die Fotos verkauft an eine Bildagentur vor 4 Jahren, ich weiß nicht, was die damit gemacht haben!“…. Mir ist etwas schwindelig, sie haben bestimmt nur eine Doppelgängerin gefunden! Die sieht schon etwas anders aus als auf den Fotos und die spricht Tschechisch…. Auf einmal wird alles weiß. Ich höre eine Stimme aus der Ferne … „Matt, du bist auf ein Fake-Profil hereingefallen. Das tut uns ja sooo Leid.“ Ich sehe nichts mehr, nur noch weiß. Sterbe ich?
Später sehen Bert und ich uns die Sendung im Fernsehen an, in dem Moment, in dem ich nur weiß sah, wankte ich leicht hin und her und die Moderatorin stützte mich und brachte mich auf meinen Platz zurück. Dann kündigt sie die fünf Tipps an, mit denen man seriöses Online-Dating erkennt. „Und glaubst du mir jetzt?“, fragt Bert. Ich lache ihn aus und antworte „Nein, das haben die doch gefaket, Fernsehen ist alles Fake! Sabine hat sich wieder bei mir gemeldet und sie sagt das auch!“ Da schaut Bert mich traurig an. Vielleicht hätte er auch gerne so eine Frau wie Sabine, aber ich spreche es lieber nicht an.

Matt S. Bakausky: Der Geist

Um mich kreist ein Geist. Der mir alles Mögliche zeigt.

Tolle Autokennzeichen mit Schnapszahlen, Müll auf der Straße, Polizeiautos, traurig oder böse schauende Menschen …

Der Geist ist es, der mir all das zeigt.

Mal eine Katze, die hastig über die Fahrbahn läuft, mal die roten Lichter des Turms des Energieunternehmens, mal den Mond, mal eine Straßenlaterne.

Doch der Geist ist in letzter Zeit unzuverlässig geworden.

Wenn ich Musik höre über Kopfhörer und in der Straßenbahn sitze, zeigt mir der Geist Menschen, die über mich reden, schlechte Dinge sagen.

Ich mag den Geist nicht mehr besonders, früher waren wir Freunde.

Jetzt weckt er mich mitten in der Nacht auf und ich höre einen Nachbarn meinen Namen sagen. Oder ein lautes Hämmern im Haus.

Der Geist hat angefangen zu spuken.

Ich vermisse den freundlichen Geist, der mir Schnapszahlen auf der Uhr zeigte.
Der mir zeigte was ist.

Jetzt fühle ich mich durch den Geist gemobbt.
Ich würde ihn gerne loswerden, aber ich weiß nicht, ob das überhaupt geht.

Er zeigt mir noch manchmal ein gutes Buch, meistens zeigt er mir jedoch Geräusche im Haus. Eine Klospülung, ein Bohren, Stimmen. Er lässt mich weniger schlafen.

Ich kenne den Geist seit Jahrzehnten. Er war schon immer da. In letzter Zeit ist er unzuverlässig geworden.

Aber ohne ihn kann ich nicht.

Matt S. Bakausky: Filmspiele

Ein Film. Kennst du ihn schon? Oder nur den Trailer?
Es dämmert dir. Es ist einer von diesen Filmen. Einer von vor jener Zeit. Die Ereignisse von dieser Zeit oder davor trugen dazu bei, dass Verbindungen in deinem Hirn aufgebaut worden sind. Oder wie dieser scheiß Apparat auch funktioniert. Einer dieser Filme, den du höchstens bis zur Mitte gesehen hast.
Cineastische Bildungslücken.

Der Film lief auf einem Computer im Stream. Eure vier Augen davor. Bis eure vier Hände woanders hinschauten.
Der Film wird zur Tapete für die dünnen Wände.
Eine Ummantelung für das Schamgefühl.
Es kommt zur Einführung, zum Wendepunkt zum Höhepunkt und dann zum Abspann. Kurzes Kuscheln bis sie zu reden anfängt. Post-koitale Tristesse.

Irgendwann war es vorbei.
Keine halben Sachen mehr bei den bewegten Bildern, keine dualistischen erotischen Erlebnisse von da an.

Und jetzt schaust du den Film zu Ende an.
Zum ersten Mal, denn du hast ja sonst nix zu tun.
Schließt die cineastische Bildungslücke.
Kannst dich danach in den Schlaf weinen oder betrinken.

Matt S. Bakausky: Gefühlte Zeit

Rutsche auf dem Bürostuhl hin und her. Starre auf den Monitor.
Draußen, tief unten, stehen Autos im Stau. Umleitung.
Weißt du noch damals als der Helikopter gelandet ist und der Pilot sich einen Döner geholt hat?
Okay, das war wohl nur ein Tagtraum.
Seiten aufrufen. Nachrichten die täglich gleich aussehen, nur dass unsichtbar das Wort „Neu“ davor steht. Immer sichtbar die Uhrzeit in der Startleiste. Die Zahlen verändern sich umso seltener, je öfter du darauf schaust.

Dein Kollege gegenüber macht Tippgeräusche auf seiner Tastatur und sagt etwas zu dir. Zumindest denkst du für einen kurzen Moment, dass er ein Gespräch beginnt. Doch ein Blick verrät, dass er ins Telefon spricht. Eine Fliege liegt bewegungslos auf dem Fensterbrett. Die hat für heute bereits genug getan. Du breitest deine Flügel aus und fliegst durch das Fenster über die Autos hinweg ins Paradies. Ein weiterer Tagtraum.

Der Kaffee ist kalt und schmeckt wie kalter Kaffee schmeckt. Du hörst ein Klingeln, willst an die Tür gehen, doch dein Kollege ist schneller. Der Paketbote ist an der Tür, abgehetzt. Zack, zack, schnell hier unterschreiben. Dein Schreibtisch sieht tipptopp aus. Du hast ihn vorhin aufgeräumt. Laut der Uhr in der Menüleiste ist seitdem erst eine viertel Stunde vergangen.

Webseiten öffnen. Uninteressante Nachrichten. E-Mails abrufen, keine neuen Nachrichten. Nicht mal ein Newsletter. Der Spamfilter ist fleißig. Die Autos unten bewegen sich in müden Schritten.
Du überlegst an deinem Hobbyprojekt zu arbeiten. Die Computermaus steuert den Mauszeiger langsam Richtung Menüleiste.

Dein Blick wandert wieder auf die Fliege.  Sie ruht sich immer noch aus. Wahrscheinlich ist sie tot. Ja, sie ist hier gestorben. Das musst du wohl zugeben. Sie ist hier gestorben. Aus Langeweile.
Noch ein Schluck vom kalten Kaffee, der wie kalter Kaffee schmeckt.
Du nimmst einen Kugelschreiber und schiebst damit die Fliege in den Mülleimer. Die stört das gar nicht.

M.S. Bakausky: Familienspiel

Ein Abend im Kreis der Familie. Stell dir vor kurz nach Weihnachten oder so. Alle kommen zusammen. Papa Michael, Mutter Hilde. Die erwachsenen Kinder Robert und Julia. Vielleicht sind auch noch Großeltern dabei. Sagen wir Großvater Helmut. Der letzte seines Stands, der alle überlebt hat, vielleicht alle überleben wird mit seinen 103 Jahren auf dem Buckel. Sie sitzen da rum, haben gegessen und ihnen ist langweilig. Sie haben schon die üblichen Themen abgearbeitet:

Sohn Robert, was macht die Arbeit?

Tochter Julia, hast du endlich jemanden kennengelernt? Jemand festen?

Mutter Hilde, was macht deine Arthritis?

Vater Michael, was macht der Hobbykeller?

Großvater Helmut, wann müssen wir dich spätestens zurück ins Altenheim bringen?

Alles war gefragt und beantwortet worden. Wie bei jedem dieser Zusammentreffen.

Also saß man da und wusste nicht was zu tun ist. Da kam Robert auf eine Idee: »Wollen wir nicht ein Brettspiel spielen?«

Papa Michael schaut kritisch zu Mama Hilde, sie sieht so aus als würde sie sich schämen. Sie atmet tief ein und aus und lässt dann kleinlaut den Satz heraus: »Ich habe die Spiele verschenkt, an die Nachbarskinder.«

»Das waren unsere Spiele!«,jammert Robert.

Dann ist das Thema irgendwann vom Tisch und man weiß immer noch nicht was zu tun ist.

Jeder ist dankbar als Julia mit einem Vorschlag kommt: »Lasst uns ″Lügen″ spielen, dazu braucht man nichts.« Großvater Helmut beginnt eine Erzählung von seinem Urlaub auf Rügen im Alter von zwölf Jahren. Die erwachsenen Kinder schauen sich an und können sich das lachen kaum verkneifen. »Ach Opa«, sagt Julia, »Nicht Rügen, LÜGEN!« – »WAS?«, fragt er und greift sich ans Ohr. »LÜGEN!«, schreit Julia jetzt. »Ach so«, sagt der Großvater und schiebt sein Gebiss zurecht. »Und wie soll das gehen, Schwester?«, fragt Robert interessiert. »Die Regel ist einfach«, erzählt Julia, »Jeder darf so viel Lügen wie er will.«

»Und das soll Spaß machen?«, fragt Mama Hilde skeptisch. »Ich bin dabei!«, ruft Papa Michael begeistert. »Ich bin ein Papagei und lebe im Regenwald!«, sagt er. »Das ist doch albern!«, sagt Mutter Hilde. »Komm, gebt Julia eine Chance«, fordert Robert. »Ich habe euch alle sehr gerne«, sagt Opa Helmut. »Papa, du verstehst das Spiel nicht, wir sollen lügen«, stellt Vater Michael fest. »Ja und?«, fragt Opa. Die Kinder lachen. »Ich habe einen Mann kennengelernt, wir werden bald heiraten«, sagt Julia. »Das ist schön, wie sieht es mit Urenkeln aus?«, fragt Opa. »Ich bin schwanger. Bald werde ich meine Leidenschaft für die Innenarchitektur aufgeben und mich nur noch um den Haushalt kümmern«. Die Eltern schauen böse. »Das ist ein blödes Spiel«, sagt Mama Hilde. »Im Altenheim ist es schrecklich, ich will da nicht mehr hin. In der Tat werde ich euch alle enterben, falls ihr mich dahin zurückschickt«, sagt Opa Helmut. Die Kinder lachen nicht mehr. »Mir wurde gekündigt«, sagt Robert. »Das ist fantastisch, dann kannst du endlich deinen Roman schreiben«, sagt Julia. »Nein, mir wurde wirklich gekündigt«, sagt Robert. »Ich war schwanger und habe abgetrieben«, sagt Julia. Mutter und Vater schauen entsetzt. Vater sagt »Ich bin nicht euer Vater«. Mutter sagt: »Ich will die Scheidung«.

Keiner sagt mehr was.

Mutter Hilde starrt auf den Tisch.

Papa Michael verlässt den Raum.

Julia schluchzt leise in sich hinein.

Robert schaut bedrückt.

Opa lacht.

Opa sagt: »Tolles Spiel. Lügen. Das sollten wir öfters spielen. Jedoch müsst ihr mich langsam zurückbringen, es ist viertel zehn. Bald ist die Nachtschwester nicht mehr da.«

M.S. Bakausky: Sie haben Geschichte geschrieben

Manchmal gibt es einen Musik-Act, der einfach den Nerv der Zeit trifft. Leute wie Elvis Presley,  die Beatles, Falco oder Madonna. Doch in den frühen neunziger Jahren gab es nur eine Band, die überhaupt etwas zu sagen hatte: Scooter.
Mit dem äußerst genialen Frontmann H.P. Baxxter.
Im Jahre 1994 gab es nur ein Lied, dass man hörte, wenn man auf sich etwas hielt: „Hyper Hyper“ wurde international, weltweit auf allen Sendefrequenzen und in jedem angesagten Club auf und ab gespielt.
Natürlich hatte auch ich die Single auf CD gekauft. Ich war damals acht Jahre alt und konnte den Refrain auswendig. Ganz zum Missfallen meiner Eltern. Während andere Kinder noch Flöte spielten, bettelte ich um Synthesizer-Unterricht. Doch den gab es in meiner Stadt zu der Zeit einfach nicht. Ich schrieb einen Brief an den Hans Peter Baxxter.

„Sie sind mein Idol. Ich bin so aufgeregt. Ich kann es gar nicht glauben, dass Sie diesen Text lesen werden. Scooter ist die beste Band. Hyper hyper ist ein Meilenstein. Ich könnte platzen vor Freude. Also ich würde gerne Synthesizer-Unterricht nehmen. Können Sie mir einen Tipp geben? Hochachtungsvoll, …“

Jeden Tag nach der Schule ging ich in das Büro meines Vaters und fragte, ob ich Post bekommen hätte. Ich ließ mich auch nach Tagen nicht entmutigen, baute mich wieder auf, indem ich „Hyper Hyper“ in meinem Zimmer herauf und herunterspielen ließ. Meine Mutter war langsam genervt davon. Stellte einmal sogar den Strom am Sicherungskasten ab. Sie schien meine Liebe zur elektronischen Tanzmusik nicht zu teilen.

Nach drei Wochen war es so weit. Ich kam von der Schule, ging in Vaters Büro und fragte nach der Post. Er sagte erst, ich muss dich leider enttäuschen, wieder nichts! Kurz bevor ich das Zimmer verlassen hatte, sagte er dann noch: „Warte, doch da ist etwas!“ und übergab mir den Umschlag.
Ich rannte in mein Zimmer und öffnete behutsam den Briefumschlag. Ich fingerte eine Autogrammkarte und ein gedruckter Brief heraus. „Hallo … vielen Dank für deinen Brief. – wir sind per du, dachte ich. Er hat mich sehr inspiriert. Als kleines Dankeschön schicke ich dir anbei eine Autogrammkarte. Beste Grüße H.P. Baxxter“

Ich war außer Rand und Band. Ich platzte fast vor Freude. Bis ich merkte, dass Hans Peter gar nicht meine Frage nach dem Synthesizer-Unterricht beantwortet hatte. Es stand als Absenderadresse ein Postfach in Hamburg. Da war mir klar – ich muss nach Hamburg! Hier in Nürnberg geht nichts. Doch meine Eltern waren nicht erfreut über meine Umzugspläne. Ich hatte es mit Quengelei probiert, mit Argumenten und mit Dauerspielen von „Hyper Hyper“. Bis mein Vater in mein Zimmer kam, mich anschrie was ich eigentlich mir dabei denken würde, dass er Ruhe brauche um zu Arbeiten, dass er mit dem Kopf arbeitet. Er nahm die Stereoanlage und die CD mit. Er kam zurück mit leeren Händen und nahm die Autogrammkarte von der Wand. Ich schrie: Nein, nicht die! Und wollte sie ihm aus der Hand reißen, doch er hielt sie stärker, sodass er und ich jeweils eine Hälfte in der Hand hatten.

Meine Mutter kam kurz darauf und tröstete mich. Zeigte mir eine Broschüre vom Klavierunterricht. Sagte, dass wenn ich erst einmal Klavier spielen könnte, klassische Musik, würde es mir besser gehen. Von nun an musste ich täglich vier Stunden Klavier spielen. Meine Eltern waren auch sonst strenger geworden. Ich durfte nicht mehr meine Freunde sehen. Nach der Schule hieß es Hausaufgaben machen. Dann Klavier spielen. Zweimal die Woche kam ein Klavierlehrer zu mir.

Die Jahre schritten voran. Ich vergaß Scooter völlig.Kurz nach meinem 18. Geburtstag packte ich meine Siebensachen ein und zog aus. Ich hatte schon länger kein Wort mehr mit meinem Vater gewechselt. Jetzt nahm er mich kurz zur Seite und reichte mir einen braunen Umschlag. „Das hier gehört dir“, sagte er. Ich steckte den Umschlag mit zu den anderen Sachen in einen Karton. Als ich ihn ein paar Tage später öffnete, kamen zum Vorschein:

Die Single „Hyper Hyper“ und eine fein säuberlich geklebte Autogrammkarte.

Ich war sofort wieder angefixt.
Tage, Nächte, lang hieß es bei mir nur noch „Hyper Hyper“.
Doch es war nicht mehr dasselbe, es wurde einfach nicht mehr wie 1994.
Vielleicht passte Scooter einfach gut in die Neunziger Jahre, vielleicht waren die jetzt vorbei.

Als ich das begriff, stellte ich den CD-Spieler aus, legte ich mich aufs Bett und weinte, weinte und weinte.

Matt S. Bakausky: Aus dem Traum erwachen

Schreibe niemals über Träume, hat er geschrieben. Mein Idol. Träume interessieren niemanden. Das schlimmste was du machen kannst ist eine Geschichte zu schreiben, die mit „Und dann wachte ich auf“ endet.

Das las ich in seinem neuen Buch über das Leben als Schriftsteller und das Schreiben.

Auf dem Weg zur Arbeit. Die Straßenbahn hielt, es waren wenige Autos unterwegs. Es gab wohl einen Unfall. Ich traf auf alle meine Freunde und unterhielt mich mit ihnen, darüber dass heute irgendwie wenig los wäre. Sie waren alle sehr nett zu mir und gut gelaunt. Arbeit fiel heute aus. Ich mache mich auf den Weg zurück. Treffe einen guten Freund, der zufällig mein Lieblingsessen dabei hat. Ich esse während ich weiter laufe. In einem Bürogebäude wundere ich mich, ob hier überhaupt alles stimmt. Draußen am Fenster fliegen meine Lieblingsbands vorbei und spielen ihre Hits.

Die Frau von der Zentrale ist bei mir. Ich realisiere, dass etwas überhaupt nicht stimmt und frage sie ob ich gestorben bin. Sie sagt: „Du bist nicht tot, du warst zu gut für diese Welt.“ Sie fragt mich, ob ich bereit wäre zu gehen. Ich sage ihr, dass ich gerne mehr Erfolg bei den Frauen gehabt hätte. Sie antwortet, dass das alles ändert und beginnt zu telefonieren. Ich verstehe, dass das bedeutet, dass ich wieder zurück gehe. Ich ändere meine Meinung und teile es ihr mit. Ich verlasse den erdlichen Raum, die menschliche Form, es existiert nur noch ein Energiefeld. Ein See aus Liebe, wie in der Gebärmutter. Ich erinnere mich an einen Freund von mir. Will zurück, um ihn zu sehen.

Und dann wachte ich auf.

Überströmt mit Liebe liege ich um 3:30 Uhr früh im Bett. Mein Herz wird offen sein für ein paar Tage, dann wird es sich langsam wieder schließen. Mir ist klar was ich suche und wohin die Reise geht.

Matt S. Bakausky: Wirtschaft als Chance

Ich kaufe am Bahnhof einen Big Mac für die Fahrt. Wussten Sie, dass der Big Mac verwendet wird, um die Kaufkraft in verschiedenen Ländern zu vergleichen? Das habe ich von Herrn Huber gelernt. Ein letzter Bissen vom Burger und der Zug fährt ab. Weg von der Zivilisation, raus in den Wald. Für ein paar Tage werden sie Herrn Huber nicht finden. Ich habe einen Vorsprung.

Ich putze mir die Zähne morgens mit Elmex und abends mit Aronal. Mittags bin ich in der Schule und putze sie nicht. Noch acht mal Zähne putzen bis zum Referat in Wirtschaft. Ich stehe auf einer fünf in diesem Fach. Kombiniert mit der fünf in Französisch würde das eine Wiederholung der Stufe bedeuten.

Noch zwei mal Aronal und einmal Elmex, dann muss ich das Referat halten. Ich habe mir ein wenig Ritalin rein gefahren. Ich habe zwar kein ADHS, jedoch hilft es mir wach zu bleiben. Dazu trinke ich Coca Cola und esse Pringles. Ich hoffe, dass ich mit dem Referat diese Nacht durchkomme.

Herr Huber betritt den Raum. Er stellt seine braune Ledertasche ab. Meine Mitschüler hören auf zu reden. Ich hole die gekritzelten Notizen auf Leitz Karteikarten aus meinem Eastpack-Rucksack. Mein Kopf hämmert leicht, außerdem bin ich übermüdet. Die zwei Aspirin-Tabletten wirken noch nicht. Nach den tagesaktuellen Themen zum Leitzins und der Eurokrise, wendet sich der Wirtschaftslehrer mir zu und fragt ob ich bereit sei. Ja, sage ich wie von selbst.

Herr Huber sitzt an einem Stuhl gefesselt in einem geräumigen Keller. In seinem Mund steckt ein Knebel. Das war nicht Teil seines Studiums gewesen. Nicht Teil seines bisherigen Lebens. Bisher schaute er nur gerne RTL-Krimiserien auf seinem Samsung-Fernseher. Jetzt war er selbst Teil eines Krimis. Er dachte sich, dass das gar nicht mal so schlecht sei.

„Das Referat heute, das war nicht so toll.“, sagte Herr Huber. Das war übertrieben positiv, denn ich verhaspelte mich die meiste Zeit und hatte das Thema kaum verstanden. Außerdem hatte ich die Karteikarten durcheinander gebracht. Ich fragte nach der Note. Eine Vier. Ich fragte ob sich nicht was machen ließe. Leider nicht. Mein H&M-Shirt fühlt sich auf einmal zu eng an. Diese Schuljahr war damit für mich gelaufen.

Ich betrat den Raum. Sagte: „Nicht schreien“. Herr Huber nickte. Ich entfernte den Knebel. „Bitte tu mir nichts, Matt“ sagte der Lehrer, „Lass mich gehen, ich sage niemanden was und du kannst das Jahr wiederholen.“ Das Wort Wiederholen ließ aufgestaute Wut in mir hochkommen, ich griff in die Seitentasche meiner Goretex-Jacke und holte einen spitzen Gegenstand hervor.

Irgendwo in der Pampa in der Nähe von Freiburg im Breisgau, laufe ich durch den Wald. Hexenwald steht auf einem Schild. Die Zähne habe ich seit gestern Abend nicht geputzt. Mein Ziel ist ungewiss, jedoch weiß ich, dass sie mich nicht finden werden. Das meine Schulpflicht getan ist.

Aus der anderen Jackentasche holte ich die Karteikarten mit meinen Notizen. „Lieber Herr Huber ich halte heute ein Referat über die Bilanzanalyse.“ Ich startete den Liesegang-Overhead-Projektor und zeigte mit dem spitzen Teleskopzeigestab auf die an die Wand  geworfenen Diagramme. Ich war komplett in Form. Herr Huber saß nur da und versuchte seine Hände frei zu bekommen, doch der Kabelbinder hielt ihn davon ab. Er kerbte sich in seine Haut.

Noch vierzehn Mal Zähneputzen, dann steht mein Wirtschaftsreferat an. Ich habe mega Schiss vor Referaten. Dieser Druck. Ich komme damit nicht klar. Und dann bereite ich mich auch noch schlecht vor, weil ich schon vorher Angst vor der Angst habe. Ein Valium half anfangs, mittlerweile nicht mehr.

„Und wie war mein Referat?“, fragte ich gespannt. „Du hast… das Thema… nicht verstanden.“, keuchte Herr Huber. „Du hast.. es.. wirklich nicht verstanden.“ „Das hier.. war… schlechter als dein vorheriges Referat! Du hast Fachbegriffe falsch verwendet, der Aufbau war einfach verwirrend und auch rein sprachlich warst du dem Thema nicht gewachsen. Du hast deinem Publikum nicht in die Augen geschaut… Alles was wir besprochen hatten, was ein gutes Referat ausmacht hast du missachtet. Nicht mal meine Fragen konntest du zusammenhängend beantworten. Das war eindeutig… eine sechs“ … Ich kann Herrn Huber nicht in die Augen blicken, sehe nur das kleine Krokodil auf seinem Hemd von Lacoste. Ich nicke, schalte den Overhead-Projektor ab und verlasse den Raum.

Im Wald außerhalb der Zivilisation fühle ich mich wie in einer anderen Zeit. Die Bäume überragen mich, passen auf das mir nichts passiert. An einer Quelle forme ich mit meinen Händen eine Schale und trinke etwas. Ich laufe über die gefallenen Blätter. Es weht ein heftiger Wind. Ich beobachte einen Ast, wie er sich erst biegt, bis er sich nicht mehr biegen lässt und bricht und zu Boden fällt. Ich nehme den Ast als Spazierstock und setze meine Reise fort.