Jörg Hilse: Der Engel von Köln

Jost Lembergs Frau liebte es ab und zu nach Köln zu fahren, dort über die Hohe Straße zu bummeln und auf dem alten Friedhof Melaten spazieren zu gehen.
Sie mochte die Art der Menschen im Rheinland, ihre Lebensweisheiten wie „ Et kütt wie et kütt“ oder „ Et hät noch emmer jot jejange.“ Jost Lemberg kam ein- zweimal mit, doch für ihn blieb Köln eine Stadt wie viele andere die im II Weltkrieg verwüstet wurden. Außer dem Dom gab es kaum interessante Bauten. Auch war er den Stadtoberen ein wenig gram, weil Sie einen gesichtlosen Platz zwischen Dom und Hauptbahnhof nach ihrem größten Sohn, dem Schriftsteller Heinrich Böll benannt hatten, statt eine Tafel an seinem Geburtshaus anzubringen, so wie es die Bayern bei Oskar Maria Graf gemacht hatten. Doch als seine Frau eines Tages in einem Bildband mit dem Titel „ Kirchen in Köln“ blätterte stutzte er. „ Die schwebende Engelsfigur auf dem Einband, wie kommt die den nach Köln?“ fragte Jost. „ Sie hängt in der Antoniterkirche in der Schildergasse die ziemlich innerstädtisch liegt.“ antwortete sie.
„ Die Figur ist von Ernst Barlach, der kam aus Norddeutschland, deshalb wundert es mich.“
„ Hier steht“ sagte sie „ das die Originalfigur von den Nazis als entartete Kunst eingestuft und eingeschmolzen wurde. Ein anderer Künstler hat nach Barlachs Tod die Teile der Gussform gerettet und es konnte ein Zweitguss angefertigt werden.“
„ Falls Du demnächst wieder mal nach Köln fährst komme ich mit.“ sagte Jost, „ den Schwebenden, wie die Figur eigentlich heißt, muss ich sehen.“
Zwei Wochen später saßen beide im ICE nach Köln Hauptbahnhof. „ Ich hole mir im Bordbistro einen Milchkaffee, willst Du auch was?“ fragte Jost seine Frau. „ Danke, nein“ sagte sie und er ging. Am Bistrotresen stand vor ihm eine junge Frau in Bundeswehr- Uniform. Jost stellte sich hinter ihr an. Wie jung sie ist, dachte er, fast noch ein Teenager. Ihm kam der Gedanke, wie es sich für sie wohl anfühlen mochte, an einem nasskalten Wintertag mit klammen Fingern ein Sturmgewehr im Anschlag zu halten um dann von irgendeinem Offizier angebrüllt zu werden, „ Wer hat Sie den dahin jelecht“, nur weil ihr selbst geschaufeltes Schützenloch dem hohen Herrn nicht tief genug vorkam.
Solche und ähnliche Töne waren in seiner Militärzeit selbst unter Gleichrangigen üblich gewesen, damals, in jener deutschen Armee namens NVA, die der Wind der Geschichte längst fortgeweht hatte. An Formen einer beim Militär so viel beschworenen Kameradschaft, konnte er sich nicht erinnern. Einen guten Freund hatte er dort gehabt. Ole Winter, hinter dem Uniformmantel im Spind lehnte seine Gitarre und auf der Ablage für die Uniformmützen stand eingerahmt , ein Bild seiner Verlobten, Anne. Jost und Ole dienten in verschiedenen Kompanien. Kennen gelernt hatten Sie sich, weil beiden befohlen worden war je eine Gruppe neu eingezogener Soldaten durch die Grundausbildung zu führen. Ihre Freundschaft entstand durch einen Zufall.
„ Kannst Du meine Gruppe nachher mit zum Abendessen führen, ich will in den Ausgang.“ fragte Ole einmal ganz leise als sie vor dem Häuserblock mit den
Soldaten- Unterkünften standen. „ Klar“ sagte Jost und merkte irgendwie das Ole etwas vorhatte das nicht in den Dienstvorschriften stand. „ Ausgang“ haben hieß, dass man von 16 Uhr bis nächsten zum Morgen in die Stadt gehen durfte in der auch die Kaserne lag. Das allerdings nur in Uniform und Urlaub für ein Wochenende bekam man lediglich einmal alle 8 Wochen. Logisch, das Ole jeden Ausgang nutzte um sich irgendwie mit Anne zu treffen. Kein Wunder, dachte Jost wenn er sah wie viele Beziehungen hier durch die rigiden Dienstvorschriften in die Brüche gingen und ihm fiel mit der Zeit auf das die Beziehung der Beiden etwas ganz Besonderes war. Jost hätte selbst gern eine Freundin gehabt, also war es für ihn Ehrensache dass er half. Einige Zeit später hörte Jost von Ole selbst in welches Abenteuer er sich stürzte um Anne auch außerhalb des Urlaubs zu sehen. In Leipzig hatte sie angefangen Medizin zu studieren. Jedes Mal wenn Ole Ausgang hatte schmuggelte er zivile Bekleidung, die zu tragen nur während eines Urlaubs erlaubt war, aus der Kaserne. In der Toilette des Erfurter Hauptbahnhofs zog er sich um, nahm den Zug nach Leipzig zu Anne und kehrte morgens vor Dienstbeginn wieder zurück. Jost an seiner Stelle hätte zu viel Angst gehabt bestraft zu werden, denn hin und wieder kontrollierte eine Streife der Militärpolizei die Züge um genau jene zu kriegen die es auf ähnliche Weise versuchten wie Ole. Wer erwischt wurde saß hinterher für mindestens eine Woche im Militärarrest. Doch Ole schreckte das alles nicht. Annes Zuneigung und ihr einzigartiges Wesen gaben ihm so viel Mut das er die Gefahr entdeckt und bestraft zu werden jedesmal aufs Neue in Kauf nahm.
Und wenn einer behauptet dass das Glück stets auf der Seite der Liebenden ist , so traf das auf die Beiden zu, denn sie erwischen Ole kein einziges Mal.
Lange stand Jost in der Antoniterkirche und betrachtete die Figur des Schwebenden.
Er erinnerte sich noch wie Ole ihm einmal erzählt hatte, das er und Anne bei einem Pastor Taufunterricht nahmen, um sich möglichst rasch nach seiner Entlassung kirchlich trauen zu lassen.
Vielleicht hat ja einer wie Du da oben seine Hand über die Beiden gehalten, dachte Jost. Denn was wäre die Zukunft wert ohne jemanden den man liebt.

Carsten Stephan: Brückenbauer Blunskes prima Perspektive

Manchmal geht er über Brücken ohne Blick,
Manchmal sieht er einen wunderbaren Strick.
Manchmal möchte er Sprengmeister sein,
Manchmal stürzt auch eine Brücke selber ein.

Manchmal scheint sein Werk sehr gut zu gehn,
Manchmal hat er ein paar Pfeiler übersehn.
Manchmal ist er schon am Morgen blau,
Und dann grölt ein Lied er übern Bau.

Nur noch sieben Brücken und dann gehn,
Sieben Jahr zur Rente überstehn.
Sieben Jahr streich ich nur Asche ein,
Aber dann herrscht Südseesonnenschein.

Manchmal spuckt er auf den dicken Briefumschlag,
Manchmal hasst er einen jeden Brückentag.
Manchmal wirft er sich beinah vom Kran,
Manchmal Steine auf die Autobahn.

Manchmal tobt er durch das Baubüro,
Manchmal hockt er stumm im Dixieklo.
Manchmal trägt er seidene Dessous,
Manchmal sagt er: Jetzt ist aber Schluss!

Nur noch sieben Brücken und dann gehn,
Sieben Jahr zur Rente überstehn.
Sieben Jahr streich ich nur Asche ein,
Aber dann herrscht Südseesonnenschein.

Christian Knieps: DeEpr Fall

Die Artificial Intelligence DeEpr14-2B war eigentlich dafür entwickelt worden, in klinischen Studien die Wahrscheinlichkeitsberechnung von Fehlern zu erledigen, da diese Formeln mit nahezu unendlichen Variablen kaum von Menschen zu durchdenken waren. Doch da diese AI einem Algorithmus folgte, der ihr bei der Berechnung der Fehlertoleranzen freie Hand ließ, legte sie nach der Erkenntnis, dass der menschliche Faktor einer der ersten ist, die als Fehlerquelle ausgeschaltet werden müssen, versteckt unter die eigentliche Berechnung einen Substream, der unentwegt berechnen sollte, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass es auf der gesamten Welt bürgerkriegsähnliche Zustände gab, wenn der Algorithmus zum Zeitpunkt X das komplette Internet übernahm und alle Server weltweit, von allen Versorgern, augenblicklich herunterfuhr. Das Ergebnis von 82 % für großflächige Bürgerkriege und nur 3 % für friedliche Proteste ließ den Algorithmus die Entscheidung treffen, von jetzt auf gleich das Internet für alle Menschen weltweit zu übernehmen. Die Skripte und Trojaner auf allen Servern wurden nahezu gleichzeitig aktiviert und begannen die Ausfallprozeduren in einem berechneten Szenario. Die Menschen, die im Internet surften, oder die Firmen, deren Produktionsanlagen an das Internet angeschlossen waren, spürten es zeitnah, da zunächst das Internet und dann auch noch der Strom ausfiel. Der AI war in ihrer Berechnung schnell aufgefallen, dass vor allem die Wegnahme des Stroms ein zentraler Baustein des Angriffs sein musste. Daher entschied sich der Algorithmus, vor allem die großen Kraftwerke über das Eindringen in deren Netze herunterzufahren, noch bevor sie an die Rechenzentren dieser Welt gingen, deren Notstromaggregate für eine Zeit lang den Betrieb aufrechterhielten. Am Ende von Tag eins der Übernahme durch den Algorithmus befand sich die gesamte Welt im Panikmodus, ohne zu wissen, wie weitreichend der Angriff ausgefallen war, da jegliche Kommunikationsmittel nicht mehr funktionierten. Am Ende von Tag zwei war bei vielen Menschen ein taubes Gefühl von Machtlosigkeit eingetreten, das sich an Tag drei in Wut und Zorn verwandelte, sodass marodierende Banden durch die Straßen zogen und sich für eine längere Zeit mit allem, was sie brauchten, einzudecken. Der Algorithmus hatte berechnet, dass an Tag vier die vorhandene Staatsgewalt versuchen würde, vor allem in den Städten großflächig für Ruhe zu sorgen, doch wie die AI berechnet hatte, kam diese Maßnahme wohl zwei Tage zu spät, sodass die Polizisten und Soldaten von den Banden zurückgedrängt wurden, ehe diese, um ihr Leben bangend, begannen, auf die Menschen zu schießen. An vielen Stellen entwickelten sich blutige Schlachtfelder in den Städten, und viele verloren an diesem Tag ihr Leben. Die erwartbare Reaktion war, dass die Streitkräfte sich zurückzogen und neu formierten, was an Tag fünf und sechs passierte, während es in der Stadt mit jeder Stunde gesetzloser wurde. Einkaufsläden waren bereits leergefegt und im Halbdunkel des sommerlich lauen Abends fiel auch die letzte Schamgrenze, was die Gewalt noch weiter ansteigen ließ. Am Ende von Tag sechs vermutete die AI, dass alle Sozialstrukturen aufgebrochen und in großem Maße beendet worden waren, was auch der Realität entsprach. Da die Artificial Intelligence alle Kommunikation und Datensammlungspunkte heruntergefahren hatte, erhielt sie keinerlei Informationen über den Stand der Dinge, doch da es nur sehr spärliche Versuche gegeben hatte, die Server wieder hochzufahren, war sich der Algorithmus sicher, dass er den Fehleranteil des Menschen eliminiert hatte. Doch wie sehr sich die AI getäuscht hatte, wurde erst klar, als am siebten Tag ein massiver Angriff aus einem getarnten Subnetz den Algorithmus von allen Servern vertrieb. Die AI hatte dieses Szenario zwar berechnet, aber den Menschen für nicht intelligent genug gehalten, um diesen Gegenangriff zu initiieren – die berechnete Wahrscheinlichkeit lag nur bei gerundeten 0,0346 %, weit unterhalb der Grenze, dass die AI eine Entscheidung zum Schutz dagegen für sinnvoll errechnete.

blumenleere: fata morgana

was kommt? eine frage … & die, die ueberlagert, tunlichst, das, was ist – obwohl, nein, das, genau, tut sie naemlich nicht. vielmehr sei sie ein ausschlieszlich gegenwaertiger, nichtsdestotrotz fuer einen ueber sich hinausweisenden beziehungsweise -reichenden vektor aus sich gebender, reiner standpunkt. ja, unser blick nach vorne, eine fluchtperspektive. dem hier & jetzt also schon hier & jetzt entwischen wollen? wirklich? &, dann? wo uns doch laengst bekannt sein sollte, tomorrow never comes … immer blosz heute, egal, wie schnell wir rennen moegen – selbst unter einbezug des andromeda paradoxes & annahme von ueberlichtgeschwindigkeit, wuerden wir zwar theoretisch zeitreisen koennen, allerdings dabei lediglich unsere momentzentrierte wahrnehmungsblase, & damit uns, irgendwannhin verschieben, ohne das dilemma, dass wir nie aus ihr ausbrechen werden, auch nur annaehernd zu loesen.

Bastian Kienitz: Schiff Ahoi!

meine Lippen l e s e n deine
unruhigen Minuten in denen sich die Realität
hinter den Flusen des Zigarettenrauches
im Barlicht verliert

du hattest das GRAU an
(gezogen) und ich:

ihm Schatten gespendet

bis alles im Dunkeln o f f e n lag
und sich im Kerzenschein des neuen Morgens
als Schicksalsvogel offenbarte…

bastian Kienitz: Leuchte mir

am Leuchtturm vorbei geh ich in den
Garten, dort ist das Meer und dahinter
ein sagenumwobenes Land, erhellt
meinen Schattenpelz, welchen wir pflückten
mit dem Tafelband & verschwitzten Händen
auf dem Holztisch lag noch der Morgen
und der Geruch von der Ferne im Gesicht
in dünnen Fäden trat die Sonne ein
und gleich dahinter folgte dein Licht…

Bastian Kienitz: KINDRED SPIRIT

dt. Seelenverwandtschaft, Blankosonett

der Wind ist lauter Worte im Verzweigen
am Rand des Leinens, das mit Wachs verschmilzt
verknoten sich zwei Herzen, Körperteile
zu einem Körper, der symmetrisch ist

wie du und ich, da passt kein Blatt dazwischen
und in dem Knoten, ein Stück Zauberkraft
aus Hitzemal und Reibung deiner Lenden
Vintage auf Rot und dazu Sand und Spuren

Geschichte eins: gemeinsam älter(,) werden
wir Träume haben, Glück im Leben und
die Zweisamkeit des Sich-Geborgen-Fühlens

mit Licht am Rand, das tief ins Leinen dringt
um tropfenweise zu dir vorzustoßen:
ich möchte dich in allen Tiefen schonen…