Christian Knieps: Zerfall

Man hatte ihn gewarnt, natürlich hatte man das, auf eine beinahe beiläufige Art, wie man einen Hund vom Abgrund zurückruft, nicht aus Fürsorge, sondern weil man das Geräusch des Aufpralls nicht ertragen will – und trotzdem war Terzfeld an jenem Dienstagmorgen, noch bevor die Sonne ihre erste Schicht aus bleierner Feuchtigkeit über die Dächer des Hafenviertels gelegt hatte, wieder durch die Hintertür der alten Papierfabrik geschlüpft, die inzwischen eher an eine Kathedrale des Schmerzes erinnerte als an irgendeinen Ort, an dem je gearbeitet, geschwitzt oder geschrien wurde, und stand nun mit zitternden Lidern vor einem Körper, der, so wie er dalag, mehr Aussagekraft besaß als sämtliche Protokolle des Dezernats für Kapitaldelikte der letzten drei Jahre zusammen.
Die Leiche war weiblich, ungefähr Mitte dreißig, trug weder Ausweis noch Unterwäsche, aber dafür einen perfekt sitzenden Lippenstift in einem Ton, den man früher als „Blutkirsche“ bezeichnet hätte – ein Detail, das Terzfeld nicht aus stilistischen Gründen notierte, sondern weil er wusste, dass sich Mörder selten um Lippenfarbe kümmern, es sei denn, sie wollten, dass jemand ganz bestimmtes die Leiche fand, oder sie inszenierten den Tod wie ein makabres Stillleben, das etwas erzählen sollte, was mit Worten nie gesagt werden konnte.
Dass die Frau keine Zähne mehr im Mund hatte, war kein Unfall – die Wurzeln waren sauber ausgehebelt worden, als hätte jemand mit chirurgischer Präzision einen Beweis zerstören wollen, während die Fingerkuppen – ebenso sorgfältig – mit feinem Schleifpapier behandelt worden waren; doch was Terzfeld mehr beschäftigte als all das, war der Blick, den die Tote ihm zuwerfen würde, wenn sie noch sehen könnte – diesen nicht mehr existierenden, aber doch spürbaren Blick, der ihm sagte, dass sie wusste, dass er zu spät kam, weil er immer zu spät kam, nicht aus Faulheit oder Mangel an Talent, sondern weil er tief in sich selbst etwas kultivierte, das jeden Fall, jede Suche, jede Aufklärung sabotierte: eine Schwäche für das Dunkle, für das Halbgesagte und für das Schweigen der Toten, das mehr verrät als das Geschwätz der Lebenden.
Die Spurensicherung tat, was sie immer tat – sie verpackte die Welt in Plastiktüten und analysierte sie auf Spuren, deren Bedeutung sich meist nur dann zeigte, wenn sie längst irrelevant geworden waren – und so verließ Terzfeld den Tatort, ohne sich von jemandem zu verabschieden, stieg in seinen Wagen, der nach altem Kaffee, kaltem Schweiß und vergessener Hoffnung roch, und fuhr in jene Gegend, die man in der Stadt nur „die grauen Kilometer“ nannte, weil es dort keine Häuser mehr gab, sondern nur noch Betonflächen, auf denen früher einmal Fabriken standen, und zwischen diesen Flächen bewegten sich Menschen, die aussahen, als wären sie von einem Roman übrig geblieben, den niemand zu Ende gelesen hatte.
Dort, in einem Container mit drei Schlössern, fand er „Fräulein Nola“, die keine Fräulein war, sondern eine Informantin, die ihm seit Jahren Hinweise gab, die so vage und gefährlich zugleich waren, dass jeder andere sie längst für nutzlos erklärt hätte, doch Terzfeld wusste, dass Information nicht aus Klarheit bestand, sondern aus Mutmaßung, Andeutung und vor allem: aus dem Klang, den Worte erzeugen, wenn sie in einem Raum voller Schuld ausgesprochen werden.
„Sie wollte raus“, sagte Nola, ohne dass Terzfeld eine Frage gestellt hatte, und es war diese Art von Antwort, die ihn glauben ließ, dass alles, was man brauchte, um einen Mord aufzuklären, bereits in den ersten fünf Minuten gesagt wurde, nur dass niemand wusste, welcher Satz der entscheidende war – man musste ihn aufspüren wie ein verlorenes Organ im Bauch eines Unbekannten, den man niemals sezieren durfte.
Sie erzählte ihm von einem Mann, den sie nur „den Vater“ nannte – ein Schleuser, ein Mörder, ein Menschenhändler, niemand wusste genau, wer er war, aber alle wussten, dass man nicht über ihn sprach, und wenn doch, dann nur in Halbsätzen und mit Blick auf den Boden – und Terzfeld verstand sofort, dass die Tote in der Papierfabrik keine anonyme Prostituierte war, sondern eine Frau, die zu viel gewusst hatte, vielleicht auch geglaubt hatte, dass Wissen Schutz bedeuten würde, obwohl es in dieser Stadt nur eine Wahrheit gab: Je mehr du weißt, desto eher stirbst du.
Die nächsten Tage waren ein Vexierspiel aus Akten, Gesprächen und Lügen, denen man ansah, dass sie gelogen waren, aber die trotzdem notiert werden mussten, und Bildern, die in seinem Kopf aufstiegen wie Gas aus einem alten Sumpf – Gesichter, Stimmen, Gerüche – und immer wieder tauchte dabei dieser Name auf, „Vater“, nicht als Titel, sondern als Drohung, als Fluch, als Konstrukt, das alle fürchteten und keiner je gesehen hatte, bis Terzfeld irgendwann begriff, dass der Mann, den er suchte, nicht gefunden werden wollte, sondern nur gespürt – als Schatten, als Druck und als Präsenz hinter den falschen Zeugen, den korrupten Kollegen und den stummen Beweisen.
Es war eine dieser Nächte, in denen man nicht mehr weiß, ob der Regen von außen gegen die Fensterscheibe schlug oder von innen gegen die Stirn hämmerte, als Terzfeld in einem Keller am Stadtrand stand, die Pistole gezückt, die Taschenlampe in der anderen Hand, der Magen seit Stunden leer, aber das Herz voll mit einem dumpfen Wissen, das sich nicht in Worte fassen ließ – und dann sah er ihn: einen Mann mittleren Alters, glatt rasiert, mit der Stimme eines Seelsorgers und der Kälte eines Chirurgen, der sofort wusste, wer Terzfeld war, und der nicht flüchtete, nicht schrie, sondern nur sagte: „Wenn Sie mich verhaften, machen Sie die Welt nicht besser – Sie machen nur das Dunkel sichtbar.“
Terzfeld schoss nicht. Er verhaftete ihn auch nicht. Er stand nur da, während hinter ihm jemand die Tür zuzog – und wusste, dass es vorbei war, bevor es wirklich begonnen hatte.
Denn das ist das Wesen der Ermittler in einer Welt, in der das Verbrechen nicht mehr im Moment des Mordens beginnt, sondern im Schweigen davor – sie sehen, sie wissen und sie sammeln, aber sie retten niemanden; sie sind Archivare der Verdammnis.

Christian Knieps: Tödliches Schicksal

Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn den Serben den Krieg. Der Erste Weltkrieg brach aus. August Macke meldete sich freiwillig und wurde Anfang August zur Infanterie eingezogen. Er starb am 26. September 1914 27-jährig an der Westfront in der Champagne, bei Perthes-lés-Hurlus. Franz Marc meldete sich ebenfalls im August und wurde wie sein Freund in Frankreich stationiert. Trotz des Todes seines Freunds blieb die Überhöhung des Krieges Element seines Denkens. In seinen Briefen aus dem Feld erkennt man das deckungsgleiche Denken mit Thomas Mann, der in Europa einen Kranken sah, der durch den Krieg geläutert werden müsse. Erst nach und nach änderte sich dieses Bild, bis hin zur absoluten Abscheu vor dem Kriege. Anfang 1916 wurde Franz Marc in die Liste der bedeutendsten Künstler Deutschlands aufgenommen und damit vom Kriegsdienst befreit. Die Befreiung trat am 5. März 1916 in Kraft. Am Tag zuvor, dem letzten Tag im Kriegsdienst, starb Franz Marc durch zwei Granatsplitter während einer Erkundung im Feld. In einem früheren Brief schrieb er vor dem Kriegsbeginn an seinen Freund August Macke: Ich glaube auch heute bestimmt, dass ich meine guten Bilder erst mit 40 und 50 Jahren malen werde; ich bin noch mit nichts in mir fertig. Die Weltgeschichte ließ es nicht dazu kommen, dass einer der beiden mit dem fertig wurde, das in ihnen lag.

Christian Knieps: Gon

Allister McAllister bekam an einem sonnigen Mainachmittag ein Päckchen zugestellt, in dem er ein schmales Heftchen fand – wenn man es denn so nennen möchte, da es kaum mehr als eine lose Blattsammlung zwischen zwei alternden Klappdeckeln war –, und kaum, dass er die oberste Seite des Textes auch nur zu lesen begonnen hatte, war er in einer Welt gefangen, die ihn Zeit seines Lebens nicht mehr loslassen sollte: Gon.
Noch nie zuvor in seinem Leben hatte Allister McAllister von diesem Wort gehört, nicht mal in seiner Arbeit als Historiker war ihm dieses Wort untergekommen. Doch nun lag es vor ihm, und mit jeder Seite, die er verschlang, drang er tiefer und tiefer in die Welt des Gon ein, bahnte sich einen Weg durch das tiefe Wesen dieses einen Wortes und gelangte auf die andere Seite, weit entfernt von der hiesigen Welt der Gelehrsamkeit, weit entfernt von der heutigen Welt der Allwissenheit durch das Internet. Er befand sich auf der anderen Seite der Welt, ganz gleich, von wo er aus seinen Ursprungspunkt festlegte.
Dort, auf einer scheinbaren Insel, landete Allister McAllister am Strand, an dem das sanfte Meer anbrandete, und mit jedem Schritt wurde der Sand fester und fester, und als er den ersten leichten Hügel erklommen hatte, sah er in eine vor ihm liegende, geschützte Ebene voller Fruchtbarkeit hinein, durch die trotz des dichten Urwalds eine kleine Straße wand, die nur von Menschenhand angelegt worden sein konnte. Das Urvertrauen in seinen Körper spürend, ging er einige Schritte voran, den leichten Hügel hinab, und erreichte die Straße. Sich nach allen Seiten umblickend, wunderte er sich, dass er hinter sich das Meer nicht mehr hörte, sondern nichts; es herrschte vollkommene Stille.
Er war jetzt ein Wa, ein Lehrling des Gon, die Stufe, in der die Menschen beginnen, sich über die Welt im Allgemeinen und ihre Umwelt im Speziellen zu wundern. Die kleinen Dinge beginnen aufzufallen, nicht die großen, weltbewegenden, sondern die Nuancen, die Schattierungen, und nicht selten fällt es dem Einzelnen schwer, sich gerade auf diese Details zu konzentrieren, insbesondere, wenn er aus einer Welt kam, in der das große Ganze das Allheilmittel jeden Zusammenhangs zu sein scheint.
Plötzlich spürte er auch, trotz seines festen Schuhwerks, den sandigen Boden unter seinen Füßen, vernahm Unebenheiten und kleine Einsenkungen, begann, einzelne Sandkörner zu spüren, und hätte sich vielleicht sogar in diesem Spüren verloren, wenn er nicht aufgemerkt hätte. Er sah auf und vor sich jene Straße, die nun nicht mehr unendlich tief in den weiten Urwald führte, sondern einer Linienstruktur folgte, die zwar nicht symmetrisch, aber auf ihre Weise rhythmisch war.
Allister McAllister blieb stehen, um die neue Entwicklung zu verstehen, denn es lag in seinem Wesen, die Dinge in seiner Umgebung nachzuvollziehen und zur Gänze verstehen zu wollen. Daher war er an die Universität gegangen und dort geblieben, hatte sich stets dafür interessiert, was hinter der nächsten Frage steckt, die man stellen kann, solange zu einem bestimmten Thema, bis alle Fragen geklärt sind – auch wenn er selbst wusste, dass dieser Zustand niemals erreicht würde –, aber was macht das schon, solange man sich versucht, auf dieses Ziel hinzubewegen?
Doch hier, auf dieser Insel, hinter sich die Brandung, unter sich die einzelnen Sandkörner, vor sich die unrhythmisch rhythmische Straße durch den Urwald, der dann doch kein Urwald war, schien es keine Fragen mehr zu geben; es war ganz, als ob die Fragen hier, an diesem einsamen Ort auf der Welt – war er noch auf dieser Welt? – ein Ende finden. Hier finden alle Fragen ein Ende! Das dachte Allister McAllister und ging mit einem weiten Schritt in Richtung des Herzens der Insel, sah mit jedem weiteren Schritt, wie die sich unrhythmisch rhythmisch schlingende Straße sich geradezog, wenn er dorthin kam, und er ging und ging weiter fort, tief hinein in den Urwald, der zu einem lichten Wald wurde, dann zu einer Allee, und schließlich, als nur noch eine gerade Linie von Bäumen eine unendlich scheinende, gerade Straße säumte, da vernahm er mit einem Mal eine Melodie in seinem Ohr. Diese Melodie war ihm völlig unbekannt, so etwas hatte er noch nie gehört, und just in dem Moment, in dem er verstand, dass es die Musik der Natur war, die einzigartige Musik der allumfassenden Natur, da wurde er zum Ra und gelangte damit auf die dritte Stufe des Gon. Nun war er ein Gon-Wa-Ra und ging als wissender Meister die gerade Allee mit der geraden Baumreihe entlang, die so gar nichts mehr mit dem Urwald und der Sanddüne und dem anbrandenden Rauschen des Meeres gemein hatte, das er zuvor erlebt hatte.
Urplötzlich, als käme es aus dem Nichts und auch für Allister McAllister völlig unerwartet, endete die Baumallee und es blieb nur die Straße. Doch auch die endete bald schon und es blieb nur die Umgebung, die mit jedem weiteren Schritt eintöniger und eintöniger wurde, bis sie in einem einzigen Farbton war – einem melangierten Braun, in das alle Farben zusammenlaufen. Alsdann verschwammen auch noch die Konturen und nach den Konturen verblasste das melangierte Braun, wurde heller und heller, und nach einer Weile des Vorangehens – auf welchem Grund? – gelangte der Gehende an den Punkt, dass er im konturlosen Weiß stehen blieb. Er stellte sich nicht die Frage, auf was er stand, ob er Luft atmete oder nicht, ob das seine Gedanken waren oder nicht – denn es hatte keinen sonderlichen Wert, diese Gedanken zu haben. Es hatte gar keinen Sinn, auch nur irgendeinen Sinn zu suchen in dieser Welt, in dieser Nichtwelt, in die Allister McAllister kam, um zu etwas zu werden, was sich Gon-Wa-Ra-Ta nennt und ein Gona in der Welt des Gon ist, die letzte Stufe der Erkenntnis. Somit blieb er stehen und begriff, unabhängig von seinen Nichtgedanken, dass er am Ende seiner Reise angelangt war, die von der losen Blattheftsammlung ausging und an diesem Ort hier endete.
Genau in diesem Augenblick des Erkennens beendete er seine Reise, gelangte zurück in die Welt, aus der er verschwunden war, sah sich an dem Ort um, an dem er sich befand, bemerkte die Vielzahl an Farben, Konturen, Geräuschen und Gerüchen – und alles war ihm irgendwie übertrieben und unwichtig. Allister McAllister war als Gona in eine Welt zurückgekehrt, die er nicht mehr verstehen konnte, aber die er vor allem nicht mehr verstehen wollte. Und so beendete er diese Reise mit dem Wissen, dass vieles verborgen liegt und dass nur sehr wenig davon von den Menschen entdeckt wird. Was für eine Verschwendung der menschlichen Talente! Diesen Satz sagte er immer und immer wieder zu sich selbst, erkannte in der Welt ein Übermaß an Verschwendung und wurde zu so etwas wie ein Eigenbrötler, der sich immer mehr in die Welt des Gon zurückwünschte, auch wenn er ahnte, dass er nach seiner Erleuchtung niemals wieder zurückkehren würde.

Christian Knieps: Ertrinkendes Europa

Schweißgebadet wälzt sich Carl Gustav Jung in seinem Bett hin und her, schreit innerlich nach Erlösung, krampft in seinem Wesen, kämpft mit aller Macht gegen sich selbst an und kann am Ende diesen Kampf nicht gewinnen. Das weiß er, das weiß sein Unterbewusstsein, und das weiß er auch in seiner Traumwelt, die er dennoch mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen, verfluchen, ja, gar zerstören will. C. G. Jung will seine Träume zerstören, die seit der von ihm eingeleiteten und streng forcierten Trennung von seinem geistigen Übervater Sigmund Freud immer gewalttätiger werden, immer härter, immer bösartiger, Träume, die von Zerstörung, Vernichtung, Ausrottung, Rache und Folter geprägt sind. Die Grundfarbe ist blutrot. Nasstriefend laufen die Traumgestalten in ihrer erdachten Umgebung umher, und nicht selten nimmt er Toni, dann Emma, dann wieder mal beide zusammen und ist beinahe schon an seinem sexuellen Höhepunkt, als etwas Rotes, Festflüssiges auf ihn zurollt, eine Welle aus Blut, und C. G. Jung versteht nicht nur, dass er bei seiner Theorie im Recht ist, die ihn von Freud entfernt hat, sondern er versteht auch, dass seine Libido, die freie schweizerische Liebe, ein Symbol für die Freiheit der Europäer ist, die alsbald in einem Meer aus karminrotem Blut versinken wird, hellem, pulsierendem Blut – wie aus dem kämpfenden Körper eines getroffenen Soldaten.
Doch dieser Blutstrom, der Europa in Zukunft ertrinken lassen wird, ist nicht das einzige deutliche Anzeichen für eine sich verändernde Zeit. Auch die menschlichen Bindungen werden in der nächsten Zeit hart auf die Probe gestellt werden, so prophezeit ihm sein Unterbewusstsein, und im Vorgriff auf einen Kongress, der im September 1913 stattfinden wird, ahnt C. G. Jung, dass das Leben, das er in geistiger Verbindung mit seinem Mentor Sigmund Freud die letzten Jahre verbracht hat, endgültig aus und vorbei ist – die Trennung als einzige Möglichkeit einer Befreiung seines Geistes von den Fesseln seines Lehrers. Denn dieser hat nicht in allen Punkten seiner Psychoanalyse recht, und das weiß C. G. Jung, und eben jenes Wissen ist es, das ihn zu der Annahme führt, dass eine Entzweiung unausweichlich ist, denn die Optionen, die er besitzt – schweigen und sich selbst erniedrigen oder etwas sagen und den Bruch heraufbeschwören – sind beide nicht von der Qualität von Entscheidungen, wie sie Menschen gerne und mit einem beruhigten Herzen treffen wollen.
C. G. Jungs Alpträume sind die Reproduktion dieser bevorstehenden Entscheidung, die er zwar instinktiv mit jedem Brief, mit jedem veröffentlichten Text, mit jeder Vorlesung an der Universität trifft, aber offen kann er mit dem ebenfalls körperlich und geistig schwächelnden Freud nicht brechen, nicht nachdem dieser in München am Ende des vorigen Jahres vor den Augen Jungs zusammengebrochen war. In seinem Traum sieht Jung sich vor einem Altar niederkniend, direkt unterhalb der gestrengen Augen seines geistigen Vaters, den Kopf gesenkt, in tiefer Andacht. Doch als er seinen Kopf erhebt und dem geistigen Vater entgegenblickt, bemerkt er dessen Augen, die wie so manche Madonnenstatuen zu weinen beginnen, und als C.G. Jung in seiner Verwunderung bemerkt, dass es Blutstränen sind, weiß er, dass er schuldig ist – und wie sehr ihn diese Schuld quält, bis tief in die Träume seiner Welt hinein, erschüttert bis ins Mark – da überkommt ihn das Gefühl der Einsamkeit, der Unzufriedenheit, und diese Welle der Angst, gepaart mit einer gegen sich selbst gerichteten Wut, gebiert einen wallenden Zorn, der ihn von den Stufen vor dem Altar aufstehen und zu seinem geistigen Vater aufrecken lässt, ehe er diesem mit einer Lanze nicht nur in die Seite sticht, sondern in alle Körperteile, die dazu auserkoren sind, die Libido zu beherbergen. Blutschwalle treten aus den Wunden, überfluten die Kirche, überfluten die Nachbarschaft, überfluten das Reich und schließlich Europa, während C. G. Jung beim Ausbrechen der Flut tapfer auf dem Boden vor dem Altar niedersinkt, allein, um Vergebung bittend, dass er keine andere Wahl hatte, denn fehlerhaftes Schweigen wöge für ihn schwerer als jeder Verrat, da es ein Verrat an einem selbst wäre – und welcher Mensch könnte schon Freund eines ertrinkenden Europas sein, wenn er sich selbst kein Freund mehr sein kann?

Christian Knieps: Rauchende Schuldscheine


Eine Legende


Ein Mann im besten Alter seines Lebens, gekleidet in feinstem Brokat, golddurchwirkt und edelsteinbesetzt, viel reicher als alle Menschen, die heutzutage leben, und dennoch ist er nur der mächtigste Mann im Raum, jedoch nicht der Allermächtigste, eine Konstellation, die sich so oder so ähnlich vielleicht schon mal ergeben hat, aber niemals in dieser diametralen Ausrichtung – der eine hält einen Großteil der bekannten westlichen Welt in seiner Hand, der andere Mann hält ihn in der Hand. Es ist die Ausgeburt eines aufkommenden Weltalters, dessen Auswirkungen noch bis weit in die heutige Zeit hineinwirken und tief im Kapitalismus Wurzeln geschlagen haben; jedwede Grundausrichtung heutiger Märkte und Marktrealitäten fußt im Kern auf dieser Entwicklung, die sich nicht nur in diesem speziellen Raum, sondern in vielen Ecken Europas ausbreitete und weiterhin ausbreitet.
Im Augenblick aber hält der feine Herr im Brokatmantel eher ein Bündel Schuldscheine in der Hand, gerollt, auf feinstem Papier für die damalige Zeit geschrieben, geschnörkelte Schrift, feinste Kunst, die die Machtverhältnisse, aber vor allem die Abhängigkeiten zementiert. Es wird in diesem Raum und zu dieser Zeit nicht gesprochen – die Zeit des Redens ist längst vorbei – und als Konsequenz dieser Vorbei-Zeit handelt der reiche Mann, kramt in seiner Tasche nach etwas, das alle im Raum zum Staunen bringen wird, und als er drei Zimtstangen hervorholt, wissen die wenigsten der Anwesenden, dass diese drei Stangen der Verdienst eines einfachen Mannes für mehrere Jahre bedeuten, doch der Kenner ahnt, dass diese drei Stangen, die wohl zwischen 12 und 15 Gramm schwer sind, gut eine Golddukate an Wert besitzen – aber pah!, sagt sich der Mann, was ist schon eine Golddukate! Auch der Allerwichtigste weiß, was diese drei Stangen sind und woher der Mann im Brokat sie geliefert bekommen hat – aus den verheißungsvollen Landen im weiten Osten, die von den Venezianern kontrolliert werden –, und als er die drei Stangen an seine Nase hebt, riecht er den fremdländischen, betörenden Geruch des Zimts, dieser vom Stamm des Baums abgeschälten Rinde, die durch kunstbegabte, feingliedrige Hände mehrfach ineinandergelegt und getrocknet wird.
Mit diesen drei Stangen, deren Wert immensen Reichtum darstellt, würzt der in Brokat gekleidete Mann jedoch kein Wasser oder Kaffee oder Tee oder eine Speise, sondern – vermaledeit, er wird doch nicht! Doch, er wird! – er geht zu einer Fackel in der Nähe und hält die drei Stangen direkt hinein, sodass sie gleich Feuer fangen, der starken Trocknung sei Dank. Sie zündeln stark, die Zimtstangen, und kaum, dass sie sich eingebrannt haben und sich eine Mischung aus beißendem Feuergeruch und fremdländischen Sinneseindrücken im Raum verteilt, zieht der Brokatmann seinen Arm nach oben, während er zeitgleich die Hand mit den gerollten Papieren nach unten senkt, bis sie sich vor seinem Bauch treffen und in ein flammendes Meer übergehen. Alle blicken gebannt auf die rauchenden Schuldscheine, die Jakob Fugger eine Weile brennend anstarrt, ehe er zum Kamin an der Seite des Raums tritt und sein Vermögen, das er gerade vernichtet hat, ins offene, knisternde Feuer wirft, als wäre es ein Holzscheit, das den armen Mann auf dem Thron, seines Zeichens Kaiser Karl V., wärmen soll. Dieser Moment wird zur Legende, wie auch die Beziehung dieser beiden Männer zur Legende wird.

Christian Knieps: Quality-Time

Ich bin auf dem Weg in den Keller, um die Wäsche aus der Waschmaschine in den Trockner zu räumen. Tür auf, Wäsche raus, Tür zu, ausschalten, Tür vom Trockner auf, Wäsche rein, Tür zu, einschalten. Ich drücke den Rücken durch, atme tief ein und aus, lausche kurz, nehme mein Handy aus der Hosentasche und möchte ein paar Nachrichten lesen, als von oben ein durchdringendes Kindergeschrei zu mir dringt. Ich stecke das Handy weg, schalte es noch in der Hosentasche aus, laufe nach oben, sehe die Ursache des Geschreis, ärgere mich, worüber die Kinder sich geärgert haben, und erkläre beiden, dass die Spielsachen dafür da sind, dass beide damit spielen können. Ich verzichte für den Moment auf den spannenden Bericht, den ich in meiner Online-App gesehen hatte, möchte ihn mir für später merken und weiß jetzt schon, dass ich ihn nur per Zufall wiederfinden werde. „Nicht so wichtig“, sagt meine Frau immer, und sie hat recht, es ist bei weitem nicht wichtig, aber das Lesen des Artikels in völliger innerer und äußerer Ruhe wäre für mich reine Quality-Time, etwas, von dem ich nur noch eine vage Ahnung habe, was das einmal war. Das Spannende am Vaterwerden und der Übernahme von Babycare und erweiterten Haushaltsprozessen ist nicht so sehr die Veränderung im Verhalten, die damit einhergeht; nicht die aufbauende Bindung zum Baby, die man trotz aller Sorgen und Arbeit niemals infrage stellt, nicht das eigene Fertigsein und Arbeiten am Rande eines Burnouts, nicht die Streitereien innerhalb der Partnerschaft, die durch einen veränderten Fokus neu verhandelt werden müssen, nein, es ist das eigenständige und höchst freiwillige Aufgeben des eigenen Zufriedenseins, in dem festen Glauben, dass das Vatersein den Verlust nicht nur ausgleicht, sondern sogar übertrifft.
Dem ist – zumindest bei mir – nicht so; und mir wird langsam bewusst, dass es allen Beteiligten gegenüber unfair ist, das zu erwarten. Ich stecke in diesem Gedanken, als ich es rieche – schnappe mir das Kind, lege es auf den Unterarm, greife professionell in die Windel, schiebe sie weg, sehe und rieche den Haufen, mache Spaß mit dem Kleinen, bringe ihn zum Wickeltisch, hole eine neue Windel raus, Body auf, Windel auf, Feuchttücher, Windel als Paket zusammenfalten, ab damit in den Windeleimer, neue Windel an, Body zu, Kind wieder runter vom Wickeltisch – zum Glück ist Sommer, da geht das alles einfacher. Wo waren meine Gedanken? Ehe ich ihn wieder aufnehmen kann, erreicht mich die Frage – ist es eine Frage oder etwas anderes? –, ob ich mich um das andere Kind kümmern kann, da bei meiner Frau ein eigenes Bedürfnis ansteht. Ich nehme die Kleine, gehe zur Couch, setze mich, fange an zu spielen, da kommt der Große und reißt mir beinahe die Kleine aus der Hand. Schimpfen bringt nichts, die Kinder sind in dem Alter bei sich selbst, also werde ich zwar lauter, aber mehr körperlich, was den Großen zur Rauferei auffordert – ein klassischer Fall in meinem Leben, wo ich versuche, nonverbale Kommunikation mit dem Kind zu führen, es aber völlig anders verstanden wird – der Erfahrungshorizont und die Kontextualisierung und so. Hilft der Gedanke? Im Moment keinen Meter!
Das Kind auf dem Arm fängt bald das Nölen an; es hat Hunger und ich warte auf die Rückkehr meiner Frau, die das Kind doch hören muss. Stehe auf, laufe herum, wippe, gebe dämliche Laute von mir, die jedoch schon länger weit unterhalb der Schamgrenze sind, seitdem diese auch massiv verlegt wurde, stupse das Kind mit meiner Nase an seins, knutsche es, lache gestellt, doch als sich das zarte Lächeln bei ihr in einen Ausdruck bitterster Zitrone verwandelt, weiß ich: Es ist kurz vor der Eskalation. Zum Glück kommt meine Frau von ihrer Quality-Time zurück (a. k. a. Toilettenbesuch), fordert von mir einen obligatorischen, wie im Ergebnis unsinnigen Windelwechsel ein, den ich natürlich durchführe, und kaum, dass die Kleine an der Brust der Mama ist und ich den Gedanken an den Artikel aus dem Keller wieder greifen kann, kassiere ich die nächste Aufgabe und halte meinen Großen davon ab, auf meine Frau und das Baby zu klettern, wehre die zarten Versuche einer Rebellion gegen meine Umklammerung ab, gehe mit ihm in die Spielecke und teile meine Spielzeuggarage, in der er seine Autos parken möchte. Den Artikel habe ich längst vergessen, war aber wohl auch nicht wichtig.

Christian Knieps: DeEpr Fall

Die Artificial Intelligence DeEpr14-2B war eigentlich dafür entwickelt worden, in klinischen Studien die Wahrscheinlichkeitsberechnung von Fehlern zu erledigen, da diese Formeln mit nahezu unendlichen Variablen kaum von Menschen zu durchdenken waren. Doch da diese AI einem Algorithmus folgte, der ihr bei der Berechnung der Fehlertoleranzen freie Hand ließ, legte sie nach der Erkenntnis, dass der menschliche Faktor einer der ersten ist, die als Fehlerquelle ausgeschaltet werden müssen, versteckt unter die eigentliche Berechnung einen Substream, der unentwegt berechnen sollte, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass es auf der gesamten Welt bürgerkriegsähnliche Zustände gab, wenn der Algorithmus zum Zeitpunkt X das komplette Internet übernahm und alle Server weltweit, von allen Versorgern, augenblicklich herunterfuhr. Das Ergebnis von 82 % für großflächige Bürgerkriege und nur 3 % für friedliche Proteste ließ den Algorithmus die Entscheidung treffen, von jetzt auf gleich das Internet für alle Menschen weltweit zu übernehmen. Die Skripte und Trojaner auf allen Servern wurden nahezu gleichzeitig aktiviert und begannen die Ausfallprozeduren in einem berechneten Szenario. Die Menschen, die im Internet surften, oder die Firmen, deren Produktionsanlagen an das Internet angeschlossen waren, spürten es zeitnah, da zunächst das Internet und dann auch noch der Strom ausfiel. Der AI war in ihrer Berechnung schnell aufgefallen, dass vor allem die Wegnahme des Stroms ein zentraler Baustein des Angriffs sein musste. Daher entschied sich der Algorithmus, vor allem die großen Kraftwerke über das Eindringen in deren Netze herunterzufahren, noch bevor sie an die Rechenzentren dieser Welt gingen, deren Notstromaggregate für eine Zeit lang den Betrieb aufrechterhielten. Am Ende von Tag eins der Übernahme durch den Algorithmus befand sich die gesamte Welt im Panikmodus, ohne zu wissen, wie weitreichend der Angriff ausgefallen war, da jegliche Kommunikationsmittel nicht mehr funktionierten. Am Ende von Tag zwei war bei vielen Menschen ein taubes Gefühl von Machtlosigkeit eingetreten, das sich an Tag drei in Wut und Zorn verwandelte, sodass marodierende Banden durch die Straßen zogen und sich für eine längere Zeit mit allem, was sie brauchten, einzudecken. Der Algorithmus hatte berechnet, dass an Tag vier die vorhandene Staatsgewalt versuchen würde, vor allem in den Städten großflächig für Ruhe zu sorgen, doch wie die AI berechnet hatte, kam diese Maßnahme wohl zwei Tage zu spät, sodass die Polizisten und Soldaten von den Banden zurückgedrängt wurden, ehe diese, um ihr Leben bangend, begannen, auf die Menschen zu schießen. An vielen Stellen entwickelten sich blutige Schlachtfelder in den Städten, und viele verloren an diesem Tag ihr Leben. Die erwartbare Reaktion war, dass die Streitkräfte sich zurückzogen und neu formierten, was an Tag fünf und sechs passierte, während es in der Stadt mit jeder Stunde gesetzloser wurde. Einkaufsläden waren bereits leergefegt und im Halbdunkel des sommerlich lauen Abends fiel auch die letzte Schamgrenze, was die Gewalt noch weiter ansteigen ließ. Am Ende von Tag sechs vermutete die AI, dass alle Sozialstrukturen aufgebrochen und in großem Maße beendet worden waren, was auch der Realität entsprach. Da die Artificial Intelligence alle Kommunikation und Datensammlungspunkte heruntergefahren hatte, erhielt sie keinerlei Informationen über den Stand der Dinge, doch da es nur sehr spärliche Versuche gegeben hatte, die Server wieder hochzufahren, war sich der Algorithmus sicher, dass er den Fehleranteil des Menschen eliminiert hatte. Doch wie sehr sich die AI getäuscht hatte, wurde erst klar, als am siebten Tag ein massiver Angriff aus einem getarnten Subnetz den Algorithmus von allen Servern vertrieb. Die AI hatte dieses Szenario zwar berechnet, aber den Menschen für nicht intelligent genug gehalten, um diesen Gegenangriff zu initiieren – die berechnete Wahrscheinlichkeit lag nur bei gerundeten 0,0346 %, weit unterhalb der Grenze, dass die AI eine Entscheidung zum Schutz dagegen für sinnvoll errechnete.

Christian Knieps: Number Two

Das Finale in einem Wettbewerb ist schon eine eigenartige Sache, denn bis dahin haben die Teilnehmer – insbesondere, wenn es nur zwei Gegner sind – alles gegeben, um an diesen Punkt zu gelangen, an dessen Ende es aber nur einen Sieger geben wird.
Die Zuschauer fiebern derweil oft auf dieses Ereignis hin, in der Hoffnung, dass ihr Favorit am Ende den Sieg davontragen wird, und obwohl auch viele für den Underdog sind, interessieren die meisten sich dennoch für die Sieger – das hat sich in all den Jahren nicht geändert, obwohl die Gesellschaft doch vermeintlich objektiver und vor allem wertschätzender der Leistung des Unterlegenen gegenüberstehen sollte.
Doch: Hand aufs Herz – wer außer den Hardcorefans der jeweiligen Wettbewerbe weiß, welches Fußballteam am häufigsten im Finale der Weltmeisterschaft gestanden hat (den Rekordsieger hingegen kennen viele)? Es gibt Tennisspieler beider Geschlechter, die bis zu fünfmal im Endspiel großer Turniere standen, es aber nie gewonnen haben (den Rekordsieger eines der größten Turniere der Welt kennen bestimmt sogar Nicht-Tennisfans vom Namen her). Es gibt ein Football-Team, das vier Jahre hintereinander in den Super Bowl kam, aber keines gewann (aber das Team, das sechsmal in den letzten beiden Jahrzehnten triumphierte, kennt wohl fast jeder).
Finanziell mag es vielleicht sinnvoll sein, in den meisten Wettbewerben möglichst weit zu kommen, doch ist die Niederlage in einem Finale am Ende nicht sogar viel schmerzhafter als eine Niederlage früher im Wettbewerb? Wer erinnert sich – außer wieder die Hardcorefans – an die Number two, den Loser, den Verlierer, den Nichtgewinner – und wie werden diese Fast-aber-doch-nicht-Gewinner am Ende tatsächlich gesehen – in der Retrospektive, wenn sie nicht vorher schon vergessen werden? Wenn der letzte Eindruck viel mehr zählt als all die Heldentaten zuvor?
So sehr sich Menschen den Wettkampf und den Sieger wünschen, weil sie auch Teil des Erfolgs sein wollen, ist die Akzeptanz von Erfolg in zweiter Reihe trotz aller gesellschaftlichen Entwicklungen nicht vereinbar mit dem Streben des Menschen nach Erfolg. Wer gewinnt, hat Recht! Wie wahr dieser Satz doch ist – leider.

Christian Knieps: Sehnsuchtserinnerung

Viele Schülerinnen und Schüler hatten bestimmt die Möglichkeit, in der Jugend mit der Schule einen Ort zu besuchen, der im späteren Leben eine Art Sehnsuchtsort werden könnte. Bei mir waren zwei Italienreisen mit unterschiedlichen Schulen Ausgangspunkt für meine Sehnsucht nach diesem Land, das schon seit mehreren Jahrzehnten die Deutschen fast magisch anzieht. Auch schon zu Zeiten der Aufklärung und der folgenden Romantik sehnten sich viele nach dem Land im Süden, und diejenigen, die Italien als Studienreise besuchen konnten, schwärmten ihren Zeitgenossen vor, welche Bildung in diesen Landstrichen zu erlangen sei.

So toll das klingen mag – das alles interessiert einen Jugendlichen in den Neunzigern so überhaupt nicht! Wir fuhren nach Rom, Pisa, Florenz, Siena, aßen Pizza in Seitenstraßen, tranken eiskaltes Peroni und herben Campari, suchten in den Städten das goldene M, besuchten offiziell die Uffizien, doch als wir drin waren, wollten wir nach dem Pflichtteil nur nach draußen, um uns die Italiener und die Italienerinnen anzuschauen. Damals verstanden wir die Komplexität des Lebens, der Kultur und der Bildung nicht mal ansatzweise – wobei streng genommen doch etwas hängen blieb.

Im Rückblick entwickelte sich die Sehnsucht nach Italien, Rom, die Kultur, die vielen geschichtsträchtigen Regionen und Bauten und die Menschen vor Ort erst später, im Studium, doch da waren die weitreichenden Möglichkeiten aus den Studienreisen der Schulzeit vorbei; ab nun musste für eine Reise selber gezahlt werden – und die Frage, die im Raum für mich steht, ist folgende: vielleicht ist die Sehnsucht nach Italien am Ende stärker als das Gefühl, wirklich vor Ort zu sein – sollte man es dann nicht besser bleiben lassen, zu seinem Sehnsuchtsort zu reisen, nur um die Sehnsucht danach nicht zu zerstören? Wenn man doch nur wieder Jugendlicher wäre – denen fallen solche Entscheidungen einfach viel leichter!

Christian Knieps: Clownesk

Ein akrobatischer Mummenschanz

Disclaimer

Dieser Text wurde unter Zuhilfenahme von menschlicher Intelligenz erstellt und berührt nur insofern das geistige Eigentum anderer, als dass jene menschliche Intelligenz Wissen von anderen Menschen aufgesogen hat, um daraus einen neuen Text zu generieren.

Personen

Ein Clown.

Ein Narr.

Set

Eine Bühne.

Einziger Akt

Der Clown und der Narr treten auf und beäugen sich, ehe der Clown beginnt.

Clown:

Woher kommst du?

Narr:

Aus der Commedia Dell Arte!

Clown:

Was?

Narr:

Commedia Dell Arte!

Clown:

Das glaub ich sofort, dass du aus einer Komödie stammst! Komödie Dell…?!

Narr:

Arte!

Clown:

Der Sender!?

Narr:

Nein, der Kunst!

Clown:

O meine Güte! Du bist noch begrenzter, als du aussiehst!

Narr:

Während du sagst, dass ich begrenzt bin, zeigst du deine Begrenztheit mit jedem Atemzug!

Clown:

Hören wir mit diesen Beleidigungen doch mal kurz auf!

Narr:

Dann wärst du ein Narr! Aber gut, du bist keiner, sondern ein Clown!

Clown:

Was soll das denn heißen!?

Narr:

Dass man als Clown eben nur ein Clown ist!

Clown:

Und als Narr ist man was Besseres?

Narr:

Natürlich! Wir Narren waren hoch angesehene Spielmannsgesellen, um Könige und andere adelige Menschen zu belustigen! Clowns sind was für den Pöbel!

Clown:

Immerhin sind wir nicht ausgestorben! Mag jetzt nicht für deine Argumentation sprechen!

Narr:

Weil auch die Könige ausgestorben sind! In der modernen Demokratie braucht es halt den seichten Clown, der über seine Füße stolpert und dämlich klingt, wenn er redet! Wir Narren hingegen! Wir waren so inspirierend unterwegs, dass wir ganze Geschlechter beeinflusst haben!

Clown:

Und seid am Ende ausgestorben! Ich sehe das recht einfach! Ich bin ein Clown und hier – und du magst mal wichtig gewesen sein, aber Narren gibt es nicht mehr! Quod erat demonstrandum!

Narr:

Nur ein Clown glaubt einem Clown!

Clown:

Und nur ein Narr glaubt an irgendetwas anderes, als das eigene Geschwätz!

Narr:

Dann sind wir schon zwei, die ihren Beruf verfehlt haben! Vielleicht wärst du besser ein Narr und ich ein Clown!

Clown:

Gott, bewahre! Dann wäre ich ja auf einmal schrecklich lustig!

Narr:

Und ich würde schrecklich aussehen und Kinder erschrecken!

Clown:

Nein, das traue ich dir nicht zu! Sieh dich an – die kleinen Kinder würden lachen, wenn sie dich sehen!

Narr:

Und dich würden Könige hochkant rauswerfen und als Deppen ins Gefängnis schmeißen!

Clown:

So sind wir doch alle Kinder unserer Zeit!

Narr:

Auch deine Zeit wird ablaufen, mein lieber Clown! Fragt sich nur, wer dich ersetzen wird!

Clown:

Hoffentlich nicht diese Influencer! Die sind so gar nicht lustig!

Narr:

Bist du auch nicht!

Clown:

Na!? Ein klitzekleines bisschen schon! Oder?!

Narr:

Aber nur ein sehr klitzekleines bisschen!

Clown:

Dann bin ich ja beruhigt!

Narr:

Was für ein Glück! Ich nämlich auch!

Indem sich beide beruhigt haben, alle ab.