Michael Schmidt: Wirtschaft

„Frühers hat man’s ja leichter gehabt mit der Wirtschaft. Da hat man immer gewusst: Ich kauf was und das krieg ich. Heute ist das alles viel zu kompliziert geworden. Und Sachen, die man früher gut verkaufen konnt, auf denen bleibt man heute gerne sitzen. Da haben sich schon manche dumm im Spiegel angeschaut nachher. Sind einfach nicht mit der Zeit gegangen. Haben gedacht: Was schert mich die Zeit. Aber die Zeit hat sich – im Gegenteil – nichts um sie geschert. Gar nichts. So ist das gewesen. Und so geht es immer weiter, bis sich die Menschheit einmal verabschiedet.

Auch der Herr Professor Wuiser hat das schon mal mitgemacht, so wie man einfach alles mitmacht, wenn man ein Professor ist. Der hat damals noch gesagt, dass in der Kohle die große Zukunft liegt. Hat so viel Kohle bestellt, dass keiner sie nie verheizen hat können. Und ist dann darauf sitzengeblieben. Ein ganzer Berg Kohle. Sogar in seiner Zwölfquadratmeterwohnung hat er die gehabt, einen ganzen Haufen, weil er nicht gewusst hat, wo er mit der ganzen Kohle aus soll:
Pechkohle, Braunkohle, Eßkohle, Magerkohle, Glanzkohle. Alles mögliche an Kohle.

Und wie das mit der Kohle sich dann schließlich abgezeichnet hat, hat er sich einen Stuhl genommen, seinen Denkerstuhl, wie er dazu sagt, ist damit den Kohleberg rauf, hat sich ganz oben hingesetzt und hat überlegt. Einen Tag lang und eine Nacht.

‚Nein, Wuiser, du gibst nicht auf!‘, hat er sich am Ende gedacht: ‚Ein Professor und aufgeben! Das hat’s noch nie gegeben, und du ausgerechnet wirst jetzt nicht damit anfangen!‘

Dann ist er wieder runter von dem Berg und hat sich an die Arbeit gemacht. Was er dann getan hat? Ich weiß nicht, waren Sie schon mal im Darknet drin? In diesem Darknet? Müssen Sie unbedingt auch mal reingehen. Da ist der Herr Wuiser nämlich auch seither. Weil er sich gedacht hat, so ein Haufen Kohle, wie er einen hat, passt gut zum Darknet dazu. ‚Schnell zu Kohle kommen?‘, steht auf seiner Darkbook-Seite. Aber nicht, dass Sie jetzt denken, dass er dorten die ganze Kohle verschenkt. Ist bloß ein Werbespruch. Nein, der Herr Wuiser hat es viel schlauer angestellt und hat dort eine eigene Währung gegründet.

Kennen Sie dieses Bitcoin? Ja? Weil was das Bitcoin im Internet ist, ist das Kohlecoin jetzt im Darknet drin. Eine Währung, die an der Wuiser-Kohle hängt. Währungseinheit ist ein Kohlecoin oder ‚Koincoin‘, wie man bei uns in Bayern sagt. Und zehn Koincoin sind ein ‚Wuiser‘. Und zehn ‚Wuiser‘ sind dann ein ‚Professor Wuiser-Coin‘. Und wenn man zehn ‚Professor Wuiser-Coin‘ kauft, gibt’s dann schon einen Darknet-Artikel gratis. Eine Kalaschnikow. Oder ein Pfund Koks. Oder eine Waschmaschine, die sich um ihre eigene Trommel dreht.
Sie können sich’s aussuchen.“

Anja Gmeinwieser: München-Kabul (oder in die nähe) Abflug 09:16 (morgen)

wir sitzen im Garten, in deinem garten, ein gemieteter garten. Um uns herum mäht eine frau den rasen, immer in großem abstand zu unserer decke, dennoch näherkommend. irgendwann werden wir aufstehen müssen. 

das ist die vermieterin, schreist du. 

dir betrachten die vermieterin beim mähen, sie mäht sehr entschlossen, so von körperhaltung her. 

du schreist über das rasenmähermähen hinweg: die vermieterin ist beim bund. morgen muss sie nach afghanistan für drei monate, deshalb mäht sie jetzt nochmal rasen. ich betrachte die frau mit anderen augen, sie ist jetzt eine frau, die heute den rasen mäht und morgen nach afghanistan fliegt, weil sie morgen nach afghanistan fliegt, damit sie morgen beruhigt fliegen kann (nach afghanistan).

ich stelle mir vor, was die vermieterin vielleicht noch tut, heute am tag vor dem flug nach afghanistan. die bundeswehr nimmt keine linienflüge nach kabul, denke ich, die fliegen sicher direkt in den hindukusch, sicher ist da viel weniger flugvorbereitung als bei economy class. 

beispiel-todo-liste vor drei monate afghanistan: 

z.b. nachbarn schlüssel geben, damit der die yucca gießt.

z.b. nachbarn pralinen schenken, damit ers gerne tut. 

z.b. alle offenen und/oder verderblichen lebensmittel checken. z.b. selbige aufessen/wegwerfen/verschenken.

z.b. handwerker beordern, für das mietshaus, dessen rasen gerade gemäht wird. 

z.b. mit den mietern streiten: dürfen diese einen kompost anlegen? ( o ja,  o nein, o zu folgenden bedingungen).

z.b. das pferd im stall besuchen, abschied nehmen, den leuten vom stall instruktionen und geld weitergeben.

z.b. ein letzter ritt über felder. 

z.b. nochmal telefonieren. falls ihre eltern noch leben: auf jeden fall telefonieren.

z.b. einen guten braten essen, schweinebraten, das gibt es sicher länger nicht, ab jetzt.  

z.b. noch einmal mit dem glas guten wein auf dem balkon stehen, ein letztes mal, z.b.rosé. 

z.b. haltung annehmen auf dem balkon. 

z.b. abendspaziergang.

z.b. plausch mit den nachbarn. 

z.b. duschen, beine rasieren, eincremen, zähne putzen.

z.b. Unruhig schlafen.

welches Gefühl hat deine vermieterin für afghanistan? fühlt sie auch die mische aus banalität brachialität beklemmung, oder fühlt sie einfach alltag, der mir, der außenstehenden, plötzlich erst als möglicher alltag in den sinn kommen? 

sie hat eine schöne körperhaltung beim mähen. gibt es gras in afghanistan? mäht da jemand rasen, bei der bundeswehr? Oder ist alles wie auf fernsehbildern ganz graslos? 

ist rasenmähen ihr zeichen für daheimsein? ist vermieterin sein ihre freizeitidentität? 

ich kenne diese frau nicht. 

ich versuche, diese frau ein wenig zu hassen.

ich hasse sie aber nicht.

ich versuche, diese frau ein wenig zu lieben. 

natürlich liebe ich sie auch nicht. 

in drei Monaten liegt ja über dem rasen eine schneedecke, oder?

schippt sie dann schnee, mit der gleichen Haltung, wie sie rasen mäht?

hast du sie angesprochen auf afghanistan? Hast du die fragen gefragt du sagst, was hätte sie tun sollen und schilderst eine lebensgeschichte die ganz kausal beim bundeswehreinsatz in afghanistan endet, die abzweigungen wären hartz oder regaleräumen gewesen, da könne man sich ebenso für krieg entscheiden, da verdiene man wenigstens. in der logik mancher leute, sagst du, macht das sicher sinn. 

die raseninsel, auf der wir sitzen schrumpft, das getöse um uns wird lauter, die kreise, die die vermieterin um uns herumzieht werden enger, sie  beginnt schon, uns zu beäugen, wir äugen zurück und sind natürlich still jetzt.

bei anderthalb meter stehen wir auf und nehmen die decke, damit der tag weitergeht, damit sie morgen fliegen kann. 

Jan Bratenstein & Jonas Hauselt: Fässerfass

Sehn Sie hier mein Fässerfass!
Kein Fass is besser als wie das.
Es fasst vierzig Fässer,
kein Fass is besser.

Bieten Sie mir einen Boddich an,
Sag ich nur: „BRAUCH ICH GAR NICH, MANN!“
Denn ich hab mein Fässerfass.
Außen trocken, innen nass.

Margit Heumann: Für den Wald ins Feld ziehen

Ich träum, ich steh im Wald. In meinem Sommerwald mit dem Duft nach Harz und Tannen und Hitze und Pilzen und Moos. Kindheitswälder voller Haselnüsse, Waldbeeren und Sauerklee. Wichtelgärten mit Buschwindröschen und Leberblümchen und Efeu. Kobolde unter Schneckenblättern. Zwergenhöhlen zwischen Baumwurzeln, ausgestattet mit Rindenmöbeln und Moosbetten, das Vieh sind Lärchen- und Föhrenzapfen hinter Steckenzäunen. Auf dem Rücken liegen im Moos und Händchen halten mit der ersten Liebe, hinter schräggestreiftem Sonnenvorhang, in dem die Stäublinge tanzen, die Blicke verloren in den Blättern und Nadeln, den Baumkronen, den Wolken und dem Himmelsblau zwischen den Wipfeln. Solcher Wald ist nicht mehr. Nun brennt der Baum.

Fakt ist: Wald ist überall. Ich war schon im Bayerischen Wald, im Wiener Wald und im Waldviertel, dem mystischen. Es gibt den Böhmer-, Oden- und Grunewald. Der Teutoburger Wald ist historisch bedeutsam. Den Nürnberger Reichswald nennt man auch Steckerleswald. Der Schwarzwald heißt in der Schweiz Bois Noir und sonst Black Forest. Filme habe ich gesehen über die Paradieswälder Papua-Neuguineas und den radioaktiv ermordeten Red Forest und über Forrest Gump, aber der ist kein Wald. Der Waldmeister auch nicht, gehört jedoch hierher wie das Reh, der Specht, der Eichelhäher, das Eichhörnchen, das Wildschwein. Ein Waldschwein gibt es nicht, aber eine Waldkatze, zumindest eine norwegische, und einen Waldkauz, wo Fuchs und Hase nicht mehr lange Gute Nacht sagen.

Fakt ist: Vor lauter Bäumen sieht man den Wald nicht. Tannen, Fichten, Föhren, Lärchen, der Nadelwald. Eichen, Buchen, Birken, der Laubwald. Monokulturen haben sich nicht bewährt, der Mischwald, das Unterholz. Der Bannwald gegen Lawinen, Felsstürze, Muren. Der Nutzwald zur Holzgewinnung. Die boreale Nadelwaldzone, besser bekannt als Taiga. Palmen, Mammutbäume, Mangroven, Affenbrotbäume, Olivenhaine. Der Dschungel. Der Tropische Regenwald. Die Urwälder, bedrohte Heimat der Berggorillas ebenso wie der letzten indigenen Völker. Überall ist die Axt am Baum.

Fakt ist: Vor lauter Bäumen sieht man den Wald nicht in Gefahr. Der Regenwald ausgebeutet und abgeholzt für Teak und Mahagoni, brandgerodet für Plantagen. Vor Augen das heimische Waldsterben. Durch sauren Regen. Borkenkäfer. Ozonloch. Skipisten. Erdrutsche und Muren. Dürren. Waldbrände. Wildverbiss durch Überpopulation. Schneelast. Lawinen. Abgase und Schadstoffausstoß. Die maschinelle Abholzung per Harvester. Wibke und Lothar und Kyrill knicken die Bäume wie Streichhölzer. Und als Krönung des Ganzen dauerhaft verstrahlter Waldboden, radioaktive Pilze, becquerel-verseuchte Wildschweine auch noch dreißig Jahre nach Tschernobyl. Auf vielfältige Weise wird der Wald zu Asche gemacht.

Fakt ist: Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Für den Wald ins Feld ziehen. Es braucht Baumschulen für den Nachwuchs. Die Aufforstung und die Wiederaufforstung. Die Waldpflege. Die Waldarbeiter, die Jäger und Heger. Forstämter, den Staatsforst und die nachhaltige Nutzung samt Schadholzaufarbeitung und Holzrücken mit Pferden. Die Ausweisung von Naturschutzgebieten, Nationalparks, Reservaten. Es braucht Brandreden und Protestaktionen, das Kyoto-Protokoll, Kampagnen und Goodwill-Maßnahmen wie den symbolischen Regenwaldkauf, urkundlich bestätigt. Es gibt die Verantwortung. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.

Daphne Elfenbein: Der Zug nach Kötzschenbroda oder wie man zum Berliner Urgestein wird

Dass Daphne Elfenbein vom Himmel gefallen und auf den Füßen gelandet ist bei ihrer Geburt, ist in eingeweihten Kreisen hinlänglich bekannt. Dass sie aber nun, nach mehr als 50 Jahren des Irrens und Wirrens in Berlin angekommen ist, das soll heute über den Äther kundgetan werden. Zu Beginn des Neuen Jahres, wo die Glastonnen aus den Hinterhöfen verschwunden sind und an jeder Registerkasse auf Gedeih und Verderb Bons ausgegeben werden müssen, gibt es doch immerhin diese eine gute Nachricht. Frau Elfenbein ist von der Markgräflerin zum Berliner Urgestein mutiert. Zunächst soll hier in einer Schweigeminute der armen Verkäuferinnen gedacht werden, die bis zu 800 mal am Tag „möchten Sie den Bon?“ fragen müssen. —- (Schweigeminute). Und nun ein konstruktiver Lösungsvorschlag zur Kassenbon-Frage: Verlangen Sie den Bon doppelt! Dann haben Sie ein BonBon! 

Warum aber hat Daphne Elfenbein in Berlin nun ihre Heimat gefunden? Hat sie einen Test in Berlinkunde bestanden? Ist ihr Fell dick genug für die Unverschämtheit dieser Stadt? Nein. Wie jeden Morgen verließ sie heute mit 5 Minuten Verspätung das Haus, um 5 Minuten verspätet zur U-Bahn zu kommen und 5 Minuten später zur Arbeit. Ein wirksamer Auftritt. Doch hierzu gibt es mal eine eigene Sendung. Wenn es mal ein freies Thema gibt. 

Wie ging es weiter? Auf dem Weg zur U-Bahn nahm sie eine scheppernde klappernde Tasche mit leeren Gurkengläsern mit, die in die Altglastonne mussten. Nein, nicht im Hinterhof. Beim Park vorne, 200 Meter die Straße runter. Das erklärt das Zuspätkommen. Wenn die Glastonnen im Hinterhof gewesen wäre, dann wäre sie pünktlich gewesen. Die BSR ist schuld. Müssen die jetzt die Glastonnen aus den Hinterhöfen rausnehmen? Darüber hat sie sich lang und breit ausgejammert auf sämtlichen sozialen Netzwerken, so lange bis es eine Petition zur Wiedereinführung der Glastonne im Hinterhof gekommen ist. Darauf ist Frau Elfenbein stolz. Ihre Nachbarn haben kräftig mitgejammert: Es klappert so furchtbar, ich kann gar nicht mehr schlafen! Und wenn man über die Straße will, sieht man nix, das ist ja lebensgefährlich, mit diesen Glastonnen am Straßenrand. 

Die U-Bahn war dann berlintypisch auch zu spät, wegen einer technischen Betriebsstörung. Technische Betriebsstörung in Berlin kann dreierlei heißen: a) der Fahrer kam nicht zum Dienst oder ist in seiner Laube am gasenden Grill erstickt, den er zu Heizzwecken in sein Schlafzimmer gestellt hat. B) es hat sich wieder jemand vor den Zug geworfen oder ist von einem Irren auf die Gleise geschubst worden. C) es gibt einen Polizeieinsatz wegen Bandenkriminalität. Auch so eine Frage für den Berlin-Test. Aber um wirklich wirklich Berliner Urgestein zu werden, braucht es noch etwas ganz anderes…

Die Glastonnen waren so überfüllt, wie die verspätete U-Bahn. Frau Elfenbein zwängte sich in die Menschenmenge hinein zum BVG-Kuscheltreffen. Der Fahrer brüllte über die Fahrgastinformation: bitte benutzen Sie die Türen des gesamten Zuges. Und jetzt kommt’s: Frau Elfenbein brüllte zurück: „Und wer nicht reinpasst, fährt noch auf dem Dach mit!“ Die Fahrgäste stierten vor sich hin. Eine verzog schmerzhaft den Mund. Frau Elfenbein trällerte den „Zug nach Kötzschenbroda“ und ging beschwingt über den Kudamm: Das war echt Berliner Schnauze!“ Der Test ist bestanden! Daphne Elfenbein steht schon auf der Warteliste für einen Schrebergarten.

Marius Geitz: Alexander Gerst

Hartes Training
mitten dort im Nichts.
Muskelaufbau
viel zu viel Gewicht.

Feine Sahne,
die gibt es hier nicht mehr.
Wenn nur dieser Traum,
Wenn nur dieser Traum in mir nicht wär

Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne mehr wie Alexander Gerst sein

Vierhundert Kilometer
weit nach vorn,
ein kleines bisschen Druck
dort in den Ohr`n.

Ganz entspannt
im Sitz zurücklehn`
ich kann jetzt erstmal nicht mehr zurückgehn.

Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne mehr wie Alexander Gerst sein.

Manchmal ist es einsam.
Ich denk, ich schaff es nicht mehr.
Manchmal frag ich mich auch:
„Wie komm ich nur hierher?“

Doch dann reiß ich mich
ganz schnell wieder zusamm`,
ich pack meine Siebensachen
und schau dich im Fernsehen an.

Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne wie Alexander Gerst sein.
Ich möchte so gerne mehr wie Alexander Gerst sein.

Mit Musik:

https://leidengruppe.bandcamp.com/track/alexander-gerst

Arabella Block: Wundertüte

„Nein“, sagte meine Mutter und: „Du meine Güte.
Was willst du denn mit diesem billigen Ding!
Da ist doch niemals etwas von Bedeutung drin.
Schluss, aus, ich kauf dir keine Wundertüte.“

Und dabei blieb es kindheitlang. An der A3
stand zwar das Wundertütenwerk, in dem die Tüten,
auf denen ach so vielversprechend Sterne blühten,
enstanden, doch wir fuhren stets vorbei.

Der neonblaue Namenszug an der Fassade
hat sich mir zugeflüstert Jahr für Jahr.
Bis die Buchstaben nacheinander starben.

Als auch das großgeschwungene W erloschen war,
blieb nur eine Fabrikruine ohne Farben.
„Zu spät“, wisperte sie mir zu, „wie schade.“

Lothar Gröschel: Ofenrohre und Gasflaschen

Manchmal hat man auch Glück und schafft es in einer Viertelstunde vom Prenzlauer Berg bis zum ICC, das sie jetzt nicht abreißen wollen, sondern mit einer Art Haube überdachen. In München würde ja auch niemand auf die Idee kommen, den BMW-Turm, der als zylinderförmiges Symbol die Kraft der bayerischen Ingenieurskunst verherrlicht, einzustampfen, bloß wegen mangelhafter Energieeffizienz oder so.

Das Auto hat mein Vater vor etlichen Jahren bei den Franzosen gekauft und mir neulich gegeben: „Dafür krieg ich nichts mehr, dann nimm’s doch Du, ihr braucht doch ein Auto, das geht.“ Er meinte: ein Auto, das fährt. Und das tut es auch. Nach drei Stunden passieren wir die alte Zonengrenze, die Brücke der Deutschen Einheit, und jubeln theatralisch: „Hurra, wir sind in Franken.“ Ein Ritual von früheren Fahrten, als die Kinder noch klein waren und ein bisschen Abwechslung das Durchhaltevermögen förderte.

Ab Bayreuth zählen wir die Ausfahrten herunter: Trockau, Pegnitz, Weidensees – wie die Ausscheider bei der Bundeswehr ihre letzten 100 Tage – und in Plech verlassen wir die Autobahn. In Ottenhof läuft ein Mann über die Straße: es ist 22.14 Uhr. Hier habe ich noch nie jemanden auf der Straße gesehen – ohne Auto, ohne Bulldog, ohne Panzer.

Kurz vor Betzenstein ein Warndreieck, mehrere Autos stehen am Straßenrand, Feuerwehr ist da, Sanitäter, ein Polizeiwagen steht in einem Feldweg. Männer starren vor sich hin, ein Auto kehrt vor uns um, fährt mit Vollgas in die andere Richtung. Wir rollen am Unfallort vorbei, ahnen nur, dass da unten in der Wiese ein Auto auf dem Kopf liegt. Ist da noch jemand drin?

„Du musst auf die Tiere aufpassen“, sagt Tanja. Kurz darauf steht ein junges Reh auf der Straße, schaut in unsere Richtung, Schrecksekunde, weiß nicht wohin, tänzelt dann auf die Seite und stolpert beim Überqueren des Grabens. Große Aufregung im Auto. Ich fahre jetzt noch langsamer. Meine Leute halten Ausschau nach Wild.

In der Stube ist es noch warm. Mein Vater hat den Ofen geschürt und einige Kohlen drauf gelegt, damit er die Wärme hält. Im Flur riecht es nach Kadaver, als wären fünf Mäuse hinter dem Schrank verreckt. Ich suche nach Bier, es stehen aber nur einige Weinflaschen herum. Dann lieber einen Whisky. Bowmore, schottisch, schmeckt ein bisschen nach Erde, torfig, ist gut, um nach diesem Ritt quer durchs Land wieder runter zu kommen. Dank der Luftheizung sind auch die Schlafzimmer leidlich temperiert: um die 6 Grad werden es schon sein.

Es regnet. Die Wiese ist grün. Die nackten Äste der Obstbäume zittern im Wind. Die Fassade vom Nachbarhaus – mit grauer Patina überzogen: Algen oder Schimmel? Beide können sich im körnigen Mineralputz hervorragend vertiefen. Beim Metzger lasse ich mich von meinen verborgenen Gelüsten hemmungslos verführen. Kaufe Kraut- und Leberwürste, beide leicht angeräuchert, Bauernseufzer, Pfefferbeißer, rohen Schinken und einige Bratwürste. Wenn ich auch nur zur Hälfte katholisch bin: der Besuch einer Metzgerei hier im Oberland ist ein Hochamt. Scheiß drauf: eine Schüssel Fleischsalat muss auch noch sein. Wer das alles essen soll? Die Metzgerin summt während sie mich bedient. Sie summt immer, wenn ich im Laden bin. Sie kann sogar summen, wenn sie mit einem spricht. Hochmusikalisch. Wird man das als Metzgersfrau in Franken?

Tanken bei Esso. Ein Familienbetrieb seit Generationen. Neben mir parkt ein Auto, das ich nicht kenne; aber die Besitzerin des Autos kennt mich. Vor einem halben Leben haben wir – mit anderen 14- bis 17-jährigen aus unserem Dorf – an den Freitag- und Samstagabenden zusammen saufen gelernt. Asbach-Cola, Bacardi-Orange, Persico-Apfel und natürlich Bier waren unsere Lieblingsgetränke. Die Mädchen mischten auch Rotwein mit Cola. Wir trafen uns oft in einer leerstehenden Wohnung, die ihrer Familie gehörte. Wir knutschten damals fast bei jeder Party herum. Und heute waren wir uns fremd. Wann hatte ich sie zum letzten Mal gesehen? Es hätte Liebe sein können. Warum vergisst man selbst solche Dinge? Gut, dass es so ist. Wir gaben uns die Hand zum Abschied. Keine Umarmung. Vielleicht hätten sich unsere Körper dann erinnern können.

Im Haushalts- und Eisenwarenladen steppt der Bär. Eine Frau mit getönter Kurzhaarfrisur, wie sie die Frauen hier tragen, studiert Tassen und Teller in der Abteilung für Geschirr der gehobenen Klassen. Ein Dreitagesbärtiger lässt sich von einer der Angestellten zu Espressomaschinen beraten. Ein Mann mit Arbeitsklamotten steht vor dem Regal mit Akkuschraubern: eine handliche Markita mit 17mA – das ideale Geschenk für den Schwiegervater.

„Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“, ruft es hinter mir. Der Chef begrüßt mich. Gut gelaunt, wortreich, leicht gehetzt wie immer. Sein Vater, ein Flüchtling wie man hier nach dem Krieg sagte, hat den Laden aufgebaut. Zäher Hund, Geschäftsmann durch und durch. Mir klingt noch das feine, knarzende Näseln seiner Stimme in den Ohren, wenn er zu meinem Großvater sagte: „Was wir nicht haben, gibt es nicht.“ Damit hat er es zu Wohlstand gebracht.

Der Sohnemann schwärmt mir von seiner Liebe zur Hauptstadt vor. „Sie wohnen doch in diesem Bezirk mit der höchsten Kriminalitätsrate, wie heißt der nochmal? Wedding?“

Zusammen gehen wir in den Keller. In diesem Laden kriegt man alles, was man so braucht: Messer, Sägen, Schrauben (handverlesen), verzinkte Nägel, Gewindestangen, Scharniere, Schlösser, Schlüssel, Gartenschläuche, Kühlschränke, Pelletsöfen, Wasch- und Spülmaschinen, Küchenherde, Fahrräder, Sanitärmaterialien, Wasserkocher, und natürlich Ofenrohre. Der Meister sucht mir die passenden Rohre heraus, 120mm Durchmesser. Am Tresen schreibt seine Frau eine Quittung für die graue Kurzhaarfrisur, die sich einen Stapel cremeweißer Teller geleistet hat. Der Chef sagt zu seiner Frau: „Hier riecht es schrecklich nach Zwiebeln, widerlich.“ Seine Frau fühlt sich sogleich angegriffen: „Wie kommst Du darauf, hier hat keiner gegessen.“ Er: „Ein Zwiebelgeruch, das hab ich vorhin schon bemerkt“. Seine Frau: „Ich weiß gar nicht, was Du meinst.“ Sie isst gern, das ist mir schon bei früheren Besuchen aufgefallen: mal ein belegtes Brot, oder ein Nudelgericht aus einer Tupperdose, die neben der Kasse stand. Er: „Das war doch die Kundin, die sich nach dem Laubbläser erkundigt hat. Ein Ausdünstung hat die gehabt, unglaublich.“ Seine Frau kramt in der Schublade, wo die Quittungsblöcke und Stempel aufbewahrt werden.

„Der Mann hier kommt aus Berlin, um sich bei uns Ofenrohre zu kaufen …“, wechselt der Chef nun das Thema. Ich lege zwei Scheine auf den Tisch. Seine Frau schaut mich überrascht an: „Sie wohnen in Berlin? Aber ich kenne Sie doch, Sie kommen von hier, gell?“ Ich nicke. “ Sie sind wohl auf Besuch da? Und bleiben die Feiertage hier?“ „Ja, habe ich vor.“ Ihr Mann gibt mir das Wechselgeld und den Kassenzettel. „Wie lange wohnen Sie denn schon in Berlin?“, fragt mich die Frau. „Hm, das sind schon 25 Jahre.“ Sie hebt den Kopf, zieht ihre Brauen hoch: „Ja, haben Sie dann überhaupt noch Freunde hier? Ich meine, wegen Weihnachten.“ Ihr Mann klinkt sich ein: „Er hat doch noch eine Familie hier, mit der wird er feiern, oder?“

Ich verabschiede mich von der Frau. Ihr Mann geht mit mir nach draußen, schließt das Holzkabuff auf, das sich zwischen seinem Haus und dem Nachbarhaus befindet, und holt eine 11kg-Flasche mit Propangas heraus. Ich öffne den Kofferraum. „Sie fahren doch gleich nach Hause“, sagt er zu mir. „Weil, normalerweise dürfen Sie die Gasflasche nicht in einem geschlossenen Fahrzeug transportieren. Vorschrift! Explosionsgefahr!“ „Echt, hab ich noch nie gehört.“ Er verspricht, mich zu benachrichtigen, wenn er mal wieder nach Berlin kommt. „In diesem Kuhkaff hier hält man es doch gar nicht aus.“

Matt S. Bakausky: Nichtszuverlieren, außer

Im Psychiaterwartezimmer eine Art Stuhlkreis, nur dass die Stühle direkt an den Wänden stehen. Menschenbepackter Raum, ich fühle mich beobachtet. Schweiß, Herzrasen, Zitttern. Gedanken, was die Patienten über mich denken.

Herr Meier wird aufgerufen.

Herr Thomas wird aufgerufen.

Ein neuer Patient kommt hinzu. Draußen die Sprechstundenhilfen am Tippen und Telefonieren. Eine Patientin betritt den Raum. Und noch eine. Schreckliche Augen von überall auf mich gerichtet.

Frau Mühlen wird aufgerufen.

Zwei weitere Patienten betreten den Raum. Circa ein dutzen aufgerufener Patienten und zwanzig neuer Patienten später wird die Stimme in meinem Kopf kurz leiser.

„Herr Bakausky“ tönt es durch den Lautsprecher. Der Arzt zu gut gelaunt, ich vermute er kokst. Ich bekomme Beta-Blocker verschrieben. Der heiße Scheiß gegen soziale Ängste. Vielleicht. Eigentlich zur Senkung des Blutdrucks, können sie auch entspannend wirken. Off-Label, also anders als auf dem Beipackzetttel verschrieben, heißt das.

Große Erleichterung als ich die Tür der Praxis hinter mir schließe. Das ist der beste Moment, das beste an den Arztbesuchen. Nach dem größer und kleiner werdenden Stuhlkreis, kurze Pause vom Stress.

Der nächste Stuhlkreis in der Straßenbahn. Ich fühle mich im Mittelpunkt, denke dass es jedem auffällt, wie ich schwitze, zittere und schaue auf den Boden. Selbsthilfegruppe – der finale Endboss der Stuhlkreise für heute. Ich gehe nicht hin, lieber nach Hause. Vermeiden ist gut. Führt zwar zur Verschlechterung der Symptome, ist aber gut.

Am Abendessentisch fragt mich meine Oma, warum ich sowenig rede. Scheinwerferlicht auf mich. Der ganze Stuhlkreis wendet seine Augen auf mein schwitzendes Gesicht. „Äh, ich weiß nicht“ sage ich kleinlaut. Und schon ist das Thema gegessen und meine Mutter kommt mit dem Nachtisch rein. Warum habe ich solche Angst vor Fremden? Wahrscheinlich habe ich nicht vergessen, dass ich einst von zwei solchen groß gezogen worden bin.

In meinem Zimmer schalte ich den Monitor an und gehe in den Chat. Entspannt auf meinem Stuhl, ohne Kreis, ohne Augen die auf mich schauen. Ich bin der Boss, ich bin es der den Chat lenkt. Kein Zittern, kein Schwitzen, sanft gleiten meine Finger über die Tastatur. Menschen sind gleichzeitig Freund und Feind, hier bin ich jedoch pseudonym, hier kann ich sein.

Zerocool verlässte den Raum.

Hexe verlässt den Raum.

Wursthans betritt den Raum.

Der Bot kickt und bannt Wursthans, weil er spamt.

SevenEleven verlässt den Raum.

EvilSanta, Hackbert und Tiny sind afk.

Zeit herunterzufahren.