Wie erklärt man der Eintagsfliege den Schlaf?
Als wärest du kurz nicht,
als verlöschte das Licht,
als flögst du nicht dicht
über der bebenden Haut des Tags?
Sein oder Nichtsein summt sie und lacht,
wach unsterblich.
Kategorie: Lyrik
Harald Kappel: die Motte
im silbergrauen Regen
aus dem dunklen Moor
unter den niedrigen Kiefern
schlüpfe ich aus der alten Haut
hinterlasse milchweiße Fetzen
krieche rücklings
aber voller Hoffnung
über Wurzeln und Steine
erscheine eigenartig schön
in fremden Augen
in deinen Augen
bleibe ich
eine heuchelnde Made
ohne Einsehen
so altere ich schnell
unter der grünen Lampe des Waldes
wohne im Bootssteg
tief im Eisenholz
blinzele gelegentlich
in die träge Sonne
nage Bitternis in den Magen
schmecke
rieselnde Verzweiflung
und doch glitzerst du
unsterblich
ich
werde niemals fliegen
im silbergrauen Regen
Harald Kappel: ans Fenster treten
Ans Fenster treten
das Leben steht still
Vögel fliegen nicht mehr
Seelen schaben die Landschaft
unsere Zeit sinkt in verschimmeltes Brot
Bäume wandern umher
endlich
die Farben brennen
was bleibt ist Asche
tote Halme unter Planen
ans Fenster treten
das Leben
ich sehe nicht
das Leben
vergessene Spuren
das Leben leben
womit denn
wenn nichts fliegt
wenn Klänge im Vacuum versiegen
womit denn
fühlen
wenn man Hände
im kalten Meer
Gebeine nennt
ans Fenster treten
tun
was zu tun ist
Harald Kappel: Lügenregen
in der alten Fabrik
strömt saure Gegenwart
aus den Oberlichtern
regnen langsam Lügen
die Anzahl der Legenden
kreuzt das Imperfekt
mit der Zeit
Kapitel des Schreckens
überdauern
die Dummheit der Prokuristen
Gerechtigkeit
verflüssigt alle Spiegel
offene Fragen
erhitzen die Zungen
schwüle Raumluft
strömt aus Oberlichtern
am Himmel
in der sauren Fabrik
Harald Kappel: der wahre Glaube
am Zaun
die schwarze Pupille
Öl quillt aus dem Schlüsselloch
färbt Lügen blind
nur
ein loses Brett
zeigt mir
das Geheime
den Winterschlaf der Ratten
die verklumpten Sterne
gern glaube ich
pinsele mein Selbst
grabe im Erdschatten
stehe hüfthoch im Wurmloch
finde eingelegte Aale
winde mich in Neuigkeiten
nur
die Lügen
zeigen mir
meinen wahren Glauben
am Zaun
Luca Rihm: Die große starke Erde
Sanfter Frühlingswind
Streichelt meine Haut
Ich bin so tief versunken
Gefühle werden laut
Die Sonne deckt mich zu
Hält meinen Körper warm
Die große starke Erde
Nimmt mich in ihren Arm
Geheimnisse des Lebens
wohnen in den Bäumen
Ich spüre, ich lausche, ich bin
Und brauche nicht zu träumen
Das Wasser trägt den Himmel
Er erwacht im Wellenspiel
Alles ist verbunden, alles ist eins
Und doch unfassbar viel
Şafak Sarıçiçek: Sammlung Prinzhorn 4
1 – Diorama aus
Wer aus der Stadt steigt, sieht
Skarabäen ihres Hauptes, o Hexe.
Wer aus der Stadt steigt, siecht
am Marmor ihrer Augen, o Wahn.
2- Diorama an
Hackerin der Stadt, Hekate hat
falsche Sonnen gebracht
und rote Wellen rollen über Acker, Äon, Feld
und die Leinwand brennt, Codes erhaben.
3- Diorama aus
Wer in die Stadt steigt und sieht.
Wer in die Stadt steigt, nicht siegt
und siecht dahin in ihrem Kopfe
nur seichte virtuelle Idee.
Harald Kappel: Intrauterine Märchen
nicht schuldig
spucke ich
das Attentat
lässig
eine bedauerliche Hysterie
lebenslang
lese ich nun
im Käfig
im Kinderbuch
intrauterine Märchen
verfluche am Telefon
locker
die Opfer
den symmetrischen Abdruck
ihrer Brandblasen
lebenslang
wachsen mir
selbstunähnlich
Flügel aus Chitin
und Pathologien im Schädel
manchmal
häute ich mich
lässig
eine bedauerliche Hysterie
mein tüchtiges Ich
nicht schuldig
lebenslang
Steffen Diebold: Die Nixe vom Neckar
In Ufermorast
ein Bein vertreten
Ostwind hustete
hinter die Ohren.
Der Salix Haare
hingen im Fluss lag
ausgeweidet die
Kette der Kähne.
Auch den letzten Tag
sinnlos verbummelt
taumelten wir in
ihr nachtblaues Kleid.
Steffen Diebold: Burg Azilun
Über Stock und Stein
stolpert Frau Holle
flittern Glasnadeln
in Dezemberlaub.
Längst ruiniert als
Kalksteinbruch dämmert
auf Grat und Kamm sie
zwischen Bergspitzen.
Reifnebel sintern
von fern funkelt ein
kalter Stern scharf wie
die Tellermine.