Harald Kappel: eigenartiges Radio

ich bin ein kreiselndes Geschöpf
am Toten Punkt
jenseits der Jetztzeit
die Uhren beben
und laufen ab
nur für mich
das Transistorradio verkündet
meinen Einschlag auf den Mond
und im Dorf        
haben sie es ja schon immer gewußt
Massen versammeln sich am Horizont
meine verklebten Augen
sehen den Würgereiz ihrer Gesichter
im Stall stopfen sie mir trockenes Heu
ins freche Maul
reglos ertrag ich die Fütterung
nach Vorschrift des Führers
im Graben
ist die Strömung zum Erliegen gekommen
und das Denken
dort liegt die Freiheit im nassen Sarg
ich falle quer hinein
dieser Bruch wird nicht verheilen
ein scharfer Schatten
seziert meinen falschen Mut
das Transsistorradio verkündet
meine Läuterung

Harald Kappel: ihr Ratten

ich habe mein Bett
unter euer Fenster gerückt
gleich morgen
werde ich etwas aus dem Leben machen
mein Wein wird sauer
wann er will
Ratten können gehen
wohin auch immer
nur ich
ich
ich bin gefangen
Durst ist mein Käfig
ich kämpfe hart
habe keine Furcht
nur
vor der Freiheit
aber ich werde
euch Allen verzeihen
euch Alle bezahlen
euch Alle lieben
ihr Ratten
ich werde etwas aus dem Leben machen
ich habe mein Bett
unter eure Freiheit gerückt gleich morgen

Jutta v. Ochsenstein: es fließt

doch spürbar die bleibenden Flügel:
ein Dornenstich in der Brust
am Felsenufer gestrandet

auch dort wohnen Zeichen:
Samenflug, Windrosen
wir atmen mit bleiernen Flügeln

zwischen den Zeilen zittert
die Hand auf der Stirn weiß

Augenblicke springen im Spiegel
das Himmelsblau im Vorüberziehen

Harald Kappel: die Motte

im silbergrauen Regen
aus dem dunklen Moor
unter den niedrigen Kiefern
schlüpfe ich aus der alten Haut
hinterlasse milchweiße Fetzen
krieche rücklings
aber voller Hoffnung
über Wurzeln und Steine

erscheine eigenartig schön
in fremden Augen
in deinen Augen
bleibe ich 
eine heuchelnde Made
ohne Einsehen

so altere ich schnell
unter der grünen Lampe des Waldes
wohne im Bootssteg
tief im Eisenholz
blinzele gelegentlich
in die träge Sonne
nage Bitternis in den Magen
schmecke
rieselnde Verzweiflung
und doch glitzerst du
unsterblich

ich 
werde niemals fliegen
im silbergrauen Regen

Harald Kappel: ans Fenster treten

Ans Fenster treten
das Leben steht still
Vögel fliegen nicht mehr
Seelen schaben die Landschaft
unsere Zeit sinkt in verschimmeltes Brot
Bäume wandern umher
endlich
die Farben brennen
was bleibt ist Asche
tote Halme unter Planen
ans Fenster treten
das Leben 
ich sehe nicht
das Leben
vergessene Spuren
das Leben leben
womit denn
wenn nichts fliegt
wenn Klänge im Vacuum versiegen
womit denn
fühlen 
wenn man Hände
im kalten Meer
Gebeine nennt
ans Fenster treten
tun
was zu tun ist

Luca Rihm: Die große starke Erde

Sanfter Frühlingswind
Streichelt meine Haut
Ich bin so tief versunken
Gefühle werden laut

Die Sonne deckt mich zu
Hält meinen Körper warm
Die große starke Erde
Nimmt mich in ihren Arm

Geheimnisse des Lebens
wohnen in den Bäumen
Ich spüre, ich lausche, ich bin
Und brauche nicht zu träumen

Das Wasser trägt den Himmel
Er erwacht im Wellenspiel
Alles ist verbunden, alles ist eins
Und doch unfassbar viel

Şafak Sarıçiçek: Sammlung Prinzhorn 4

1 – Diorama aus

Wer aus der Stadt steigt, sieht
Skarabäen ihres Hauptes, o Hexe.
Wer aus der Stadt steigt, siecht
am Marmor ihrer Augen, o Wahn.

2- Diorama an

Hackerin der Stadt, Hekate hat
falsche Sonnen gebracht
und rote Wellen rollen über Acker, Äon, Feld
und die Leinwand brennt, Codes erhaben.

3- Diorama aus

Wer in die Stadt steigt und sieht.
Wer in die Stadt steigt, nicht siegt
und siecht dahin in ihrem Kopfe
nur seichte virtuelle Idee.

Harald Kappel: Lügenregen

in der alten Fabrik
strömt saure Gegenwart
aus den Oberlichtern
regnen langsam Lügen
die Anzahl der Legenden
kreuzt das Imperfekt
mit der Zeit
Kapitel des Schreckens
überdauern 
die Dummheit der Prokuristen 
Gerechtigkeit
verflüssigt alle Spiegel
offene Fragen
erhitzen die Zungen
schwüle Raumluft
strömt aus Oberlichtern
am Himmel
in der sauren Fabrik