„Du gehst heute Abend nicht da hin!“ Sie haute die Faust auf den Tisch, dass die Weihnachtsdeko hüpfte. „Oder ich verlass dich!“ Es war still. Gleich würde eine Tür schlagen. Er stand in der offenen Badezimmertür und füllte ein Glas mit Wasser. Sie saß am Küchentresen. Er kramte im Spiegelschrank, warf sich ein paar Aspirin ein, kippte das Wasser runter und zog seinen Mantel an. „Du siehst aus wie ein Penner“, sagte sie. „Danke, das ist charmant von dir, sagte er leichthin, „ich geh heute zum letzten Mal, Liebes, glaub mir“. Er kratzte sich die Bartstoppeln, strich seiner Frau zerstreut über den Kopf, worauf sie in haltlosem Schluchzen über dem Tisch zusammensank. Dann drückte er sanft die Tür ins Schloss und atmete auf.
In Erwartung eines sicheren Hochgefühls schwebte er durch die Straßen mit seinem Leihwagen. Den eigenen hatte er verloren in jener denkwürdigen Pechsträhne letztes Jahr. Doch da war er noch ein blutiger Anfänger gewesen. Das würde er heute wettmachen… heute Abend… Und morgen hör ich auf damit! Susanne zuliebe! Eine Welle von Rechtschaffenheit und Wohlbehagen schwemmte sein schlechtes Gewissen weg. Alles wird gut. Die Ampel sprang auf grün.
Der Wagen hielt vor dem Casino. Er hielt sein pochendes Herz, als die Türsteher ihren Stammkunden flüchtig nach Waffen abtasteten. Dann trat er ein in die Räume, die schon immer sein ureigenstes Element waren. Warmes Licht umfing ihn, Parfums und leichte Musik, da waren Frauen mit nackten Schultern und alte Damen mit kleinen weißen Hündchen auf dem Arm, Behandschuhte Schönheiten hielten lange spitze Zigaretten und befrackte Herren bedienten sich einer gewählten Sprache. Die Roulettescheiben klepperten wie die Uhrwerke Gottes. Die Croupiers murmelten Zauberformeln. Die Kronleuchter glänzten. HOME!!
In der einen Hand hielt sie eine Rasierklinge, in der anderen Hand das Telefon. Auf ihrem Schoß lag ein Handtuch, in das Rotz und Wasser flossen. Am Telefon Christine, die beruhigend auf sie einsprach. Die Dialoge kennt man. Sie werden hier nicht wiederholt. Es wurde spät. Und ein paar Baileys halfen über den Schmerz hinweg. Am nächsten Morgen, an dem sie allein erwachte, sah Susanne ihrerseits wie eine Pennerin aus. Rot geschwollene Augen glotzten ihr aus dem Badezimmerspiegel entgegen. Es war noch Aspirin da. Sie öffnete die Behördenpost der letzten Wochen und nahm all ihren Mut zusammen um hin zu schauen. Da war was von der Arbeitsagentur, vom Inkassobüro, von der Hausverwaltung…
Gegen 11 Uhr vormittags ging die Türglocke. Sie öffnete. Da stand ein Fremder, der einmal Frank gewesen war. Er grinste blöde aus übernächtigtem Gesicht und hatte ein albernes weißes Hündchen auf dem Arm. „Ich hab gewonnen!“ rief er und hielt ihr ein Bündel Geldscheine entgegen, die irgendwie falsch aussahen. Sie glotzte müde auf die Erscheinung und machte keine Anstalten, ihn hereinzulassen. „Spitz hat mir geholfen“, er deutete auf den Hund in seinem Arm und stellte einen Fuß in die Tür. Der Hund sprang runter und lief in die Wohnung, als gehöre sie ihm. Frank krähte künstlich fröhlich wie zu sich selbst: „erst hab ich Spitz gewonnen, dann hat Spitz gewonnen!“ Er drängte sich an ihr vorbei in die dunkle, unaufgeräumte Wohnung, die schon Jahre keinen Besuch mehr empfangen hatte. Sie folgte ihm schleppend in ihrem Bademantel.
„Und heute Abend gehen wir wieder hin…, rief er aus dem Badezimmer, wo er den Wasserhahn aufdrehte, „Spitz und ich!“ Susanne holte den Koffer vom Schrank, packte als erstes ihre Weihnachtsdeko vom Küchentresen ein, und wählte die Nummer von Christine. Der Hund hockte vor der Badezimmertür.
– Überall sieht man sie heut wieder, diese Zauberer. In der Zeitung lest man sie, im Fernseher tun sie Wunder. Sogar in den Kirchen wird gezaubert, wird gesagt, dass man sich Warzen wegbeten oder doch zurückschrumpeln kann. Dämonen werden ausgetrieben, Pferde kuriert, Kamine gesegnet, aufdass sie nicht abbrennen oder so gefährlich für die Umwelt sein mögen. Ja, beim amerikanischen Präsidenten sitzen die Wunderkönner und segnen und besprechen und schauen die Zukunft. Dabei steht es schon bei den Propheten in der Schrift: ‚Und will die Zauberer bei dir ausrotten, dass keine Zeichendeuter bei dir bleiben sollen.‘ Und trotzdem tun sie’s alle. Und alle laufen ihnen zu und recken die Hände zum Himmel und schreien und schlagen sich selber an die hohlen Köpf. Ja, es ist schon eine finstere Zeit, wo alle diese Zauberer und Magier und Zeichendeuter wieder auf und ab gehen weit und breit. Und auf der anderen Seite? Die Wissenschaft gilt eh nichts mehr, und wenn einer sagt, dass es das und das gibt und dass das und das nicht stimmt, wird er ein Ungläubiger genannt. […] Oder dass er zum Schluss noch in die Hölle kommen tät. Dass er dafür in die Hölle kommt, wegen seinem Glauben in die Wissenschaft. Als Ungläubiger. […] Der Professor Wuiser hat auch gesagt, dass er sich heutzutage deswegen fürchten muss. Und dass er genau aufpasst, wen er was von seiner Wissenschaft erzählt. Am Ende nämlich könnt es gar ein Zauberer sein.
– Was hat er denn dann für eine Wissenschaft?
– Wie bitte?
– Na, was für eine Wissenschaft? Der Professor Wuiser?
– Ah, jetzt! Ja, der Herr Wuiser, der ist Alchemist. Warum?
zitronenfalter auf schlittschuhen sausen in spiralen um die letzten eiszapfen. sonne tropft von den dachrinnen. der föhn jagt stadtansichten über den himmel. aus den landschaftsausblicken quillt frische erde. der gärtner vertikutiert das gehirn und macht den blick mehltaufrei. die oma hat neue gartenstühle gestrickt. auf der vogeltränke steht ein alter schlager kopf. socken und sandalen übernehmen das kommando, die strumpfhose geht ins exil. zwei liegen paaren sich auf der terrasse, wohl wissend, dass der vorhanghinter der gardine spechtet. mitten hinein in diese idylle schneien yetis und derwinter feiert fröhliche urständ. ohne ansehen der person frieren die eismänner sämtliche lenzattribute in handliche blöcke, zitronenfalter und gartenstühle, omas und gärtner, schlager und socken, sandalen und sich paarende liegen. die kalte sophie macht auf erlöser und ertränkt alles mit whiskey on the rocks bis zum bitteren ende aller eiswürfel im sommerloch.
sesamsonnwendich
die letzte wolke stürzt über den weltenrand, im sonnenwagen jagt phaethon über den himmel, zikaden zirpen griechische nächte an den nördlichen wendekreis, wind verkommt zum gluthauch und hausmauern speichern backofenhitze, nur wer von winter und arktis träumt, findet ruhe in orpheus armen. schwüle lässt alle hüllen fallen, bikini und fkk haben hochkonjunktur, im wahn verschlingen einander sonnenanbeter, klimaanlagen surren sich ohne kühlungseffekt zu tode, die arbeitende bevölkerung schwitzt oder transpiriert, je nach etage, schnappt nach sauerstoff wie fische an land, kreisläufe kollabieren, ärztlich verordnet werden wasserhähne, mineralwasserflaschen leergesaugt. Zwischen vertrockneten saaten bricht die erde auf, zur unzeit öffnet der himmel seine schleusen, mit blitz und donner und sturm und fluten bestätigt die ausnahme die regel, während, wehe, die polkappen unter dem ozonloch schmelzen.
simsaladember
reifezeit ist. der urlaub lang vorbei. der himmel sattelt sich türkis, und auf den fluren lässt rainer maria die winde von der kette und auf baumkronen los. die frucht ihrer leiber hängt in stachelmontur im geäst, fallen die hüllen, nehmen sie kullernd reißaus, enden in kinderfäusten oder herbstgestecken oder eines gewaltsamen todes auf asphalt. ein paar stiefel rascheln durchs laub, wo gras seine sommerfrische längst eingebüßt hat. windhosen bitten blätterseelen zum tanz. vogelgezwitscher verwelkt über leeren bänken. niemands blick ruht auf dem tümpel, ungehindert entsteigen ihm trübsinn und modergeruch. wind riffelt das trugbild der uferbäume. ein blatt fällt darauf, zeitigt nicht die leiseste spur, kein wasserfilm reißt und keine ringe laufen auseinander, so bar jeden nachtritts möchte man gegangen sein, wenn der hufschlag des schnitters verklingt. durch dünne jacken beißt der wind eine ahnung von winter.
hokusjulpokus
schneehimmel verspricht das blaue vom firmament, wolken entleiben sich, ihre seelen rieseln in flocken und eisigen nadeln. schneekristalle bitten zum mummenschanztanz und kahle erde erlebt ihr weißes wunderland unter. stahlblauer wintertag, blendgranaten im auge zündend, stellt sonne in den schatten. am schneesaum weißbärtige gestalten in schwerem hermelin habenfichtenseelen, unter ächzen und stöhnen bewegen sie ihre flügel, filigrane kristalle stieben regenbogenschillernd. Es irrlichtert die kompassnadel über die rose und findet kein norden, oben und unten kommen dem weltenlenker abhanden, wellen ohne wasser, dünen ohne sand, nordwärts transzendierte sahara, huf um huf steppt das kamel eine naht in die jungfräulichkeit. fata morgana. schneebälle schlachten sich, türmen sich zu männern, drehen dir eine lange karottennase und kehren dich von der bildfläche. lifte schleppen die erodiertenhänge zu tode und skifahrer gipfelwärts, der olymp wartet auf mit kachelofen und jagertee, es lagern matratzen dicht an dicht, anonymes knie im rücken, unbekannte füße in jeweils fremdem revier, einer atmet den geruch des anderen, schneewehen tauen wie nichts, gletscherspalten sind nie gewesen, alle miteinander vertraut und schlafen, jeder topf findet seinen deckel, neun monate später erntet der herbst die früchte, entzaubert. natur sorgt auf vielerlei weise für den fortbestand der art.
Er kommt nach Hause, zieht das Jackett aus, holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank und Chips und lässt sich schwer in den Drehstuhl fallen. Ein tiefer, langer Schluck, während der Computer hochfährt. Unglaublich, murmelt er. während er das Angebot an Filmen überfliegt auf der Suche nach dem richtigen. Unglaublich. Weil ihm einfällt, was sein Vater ihm neulich erzählte. Dass er in einem Rohbau gezeugt worden war, auf einem Stück Pappe und einem Schal, Frucht einer spontanen Erregung auf dem Heimweg vom Kino. Kichern beim Klettern über den Bauzaun. Er schüttelt den Kopf, nippt am Bier, dimmt das Licht, entscheidet sich für ein Video, ein Gangbang auf einer Yacht und drückt Start. Unglaublich wiederholt er in Gedanken. Ein Rohbau, und das im November. Holt seinen Schwanz raus und legt los.
2.
Nervös skrollt sie durch die Seiten. Ob das mit dem Einlauf echt sein muss? Konzentriert studiert sie die Körper, steht auf, geht zum Spiegel am Schrank, drückt das Kreuz durch, wie sie es gesehen hat. Ja, das sieht schon sehr geil aus. Irgendwo hat sie gelesen, als Frau beim Analsex zu kommen ohne dass der Mann stimuliert sei das ultimative Zeichen ihrer sexuellen Freiheit. Frei ist sie jedenfalls, anders als ihre Mutter, deren Schritte sie draußen im Flur hört. Mama hat ja ihr Leben lang allenfalls Missionarsstellung gekannt, wetten dass? Und vermutlich im Dunkeln. War vermutlich auch besser, die war ja nicht mal rasiert. Ein letzter Blick auf die Filme. Nein, sie zog das jetzt durch. Probeweise imitiert sie das Stöhnen. Es klopft. „Ist alles gut, mein Schätzchen?“ „Ja, Mama“ ruft sie und fährt rasch den PC herunter.
3.
Er beeilt sich nach Hause zu kommen, wirft den Schulranzen in die Ecke und zerrt sich die Hose auf. Er kommt fast sofort, noch im Stehen. Für das zweite Mal nimmt er sich Zeit, zieht die Jeans aus, legt sich aufs Bett und denkt an die Bilder, die Jonas ihm neulich gezeigt hat. Der hat einen großen Bruder der sich im Internet auskennt. Der hat sogar Filme mit Hunden. Allerdings tun ihm da die Tiere irgendwie leid. Lieber mag er die Frau, die ihre Brüste so knetet, dass man meint, sie gehen kaputt. Langsam beginnt er zu reiben. Lange hat er geglaubt, in ihrem Mund, das wäre eine Bratwurst. Seltsam nur, dass sie beim Essen so dermaßen sabbert und stöhnt. Inzwischen kennt er sich aus. Nur macht er sich Sorgen, falls es mal in echt passiert, Ob er es dann auch schaffen wird so doll zu schwitzen.
Noch bist du nicht
fort, aus meinen Träumen, noch hallt die Stimme, erscheint das
Gesicht, der Weg, wir unter den Bäumen der Alleen, auf verschiedenen
Seiten des Flusses schlafend, ein paar Straßen voneinander entfernt,
im Herbst, im Taxi, erst murmelnd, dann ein wenig still, zwischen
Schachpartie und Schwarzem Meer, während der Wagen rollt, in der
Nacht, schließlich wird es ein Patt, und du wirst dich durch meine
Träume ziehen, sporadisch, nicht viel sagen, aber da wird etwas
sein, eine Umarmung wie immer, ein Abschied, und ich, zwischen den
Gleisen, Rolltreppen, Dunst und Waggons, die Biegung der Pferde, wie
die der Bahn, ein uneingelöstes Wiedersehen – in deinem meinem
Blick.
08 / 01 / 2019
Da ist noch das Bier
zwischen uns, und der Stuhl, und die Stimmen der anderen, die
vorbeirauschen, wie Autos, es regnet, das Theater knurrt, hier war
mal was, hier spielten andere Stücke, wir reden über Weinl und dir
flirrt immer noch die Angst in den Augen, ich stelle mir vor, wie du
durchs Fenster türmst oder über das Parterre, was an mir mag es
wohl sein, dass dich in die Flucht treibt und immer wieder zum
Anschauen zwingt, – und doch – trink noch eins, bleib
noch für ein halbes Stündchen, sagst du, Etappen der Scheu –
wovor? – mit einem Lächeln
dazwischen, im Laub sitzt die Hoffnung vergraben und raschelt, morst,
dass es … sie noch gibt, dass es noch blühen muss, atmen, aus dem
Versteck heraus, und der Einsatz auf Glück auch mal gewinnen, statt
nur zu verlieren, wir zünden die Stille an mit Blicken, und ich
locke dich wie einen Straßenhund aus der Reserve – weißt
du Frisch und Pasternaks Schiwago und Hemingways Mann am Meer –
ein wenig Vertrauen, ein wenig … bevor es schneit, und dann der
Schnee schmilzt, und alles vorüberzieht, und wird wie immer …
leuchtet das Nikotin am Ende unserer Münder auf, in der satten
Dunkelheit der Straßen, ich hebe die Hand zum Abschiedsgruß an in
der Bahn, mit einer Nasenspitze voll Regen, und rolle davon, der
Nacht entgegen.
Jeder bekommt eine Spielfigur.
Du musst eine Farbe anmelden,
sonst gibt es keine Helden.
Sonst singen sie nicht. Singen wie die Kiebitze.
Dazu muss es Seiten geben. Mindestens zwei muss es geben.
Hat etwas Seiten im Leben,
dann singen sie wieder, singen die Lieder
von richtig und falsch.
„Der Held liegt im Auge des Betrachters, doch er schert sich nicht drum.“
Wähl deine Seite und zieh.
Wähle Schwarz oder Weiß!
Nicht Feldgrau oder braun wie das Vieh.
Helden stehen nicht an Übergängen,
nicht an sanften Hängen,
selten im Morgengrauen und im Abenddämmer nie.
Sie stehen High Noon. Schattenlos.
Ohne den Schatten eines Zweifels, bloß
im Rücken und die festumwallte Burg.
„Der Helden steht immer am Abgrund, den er sich selbst gegraben hat.“ Schlag deinen Gegner aus dem Feld,
Den Gegenheld.
Helden erkennt man daran,
dass sie sterben.
Helden sind niemals Erben.
Helden leben nicht lang. Helden ist deshalb nicht bang.
„Helden glauben nicht an Schicksal, sie werfen sich ihm in die eisernen Zähne.“
Leider verloren.
Reden wir nicht darüber.
Singen wir Lieder.
„Der Held geht niemals im Kreis und das immer wieder.“
Singen will ich oh Muse,
von ciao bella ciao bella ciao.
Wir haben nichts zu verlieren, die Reihen fest geschlossen,
es klappern die morschen Knochen,
ins Moor, ins Moor.
Komm, schöner schwarzer Vogel,
komm Kiebitz, sing mir das Lied,
es ist immer das Lied vom Tod.
Das Leben spuckt Helden wieder aus,
Das Leben spielt immer remis.
Nur der Held wird zerkaut und durchverdaut.
Das Richtige tut man einmal oder nie.
Dann vergeht dem Kiebitz das Pfeifen.
Durch den Frost im Winter war der Boden gut vorbereitet. Als Lai Fang Lei ihn mit der Harke bearbeitete, fiel die Erde in schwarzen Brocken auseinander. Regenwürmer wanden sich auf den Klumpen. Seine Familie besaß noch mehr Ackerland am Dorfrand, heute hatte er nur die drei Mu hinter seinem Haus pflügen können. Aber Bohnen und Mais kamen sowieso erst in zwei Wochen dran. Er legte die Hacke beiseite, holte das große Sieb und lehnte es an den Pflaumenbaum am südlichen Ende des Ackers. Dann lud er die Schubkarre voll mit Erde, fuhr sie dicht an das Sieb und begann, die speckigen Klumpen gegen das Sieb zu werfen. Es war harte Arbeit, Lai spürte, wie ihm Schweißtropfen in die Augen rannen und legte den Kopf in den Nacken. Oberhalb seines Hauses schwang sich die Große Mauer durch die Berge, zwischen dem Mädchenturm und dem Pekingblickturm genau über der Himmelsbrücke stand reglos eine weiße Wolke. Hier war er geboren und aufgewachsen, er kannte die Mauer so gut wie sein Haus, die restaurierten Teile ebenso wie die Wilde Mauer. Vor vier Jahren hatte er mitgeholfen, das Stück zwischen Jinshanling und Simatai auszubauen. Sie sammelten die alten Steine, rührten Mörtel an und flickten die Stellen, wo Wind und eingewachsene Bäume die Mauer geschliffen und zersprengt hatten. An einer Stelle hatte er einen Stein mit einem alten Schriftzeichen gesetzt. Es war ein besonderer Moment gewesen, obwohl weder er noch seine Kollegen das Zeichen lesen konnten. Es mochte zweitausend Jahre alt sein, wer wusste das schon. Jedes Mal wenn er Gäste auf diesen Mauerabschnitt führte, machte er kurz Halt, um seinen Stein mit dem Zeichen zu grüßen. Letzten Monat hatte er zwei japanische Touristen über die Himmelsleiter geleitet. Die Japaner waren trainiert, sie schafften das schwierige Stück ohne dass er sich sorgen musste um sie. Harte Burschen waren das, nachts lagen die Temperaturen oben bei Null Grad, aber sie rollten ihre Schlafsäcke in einem der Türme aus, tranken heißen Tee und legten sich zum Schlafen auf den Boden, als ob sie das alle Tage täten. Am nächsten Morgen setzte sich ein Baumfalke ganz nah vor sie auf einen Giebel am Turm. Die Japaner waren begeistert und fotografierten den Vogel von allen Seiten. Sie malten mit einem Stock Schriftzeichen in die Erde, Lai verstand, dass sie in ihrer Heimat Vogelkundler waren. Wieder belud er die Schubkarre und warf die schweren Brocken gegen das Sieb. Auf der anderen Seite hatte sich schon ein schöner Hügel feinkrümeliger Erde gebildet. Noch eine Stunde, dann konnte er sie ausbringen und Furchen für die Samen ziehen. Um diese Uhrzeit war seine Frau noch im Innenhof beschäftigt, reinigte den Backofen und bereitete die Mittagsmahlzeit zu. Demnächst käme sie heraus, um ihm beim Einbringen der Zwiebelsaat zu helfen, dann würden sie sich in den Hof setzen und Reis mit Gemüse essen, das war die gewohnte Reihenfolge. An jedem anderen Tag hätte Lai sich darauf gefreut, aber heute wäre es ihm lieber gewesen, die Frau bliebe im Haus. Bestimmt würde sie ihn nach dem Moped fragen, das seit gestern Abend nicht mehr im Schuppen stand, die Rede würde weiter auf den Abend kommen, auf ihren Bruder, auf das Mahjong Spiel und bei jeder ihrer Fragen könnte er nichts anders tun als den Kopf hängen zu lassen. Er ergriff die Schaufel und begann in großen Schwüngen die Erde auf dem Acker zu verteilen. Die abgetrockneten, helleren Krümel legten sich als feine Schicht über den dunkleren Grund. Der Schweiß rann ihm in die Augen, er legte den Kopf in den Nacken und fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn. Vom Hof her hörte er ein leichtes Klappern. Die Frau kam heraus. Schweigend nahm sie den Rechen und begann vom Nordende des Ackers her Furchen zu ziehen. Sie arbeitete in raschem Rhythmus. Lai beschleunigte seine Würfe. An der Westseite grenzte sein Acker an den des Nachbarn, immer noch wucherte da das Unkraut. Zwischen den Grasbüscheln tauchte die schwarze Katze des Nachbarn auf. Lai mochte beide nicht, die Katze und den Nachbarn. Leise wie ein Dieb schlich sie herbei, hielt an mit erhobener Pfote, dann betrat sie sein Feld und begann in der frisch ausgebrachten Erde zu scharren. Lai klatschte in die Hände, um sie zu vertreiben, er wusste, was sie vorhatte. Später, wenn erst die Zwiebelsamen gesetzt waren, käme sie noch einmal und würde alle ausgraben. Ausgiebig scharrte die Katze weiter. Lai bellte wie ein Hund, sie hielt kurz inne, dann scharrte sie noch emsiger. „Gaiside, mao!“, schrie Lai – Geh zum Teufel, Katze! – er sah sich nach einem Stein um, den er nach ihr werfen könnte. In dem Moment erschien der Nachbar auf seinem Grund. Offenbar hatte er gerade zu Mittag gegessen. Er hielt ein Teeglas in der einen Hand, in der anderen ein Stück Zuckerrohr, an dem er nagte. „Nimm deine Katze mit!“, rief Lai ihm zu. „Sie macht mir die Arbeit hier kaputt.“ Der Nachbar ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Gestern war Versammlung im Dorf“, erklärte er. Er schnaufte wichtig. „Parteikader Liu war hier. Aus Beijing. Er ist mit einem Auto gekommen.“ Die Katze saß gesittet mitten auf dem Acker. Lai beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Er war entschlossen, sie zu verjagen, sobald sie wieder anfing zu scharren. „Es ist so“, sagte der Nachbar, „dass Parteikader Liu dann noch in meinem Haus etwas gegessen hat. Wir sind so miteinander.“ Teeglas in der einen Hand, Zuckerrohr in der anderen, spreizte er seine beiden Zeigefinger ab, um sie aneinander zu klopfen. „Schnaps haben wir auch zusammen getrunken, der Herr Liu und ich.“ Vergnügt lutschte er weiter an seinem Zuckerrohr. Ohne zu antworten, warf Lai weiter Erde auf den Boden. „Ich habe über viele Dinge gesprochen mit dem Parteikader Liu. Er hört auf mich, weißt du?“ Die Katze erhob sich und machte einen Buckel. Lai bückte sich, hob den Stein vor seinem Fuß auf und zielte. „He! Lass meine Katze in Ruhe, Lao Lai!“, schrie der Nachbar. Lai pfefferte den Stein direkt neben sie. Zielen konnte er, etliche Wildkaninchen hatte er schon auf diese Weise getötet. Entsetzt floh die Katze zurück zu ihren Grasbüscheln. Leise schimpfend trat auch der Nachbar den Rückzug an. Die Arbeit war beendet. Schweigend ging Lai neben seiner Frau in den Hof und setzte sich auf den Boden. Auf dem niedrigen Holztisch vor ihm dampfte in einer Blechschüssel der Reis. Er ergriff seine Stäbchen. Hastig schaufelte er sich Reis in den Mund. Die Frau stellte drei Teller auf das Tischchen. Gestocktes Ei mit Zwiebeln und Spinat mit Erdnüssen und Trockenchili. Zwei Teller frisch gekochter Speisen und einer mit rohem Lauch und Paprika. Normalerweise gab es zum mittäglichen Reis nur die Reste vom Abendessen zuvor. Voll schlechtem Gewissen rupfte er sich ein Stück aus dem flaumigen Eierstich und schlang es hinunter. „Laopo – ehrwürdiges Weib“, sagte er, „ich muss dir etwas sagen.“ Die Frau aß schweigend ihren Reis. „Gestern Abend habe ich mit deinem Bruder Mahjong gespielt. Wir haben Reisschnaps getrunken.“ Hatte sie verstanden, was als nächstes käme? „Das Moped“, sagte Lai mühsam, er spürte, dass sein Gesicht dunkler wurde, „das Moped ist leider kaputtgegangen. Es hängt in einem Baum auf der Straße zu unserem Haus.“ Seine Frau stand auf und ging ins Haus. Ängstlich sah er ihr hinterher. Es gab Frauen in der Nachbarschaft, das wusste er, die waren wie Tiger, verprügelten ihre Männer bei geringeren Anlässen mit dem Besen. Den Nachbarn, der sich mit dem Parteikader so wichtigmachte, hatte er schon ein paar Mal laut schreien hören. Sie kam zurück. In der Hand hielt sie die Teekanne und zwei Gläser. Sie stellte sie auf den Tisch und goss heißen Tee ein. „Mann“, sagte sie, „ich möchte dir einen Rat geben.“ Er wagte nicht, sie anzuschauen, starrte auf das Geschirr. „Du sollst nicht mit dem Moped fahren, wenn du Reisschnaps getrunken hast.“ Jetzt konnte er sein Gesicht wieder zeigen. Er glaubte fast nicht, was er da hörte. Kein Schimpfen? Kein Geschrei? „Ich hole das Moped heute Nachmittag“, versprach er. O, wie war er dankbar für diese Frau! Er hatte die beste bekommen, eine Fleißige war sie, einen Sohn hatte sie ihm geboren und sanft war sie auch noch! Einen goldenen Ziegel hielt er in den Händen mit dieser Frau! Lai Fang Lei, Bauer an der Großen Mauer, schlürfte seinen Tee voller Genuss. Gleich am Nachmittag würde er das Motorrad holen und zusehen, ob er es flicken konnte. In Ruhe aß er nun Reis, Ei, Spinat, er trank heißen Tee und genoss den Anblick seines Hofs. Was hätte wohl die Frau des Nachbarn mit ihrem Mann gemacht? Hinter dem Anwesen rauschten die Bambusblätter, aus dem Koben grunzte das Schwein. Alles war, wie es sein sollte.
A: Guten Morgen! G U T E N Morgen!
B: Wie, was, schon aufstehen?
A: Ob das noch nötig sein wird, ist die Frage.
B: Wer bist Du, äh ich meine, wer sind Sie? Und was wollen Sie von mir?
A: Ich denke , wir können ruhig beim Du bleiben!
B: Ah, ja, gut, dann, wer bist du, ich meine, wie heißen Sie?
A: Du, wie heißt Du, wir waren beim Du.
B: Ja, gut, also wie heißt DU?
A: Das kannst Du dir aussuchen.
B: Häh?
A: Naja, wenn man sich sein Schicksal schon nicht selber aussuchen kann, so darf man es doch wenigstens selbst benennen. Du bist also völlig frei ihr einen Namen deiner Wahl zu geben. Du darfst mich nennen, wie du willst?
B: Auch Rumpelstilzchen?
A: Auch Rumpelstilzchen! Wenn Du das unbedingt möchtest, aber wir sind hier nicht bei den Gebrüdern Grimm, sondern in der Gertrudstrasse beim Weltuntergang.
B: Beim was?
A: Beim Weltuntergang, oder was dachtest Du, warum ich hier bin? Um dein Geschirr
abzuwaschen sicher nicht, obwohl mir das durchaus als notwendig erschiene.
B: Gut, du könntest auch das Bad putzen!
A: Die Zeit für schlechte Scherze schwindet schleunig. Und ein blitzendes Bad ist jetzt auch nicht mehr von Belang.
B: Also, du willst weder Geschirr spülen noch Bad putzen, ich nehme daher nicht an, dass du dich als Haushaltshilfe bewerben möchtest. Was also ist dein Begehr, was kann ich für dich tun?
A: Du könntest es mir Lichter machen und ohne Fragen zu stellen und ohne Spirenzchen zu machen mit mir kommen. Das tun nämlich die wenigsten.
B: Wohin?
A: Mist!
B: Was?
A: Jetzt hast Du schon die erste Frage gestellt.
B: Ja und?
A: Na ich sagte doch grade, dass es sehr nett von dir wäre, keine. Zu stellen, und dass du dann zu einem kleinen elitären Zirkel, dem Zirkel der Fraglosen, gehörtest.
B: Das mit dem Zirkel hast du nicht gesagt. Und außerdem hab ich ich dich vorhin schon nach deinem Namen gefragt.
A: Ja, aber das zählt nicht! Nach dem Namen fragen alle, auch die Fraglosen. Und außerdem musst du ihn dir ja sowieso selbst aussuchen. Das gehört zum Spiel dazu.
B: Welches Spiel?
A: Wie man halt so sagt, das gehört zum Spiel, oder das ist des Pudels Kern, oder die Axt im Haus…
B: Willst du mich jetzt foppen oder was? Wird das hier ein lustiges Zitateraten ? Hast du mich deswegen geweckt?
A: Nein, ich habe dich geweckt, weil in den nächsten Stunden, Minuten oder Sekunden der Weltuntergang stattfindet. Und somit musst auch Du mit!
B: Ich? Mit? Zum Weltuntergang? Ne ne, meine Liebe, ich bleib schön zu Haus. Ich hab extra frische Garnelen eingekauft, die gibt es nachher mit Knoblauchsahnesosse und einem herrlichen Pinot Grigio. Und wenn du nett bist, geb ich dir auch gern ein Tellerchen ab. Mit frischem Parmeggiano!
A: Du glaubst doch wohl nicht dass ich mich bestechen lasse! Der Trick funktioniert seit dem Brandner Kaspar nicht mehr. Ausserdem mag ich kein Knoblauch.
B: Ertappt: du bist ein Vampir.
A: Haha! Hier, siehst du?
B: Was?
A: Hgrrrr….schon wieder eine Frage! Aber nein, guck doch, keine spitzen Eckzähne, im Gegenteil ein Spitzengebiss, sozusagen makellos! Ich rieche nur nicht gern danach. Schließlich muss ich ja auch Männer abholen. Und die versuchen vorher immer noch zu flirten. Und da hilft es, wenn man nicht schlecht riecht- Hhhhhhhh…..siehst du? Äh riechst du?
B: Ich rieche nichts!
A: Eben! So muss es sein. Kein Mundgeruch! Das schafft Vertrauen, hast du Vertrauen?
B: Ich kenn dich ja noch gar nicht wirklich, erst seit ein paar Minuten und seitdem redest du auch nur merkwürdiges Zeug. Und ich weiß immer noch nicht, wie du eigentlich heißt!
A: Ich sagte doch: wie du willst.
B: Wie jetzt? Die heißt: Wieduwillst? Komischer Name.
A: Ich heiße wie DU willst, oder wie du möchtest, oder wie du es gern hättest, dir du wünschst, wie man halt so sagt! Also: verdammt nochmal! Entschuldigung. Ich soll eigentlich nicht fluchen, aber damit wir hier endlich weiterkommen: such dir gefälligst einen Namen aus für mich!
B: Na gut, ich nenne dich….ich nenne dich….achneeee , hast du denn keinen eigenen Taufnamen? Was steht denn in deiner Geburtsurkunde?
A: Ich bin nicht geboren.
B: Wie was? Nicht geboren? Aber du musst doch irgendwie auf die Welt gekommen sein. Wie hießen oder heißen denn deine Eltern?
A: Du sollst verdammt nochmal – Entschuldigung! – nicht so viele Fragen stellen. Es ist, wie es ist.
B: Und wie ist es?
A: Wie ist was?
B: Das frag ich dich.
A: Ach ja, gut…. Du musst einfach mitkommen. Wenn du deinen Tod benannt, hast, gibst du mir deine Hand, deine Seele, dein Herz und wir gehen—-
B: Wohin?
A: iiiihhh neee, schon wieder diese Frage! Jede und jeder und aber wirklich ALLE stellen diese Frage.
B: Logisch!
A: Logisch aber trotzdem sinnlos?
B: Großes Fragezeichen!
A: Weil ich es selber nicht weiß! Ich hole dich ab…und nach einer Weile gehst du allein weiter und ich bleib wieder allein zurück. Immer bleib ich allein. So und jetzt mach, bin mir einen Namen und dann gehen wir.
B: Und wenn ich dir keinen gebe?
A: Dann muss du mich einfach so nennen, wie es geschrieben steht. Gevatter oder Herr Tod oder Frau Tod oder Tod oder halt Tod.
B: DU bist der Tod?
A: Ich bin DEIN Tod. Dein ganz eigener ganz persönlicher Tod.Und heut hol ich dich ab.
B: Warum?
A: Auf diese Frage antworten wir Tode nicht..aber heute… Heute ist Weltuntergang.. Da gehen alle, die da sind.
B: Nenenneneneneeeee soooo nicht! Ich bestehe auf einen individuellen, schicksalshaften, erinnerungswürdigen, einzigartigen Tod…. Ich geh doch nicht, weil alle gehen. Nené, da musst du dir was besseres ausdenken. Von einem wahnsinnigen Liebhaber erschossen werden, das ist okay. Da geh mit, meine Liebe..aber ein Weltuntergang? Ne, das ist mir zu billig. Da mach ich nicht mit. Da kannst du dir eine Andere suchen..
A: Geht nicht! Ich bin dir dir zugeteilt ich habe 52 Jahre auf dich gewartet… Heute morgen kam die Depesche: „Abholen! Weltuntergang!“
B: Als jetzt hör mal zu, Kleine! Ich hab nicht die Absicht, irgendwo hinzugehen, wo ich nicht weiß, was mich da erwartet, nur weil irgendwer eine Depesche mit „Weltuntergang“ herausgibt. Und wieso überhaupt? Kannst dur mir wenigsten sagen, was los ist?
A: Trump!
B: Wie, „Trump“?
A: Trump ist los! Er hat die Codes geöffnet.
B: Welche Codes?
A: Für die Koffer! Mit den Knöpfen, für die Bomben. Und jetzt sitzt er da und ist im Begriff drauf zu hauen und schreit andauernd: Weil ichs kann, weil ichs kann!
B: Mir wird das alles jetzt zu blöd, ich mach mir jetzt erstmal einen Kaffee! Egal ob sich das lohnt. Du auch? Milch? Zucker?
A: Schwarz!
Ich hab mich schon seit Tagen nicht mehr rausgetraut
Dabei bin ich eigentlich mutig und erwachsen Aber hast du heute schon mal aus dem Fenster geschaut?
Dann beeil dich mal, bald sind sie zugewachsen. Die Straßenbahn kann nicht mehr fahrn seit Donnerstag
Und der Krisenstab tagt jetzt auch nachts
Und so seltsam es sich anhören und erst ausschauen mag:
Es scheint, als als wäre dies der Menschheit letzte Schlacht. Alles voll Hornhaut
Ob man nach hinten oder vorn schaut
Überall Hornhaut. Man sagt es käm Aus Tralien oder Portugal
Laut einer Brüsseler Analyse.
Aus welchem Land es stammt ist eigentlich längst egal
Fest steht: am Anfang war ein paar sehr kranke Füße Die Landschaft schaut jetzt farblich wie ein Ferkel aus
Da wilde Hornhaut Feld und Flur befällt
Das ist der allergrößte aller Supergaus
Rosige Zeiten habe ich mir immer anders vorgestellt Dermatologen logen, als sie meinten: „halb so wild.“
Jetzt sieht man sie auf n-tv sich verhaspeln
N24 zeigt derweil die Bundeswehr
Bei ihrem Einsatz an den Hornhautraspeln Es gibt kein anderes Thema mehr im Bundestag
Die A9 wurd heut beidseitig gesperrt.
Das Militär plant ziemlich einen Gegenschlag
Es geht nicht weg ob man drauf schießt oder dran zerrt Man warnte uns vor Viren oder Hurrikans
Vor Terror und vor Mafia-Fehden.
Vorm Klimawandel, Waffenhandel,
Mückenstichen, Möbelstücken,
Flüchtlingsfluten, Weizengluten,
Glyposaten, Unrechtsstaaten, doch von Hornhaut hört ich niemand reden.
Obwohl draußen finstere Nacht herrschte und die schweren schwarzen Vorhänge vor den beiden Fenstern sorgfältig zugezogen waren, tröpfelte von irgendwo her milchiges Zwielicht in das Schlafzimmer. Im Bett, das an der Wand stand, lagen Onkel Serban und der Schattenlose und hatten die dicken Daunendecken bis an die Nasenspitzen hochgezogen. Auch von Ida und Tante Mathilda, die sich im großen Ehebett gegenüber der einzigen Tür eng aneinander schmiegten, waren nur die Köpfe zu sehen. Alle vier schwiegen sie und starrten gebannt auf den Ziegenschädel, der über dem Türbalken an die Wand genagelt war; eine angstvolle Anspannung schwebte fast greifbar im Raum. Plötzlich ließen drei harte Schläge an der Tür die Liegenden heftig zusammen zucken. Onkel Serban riss sich zusammen und fragte mit belegter Stimme:
»Wer da?«
»Ich bin’s, Vladimir. Lasst mich hinein!« lautete die Antwort.
»Es ist offen«, rief Serban.
Ein schwarz gekleideter Mann, um dessen dürren Schädel sich ein verfilzter Haarkranz wand, trat hastig ein. Von seinem Rock rieselte leise Staub, ein intensiver Geruch nach Moder breitete sich rasch aus.
»Wo warst du so lange?« zischte Ida. »Wir haben uns bereits Sorgen gemacht!«
»Tut mir leid«, krächzte Großonkel Vladimir, »ich bin noch einmal eingeschlafen.«
»Wir haben keinen Platz mehr in den Betten«, jammerte Tante Mathilda. »Wo soll Vladimir bloß hin?«
»Ich setze mich einfach in den Schrank«, sagte Vladimir gelassen und verschwand lautlos in Mathildas wuchtigem Kleiderschrank.
Wieder wurde es vollkommen still im Raum, und vier Augenpaare starrten auf die gehörnte Schädelplatte über der Tür. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis Mathilda es nicht mehr aushielt.
»Jedes Jahr das gleiche!« brach es aus ihr heraus. »Irgendwann ertrage ich das nicht mehr!«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Serban und bemühte sich, seine Worte ruhig und fest klingen zu lassen. »Wir haben es bisher noch jedes Mal überlebt, und auch dieses Jahr werden wir es wieder schaffen.«
»Und wie war das damals, als ihr euch drei Tage lang in dem Sarkophag des Bischofs verstecken musstet?« fragte Ida, und in ihrer Stimme mischten sich Angst und Vorwürfe. »Als alle Einwohner des Dorfes nach euch suchten, und sie mit Fackeln in jeden Keller stiegen?«
»Weißt du, wie lange das her ist?« verteidigte sich Serban.
»Mir kommt es so vor, als wäre es gestern gewesen«, wimmerte Mathilda und zog die Decke endgültig über den Kopf.
»Und als die jungen Burschen mit Hammer und Eichenpflock über den Berg kamen, weil sie meinten, ihren Mut beweisen zu müssen?« ergänzte der Schattenlose. »Onkel Drago hatte damals unverschämtes Glück, dass sie ihm nur ein Loch in den Wams bohrten!«
In diesem Moment näherte sich auf der Straße, von den Vorhängen kaum gedämpft, das Geräusch eines Dieselmotors. Ein Auto hielt direkt vor dem Haus, zwei Türen wurden geöffnet und wieder in Schloss geworfen. Alle hielten den Atem an. Schritte waren zu hören, eine Stimme rief etwas unverständliches. Erst, als sich das Motorengeräusch längst wieder entfernt hatte und die Welt draußen wieder in tiefes Schweigen gefallen war, atmeten die vier eingemummten Gestalten vorsichtig auf.
Diesmal bracht der Schattenlose, der bisher mucksmäuschenstill seinen roten Haarschopf ins Kissen gedrückt hatte, das Schweigen.
»Verdammt! Verflixt und zugenäht«, schimpfte er.
»Das macht mich echt fertig! Da!« flüsterte Ida mit erstickter Stimme. »Sie kommen wieder! Hört ihr?«
Tatsächlich hörten alle ein schnarrendes Geräusch, dessen Ursprung sich nicht ausmachen ließ.
»Ein Motor ist das nicht«, sagte Serban.
Alle lauschten gebannt auf das Brummen, das scheinbar immer lauter wurde, je länger sie angestrengt lauschten.
»Es ist Onkel Vladimir«, verkündete auf einmal Ida. »Er schnarcht.«
»Das ist doch zum Kotzen!« murrte der Schattenlose.
»Man könnte sagen: eine einzige Speisal!« kicherte Ida.
Nach kurzer Zeit begann Mathilda, zunächst nur leise und dann immer lauter zu lachen und endlich stimmten auch Serban und der Schattenlose in den Heiterkeitsausbruch ein. Da erklang plötzlich ganz nah der Schlag einer großen Glocke. Gewaltig dröhnte die tiefe Schwingung in dem kleinen Zimmer wie in einem Resonanzboden, und abrupt verstummten die vier. Immer mehr Glocken begannen zu läuten, von überall her dröhnten die Schläge, bis die Luft förmlich Wellen schlug wie ein Blech, an dem ein Zirkushühne rüttelt. Ida und Mathilda, Serban und der Schattenlose zogen die Bettdecken über den Kopf und verharrten in angstvoller Starre. Dann, anfangs fast unmerklich, ebbte der Klang der Glocken wieder ab, nach und nach verstummten sie, bis es schließlich wieder vollkommen still in der Welt außerhalb des Zimmers war.
»Geschafft!« schrie da Ida und sprang aus dem Bett. Sie hatte komplett angekleidet unter der Decke gelegen. Aus einer der Taschen ihres schwarzen Kleides fischte sie hastig eine Zigarette und zündete sie sich an. »Wir haben es geschafft!« rief sie.
»Dem Teufel sei es gedankt!« seufzte Mathilda stand ächzend auf.
»Seht ihr«, sagte Onkel Serban und zog knirschend seine Stiefel an. »Wie ich es gesagt habe: der Ostersonntag kommt und geht, ohne dass uns jemand belästigt hätte…«
»Und Großonkel Vladimir?« fragte der Schattenlose.
»Der kann weiter im Schrank bleiben«, sagte Tante Mathilda. »Es reicht, wenn er sich morgen wieder in seinen Sarg im Keller verzieht. Wir trinken jetzt als erstes einen Likör, würde ich sagen, zur Feier des Tages den besten Blutbeerenlikör westlich der Karpaten.«
Erzähler: Carsten Striepe
Ida: Julia Gruber
Onkel Serban: Moses Wolff
Tante Mathilda: Verena Schmidt
Der Schattenlose: Philipp Abel
Onkel Vladimir: Arthur Roscher
Regie/Schnitt:
Andreas V. Weber
Titelmusik:
Andreas V. Weber