Christian Knieps: Der Wanderer

Der Wanderer hatte sein Ziel fest im Blick und schien dennoch noch weit davon entfernt zu sein. Den Gipfel hinan richtete er seine Augen und wusste, dass er die alte Burg von dieser Stelle des Berges aus sehen würde. Als er endlich schnaufend und mit verausgabten Kräften sein anvisiertes Ziel erreichte, ließ er sich auf einen Steinblock nieder und schaute gen Sonne, die hinter der Burgspitze stand und das vor ihm ausgebreitete Tal hell erstrahlte. Durch die Wolken gleißte das Licht in verschiedenen Sphären und malte sonderliche Konturen auf den Boden und die Wälder, mal schattig, mal sonnig, aber immer mit einer raumgreifenden Helligkeit.

Langsam packte der Wanderer eine Wegration aus seinem Rucksack, trank etwas und begann, die mitgebrachte Wurst zu zerkleinern, als er unvermittelt den Kopf hob und etwas zu sehen bekam, von dem er bis ins Mark erschrocken zurückblieb. Aus der Sonne hatte sich ein gleißendes Etwas gelöst und auf den Weg zur Burg gemacht. Wie eine sanfte Feder sank dieses Etwas Richtung Burg nieder, leicht schwankend, sodass der Blick des Wanderers wie gebannt war.

Wie viele Minuten vergingen, konnte der Zuschauende nicht sagen; nach einer geraumen Weile stand dieses Etwas als leuchtender Punkt über der Burg und schien zu warten. Worauf, das wusste der Wanderer nicht, aber als die Sonne hinter der Wolke hervorkam und das Tal vollends bestrahlte, verband sich dieses Etwas mit der Sonne und gab die Strahlkraft weiter an die Burg, sodass diese hell erleuchtete.

Der Wanderer war fasziniert von dem Schauspiel, das nach einer schieren Unendlichkeit zu Ende ging. Die Wurst hatte er immer noch in seiner Hand und ließ sie auf dem Platz liegen, packte seinen Rucksack und machte sich auf den Weg ins Tal. Dort angekommen hörte er von einer alten Frau, die sich mit einer anderen unterhielt, wie die Prinzessin, die in der Burg lebte, vor wenigen Stunden ein gesundes Kind geboren hatte. Plötzlich war dem Wanderer bewusst, dass er etwas erlebt hatte, das nicht für seine Augen bestimmt gewesen war, das aber ab nun ein Teil seiner eigenen Legende sein würde.

Carsten Stephan: November

Gelbgrün schwärt an graue Ufer Tang,
Kalte Regen sprühen in das Meer.
Möwen müde kreischend um sich her
Bringen Fischer ein den letzten Fang.

Mit dem Wind erstirbt der Männer Sang,
Ihre Schritte sind landeinwärts schwer.
Dann ist wieder alles menschenleer,
Nebel äsen fern am Kiefernhang.

Und den Wandrer fasst ein Schauder an,
Seine Glieder sind schon lang ertaubt,
In die Züge gräbt sich Elegie.

Treibholz schlägt ihm jählings an den Spann,
Kormorane stürzen auf sein Haupt,
Im Gerölle sinkt er in die Knie.

Carsten Stephan: Eichendorff auf Abwegen

Wenn Blüten stille träumen
Im sanften Mondenschein,
Kann ich nicht länger säumen,
Ich wetz das Messerlein.

Im Lenze muss ich reisen
Wohl jede Nacht aufs Neu.
Manch Lieb lauscht meinen Weisen,
Noch jede blieb mir treu.

Des Tages Sorgen schwinden,
Von Nachtigallen schallt’s.
Beglückt schneid ich in Rinden
Und in den zarten Hals.

Durch sternbeglänzte Auen
Zum steilen Fels hinan!
Von drunten Äuglein schauen
Mich endlich selig an.

Wird sich Aurora heben,
Summt goldengrün es just.
So pflanzt der Frühling Leben
In jede müde Brust.