Die Katze lag hinter dem Werkzeugschuppen meines Opas. Eines ihrer Augen war mit Blut gefüllt und der hintere Teil ihres Körpers war komplett zerdrückt. Der Mund stand offen. Kaum zu glauben, dass ich dieses tote, verformte Ding gestern noch gestreichelt und geschmust habe. Das Fell schien hart und verklebt. Robert da ist nichts! Du bist völlig falsch! – rief meine Mom. Es war ein schöner Tag. Ich wollte, dass er schön bleibt. Also unterdrückte ich die Tränen und suchte weiter mein Osternest.
Kategorie: Prosa
Andreas Thamm: Die beige Hose meines Bruders
Mein Bruder trug diese beige Buntfaltenhose, die er ganz über den Bauch zog, sodass sie unten seine Knöchel freiließ. Er trug sie zum Wandern. Ganz im Gegensatz zum Rest der Familie war mein Bruder hoch gewachsen und schlank, sein Gesicht kantig und spitz an allen Stellen, die spitz sein können. Zur Buntfaltenhose hatte er, auch das wie immer, wie in jedem Jahr und an jedem Sonntag, ein weißes Hemd gewählt, darüber eine Weste, ebenfalls beige.
Er passte nicht zu uns. Er passte auch nicht zu sich selbst. Er war zu alt, obwohl noch so jung. Er sprach wie andere Aufsätze verfassen, lächelte immer und lachte nie laut. Und wie um den quälenden Umstand, dass er sich fremd fühlen musste inmitten dieser kleinen und pummeligen Familie in ihren karierten Freizeithemden und ausgebeulten Jeans, vergessen zu machen, wie um den Spalt zwischen sich selbst und seinen Eltern zuzuspachteln, biederte er sich an.
Sein Anbiedern an unsere Eltern, die er behandelte, als wären sie andere Eltern, Eltern, die ebenfalls in dieser Hose und mit dieser Weste spazieren gehen würden, widerte mich an. Einerseits. Andererseits, und das hätte ich vielleicht von vornherein dazu sagen müssen, war ich zehn, elf oder zwölf Jahre alt und gern bereit, die Vorzüge dieser Anbiederei zu genießen, denn das bedeutete Schokolade.
Wenn ich heute darüber nachdenke, glaube ich sogar, mein Bruder war in den Vor-Oster-Wochen in diesen Jahren höchtselbst und fröhlich zum Laden marschiert, um die Schokoladeneier für den Ostersonntag zu besorgen. Er marschierte und besorgte, um meinen Eltern zu signalisieren: Das Verstecken der Eier ist eine Aufgabe, die ich euch gern abnehmen will, denn mir liegt der Osterspaß der ganzen Familie, insbesondere der unseres Kleinen, sehr am Herzen.
Man muss sich meine Eltern diesbezüglich achselzuckend vorstellen, wie sie an dem riesigem Wirtshaustisch in unserer Küche sitzen, der ihnen dicht bis unter die Kinne reicht. Sie sitzen und heben und senken die in kleinkariertes und atmungsaktives Material gehüllten Schultern. Im Hintergrund läuft Hausmusik im Radio, der wollen sie eigentlich in Ruhe lauschen können, einmal in Ruhe der Hausmusik lauschen, das wär‘s, denn das gibt‘s heutzutage ja nur noch so selten. Und aus schaumumkränzten Lippen fallen meinem Vater ein paar müde zusammengeklaubte Worte: So. Is scho wieder Ostern.
Das Bemerkenswerte an dieser Hose war nicht etwa die schier unendliche Länge ihrer Beine, das waren beigefarbene Landebahnen, sondern der Umstand, dass mein Bruder sie zum Wandern trug, sie danach aber ebenso sauber zurück in seinen Kleiderschrank hängte wie er sie am morgen herausgezogen hatte. Mein Bruder war im Laufe des Nachmittags natürlich nicht müde geworden, süffisant lächelnd zu wiederholen, dass Wandern in diesem Fall ja vielleicht nicht ganz das richtige Wort und spazieren könne man wohl sagen, allenfalls. Er kicherte und lachte und pfiff sogleich ein Lied.
Wir drei, die anderen, pummeligen, kleinen schleppten uns ihm hinterher, wie er mit langen, beigefarbenen Beinen unaufhörlich plappernd voranschritt, wie er Pfützen und kleinere Tümpel elegant übersprang, tänzelnd den Blindschleichen auswich und mit langen Armen und ohne seinen Schritt zu verlangsamen nach Äpfeln und Erdbeeren griff. Wir drei, die Familie, die hier eigentlich fehl am Platz war, gar nicht mal umgekehrt, trotteten dem Langen nach, weil er glaubte, dass sich das so gehöre, wenn man Eltern hat und einen Bruder.
Wir waren müde und beschmutzt, die ausgebeulten Jeans bis zum Knie in Schlamm getaucht, die Münder verschmiert von Schokolade. Und sicher sehnten meine Eltern sich nach einem überschäumenden Krug voll dunklem Landbier so wie ich mich nach dem Fernseher sehnte. Und manchmal bückten wir uns ächzend hinab zu einem Moos oder einem kleinen Laubhaufen, weil wir darin etwas glitzern gesehen hatten. Hier hatte der Vorauseilende ein in dünne Knisterfolie gehülltes Schokoladenei deponiert.
Nie gelang es uns, ihn dabei zu beobachten. Wir wussten, es würde geschehen. Wir wussten auch, dass er es um meinetwegen tat, dennoch halfen mir unsere Eltern bei der Suche, worum ich sie nie hatte bitten müssen. Und natürlich glaubte niemand hier an den Osterhasen, der ja auch gar keine Sache ist, an die irgendjemand wirklich glauben würde, so wie andererseits das Christkind. Aber dass mein Bruder dahinter steckte, hinter den deponierten Eiern, wie in jedem Jahr, das konnte ihm niemand nachweisen und das freute ihn und mit zur Unschuld verstellter Grimasse sagte er: Ach wo kommen denn die Eier her, wie nett. Da hab ich mich doch nicht getäuscht, als ich meinte, vorhin den Osterhasen hoppeln zu sehen.
Es war unwürdig und widerlich. Ich wollte hier nicht sein, klar war aber, dass niemand den anderen allein lassen konnte. Ich wollte mir nicht ansehen wie er stolzierte. Die Schokolade aber wollte ich schon. Der Bruder kaufte Qualität, darauf konnte man sich verlassen, zartschmelzende süße Masse, die ich am Gaumen zerdrückte, knuspernder Krokant, den meine Backenzähne zermahlten. Am Ende wusste ich nicht mehr, ob mir wegen des Stolzierens, wegen des in der Buntfaltenhose steinhart hin und her schwingenden Hinterns, oder wegen der siebenhundert Mikrodosen Schokolade so übel war. War mir immer übel gewesen?
Ohne dass ich während dieser tatsächlich stundenlangen Ausflüge eine Armbanduhr getragen oder ein Handy einstecken gehabt hätte, wusste ich immer wie weit der Tag fortgeschritten war. Das heißt, die Uhrzeit aus Ziffern hätte ich nicht präzise nennen können, wohl aber die Fernsehsendung, die jetzt anliefe, die ich jetzt hätte sehen können, wäre ich nicht an dieses familiäre Naschritual gebunden. Das verriet mir meine innere Uhr.
Ein leichtes Ziehen in der Brust, wenn Pokemon begann, gefolgt vom aufgeregten Flattern des Herzens, das Digimon bedeutete, diesen herrlichen Abklatsch. Eine stabile Präsenz des Steißbeins, wenn Detektiv Conan anfing zu ermitteln und eine fast hysterische Weigerung in den Haarspitzen, mit der sich Sailor Moon ankündigte. Mutige Kriegerin Usagi, mit dir durfte ich, ein Junge, nur heimlich fiebern und nie wenn andere Jungsfreunde zu Besuch waren. So waren damals die Zeiten. Mit Sailor Moon fieberte jeder heimlich und für sich, ein wohl gehütetes Geheimnis, das sich nur als Geheimnis nicht zum Anschlag auf die noch so fragile Männlichkeit auswachsen konnte.
Fast schwindlig wurde mir, als es Zeit wurde, umzuschalten bzw. Zeit würde, wäre ich zu Hause gewesen. Ich fiel taumelnd etwas hinter meine Eltern zurück und sehnte mich nach Käpt‘n Balus pelzig warmer Pranke und dem eisigen Wind, der den Gargoyles um die steinernen Nasen weht. Ein pünktlich pulsierendes Gehirn bedeutete nichts anderes, als dass ich nun, wegen des immer noch eisern Stolzierenden und Eier Versteckenden auch den Kopfsprung in den Wahnsinn von Roccos modernes Leben und der Tex Avery Show verpasst hatte. Ich hyperventilierte heimlich.
Es spielte aber auch keine Rolle, es brachte nichts, sich diese schmerzhaft bunten Freunde zu imaginieren. Eine echte Nähe konnte ich in meiner Vorstellung nicht herstellen. Ich befand mich im Wald, der Winter war noch nicht wirklich vorbei, an manchen Stellen lag noch Schnee, es nieselte graues Wasser auf unsere Jeans, die sich vollsogen und langsam an unseren plumpen Hüften hinabrutschten, Erdbeeren wuchsen immer nur dort, wo mein Bruder fröhlich ausschritt. In diesem Zustand hätte ich alles gekuckt, selbst das debile Theater der absolut unsympathischen Puppen aus der Sesamstraße. Bloß nicht und niemals Blinky Bill, den komplett verblödeten Koala in seiner roten Latzhose. Dann lieber Wandern mit der Familie als diese Tortur, aber das musste mein Bruder freilich nicht wissen.
Mein Bruder ahnte von all den in mir tobenden Kämpfen ohnehin nichts. Je langsamer seine Familie trottete, desto agiler umkreiste er uns wie ein folgsamer Hund, war mal hier, mal dort, grüßte von einer kleinen Brücke und blinzelte neckisch durch wundersame Astlöcher. Fortwährend plauderte er Durchhalteparolen vor sich hin, nun haben wir es bald geschafft, ein letzter Anstieg noch und lobte abwechselnd die Route, die er selbst ausgesucht hatte, ach, was für ein Ausblick, nein, diese Landschaft, wozu in die Ferne schweifen, und so weiter. Ich spielte derweil mit dem Gedanken, wie es mir gelingen konnte, ihm diese Hurensohnhose einzusauen. Ich wollte mit Anlauf in Pfützen springen und mit Kröten nach ihm werfen, aber nichts traute ich mich, nichts gelang, die Hose war geschützt.
Am Ende fanden wir uns in einer Gastwirtschaft ein, deren Tisch meinen Eltern wie der zu Hause, bis unter die Kinne reichte. Wir stapelten diverse mit Käse überbackene Schnitzel auf die Schokomasse, die bereits am Magenboden schwamm. Mein Bruder aß Salat. Mein Eltern tauchten ihre Nasen tief in die Bierkrüge und waren auf einmal doch froh und ganz rot in den Gesichtern. Aus schaumglitzernden Lippen fiel meinem Vater so ein Satz wie: Na, haben wir das auch wieder geschafft. Und alle nickten zustimmend als wäre das die Weltformel.
Wenn ich heute an dieses Spektakel zurückdenke, wird mir vieles klar. Die Warnsignale, die wir nicht erkannt haben, die wir gar nicht erkennen konnten. Der Wahn, dem dieser junge Mann schon damals erlegen war ohne dass irgendjemand darunter hätte leiden müssen. Diese Welt aus Pappkameraden und Ideen, die er sich zusammengebaut hatte. Die vielen immer schon alten Sätze und Erkenntnisse, die er ununterbrochen von sich gab, als wäre er viele und würde sich zuhören.
An irgendeinem Sonntag im Frühjahr im Wald und ich weiß nicht einmal mehr wie alt ich dann war, ist mein Bruder zum letzten Mal ausreichend bei sich gewesen, um die Eier zu kaufen, die Route im Wanderführer auszusuchen, die Reservierung im Gasthaus vorzunehmen, die Hose aus dem Schrank zu nehmen. Und das war dann dieses berühmte eine letzte Mal, das man begeht, ohne dabei zu wissen, dass es das letzte Mal ist. Das letzte Mal, bevor sich sein Bewusstsein flüchtete und uns zu dritt und allein ließ und endlich hätte sich niemand mehr fehl am Platz fühlen müssen. Und alle taten es.
Nicolai Hagedorn: Ostern
Da erzählt mir doch die mir bis dato vollkommen unbekannte dm- Kassiererin gerade folgende Geschichte: „Ich sollte neulich meinem 6-jährigen Sohn eine Ostergeschichte erzählen und da hab ich dann irgendwas mit Jesus erzählt, der den Kindern sagt, dass nach dem Tod noch nicht Ende ist und so, und da fragte der Kleine nach der Geschichte, ob man dann also nach dem Tod im zweiten Level ist.“
Andreas Lugauer: Max Goldt liest ›zwischen den Jahren‹
Dass Max Goldt, der – man verzeihe mir den eigentlich unpassenden, aber zum Zwecke der Alliteration verwendeten Ausdruck Doyen – der Doyen der Digression, ›zwischen den Jahren‹ im Nürnberger Hubertussaal liest, das ist mittlerweile zur süßen Gewohnheit geworden wie der alljährliche grippale Infekt nach den Weihnachtsfeiertagen.
›Zwischen den Jahren‹, das sagen die Leute, weil ihnen als »Jahr« nur die Zeit ehrlicher Hände Arbeit gilt, was recht hübsch auch durch das Gegensatzpaar »unter der Woche« für die Werk- und »Wochenende« für die arbeitsfreien Tage Sams- und Sonntag illustriert wird. Denn ›zwischen den Jahren‹, da arbeiten normale Leute nicht, sondern geben sich der Erholung, der Muße, dem Skispringen und Biathlon sowie den Verwandten hin. »Biathlon«, mag jetzt jemand einwenden, »läuft doch zwischen den Jahren gar nicht!«, hat damit allerdings unrecht. Zwar findet, soweit hat der Einwender recht, zwischen Weihnachten und Neujahr kein Biathlonwettkampf statt, sehr wohl aber um den Dreikönigstag – und dieser erst beschließt die Zeit ›zwischen den Jahren‹. Wer was auf sich hält, nimmt sich nämlich bis zum Dreikönigstag frei – wenn dieser auf einen Mittwoch fällt, auch noch den darauffolgenden Donners- und Freitag – und startet dann erst ins neue »Jahr«.
Normale Menschen arbeiten ›zwischen den Jahren‹ erst recht nicht an den Feiertagen. Ihnen sind Leute suspekt, die etwa Heiligabend oder die Silvesternacht nicht ›im Kreise ihrer Lieben‹ respektive unter zum letzteren Anlass von der Kette gelassenen ›Feierbiestern‹ verbringen, sondern in Krankenhäusern, Pflege- und Kinderheimen, Polizeistationen, Gefängnissen oder Atomkraftwerken Dienst tun. Wenngleich nicht derart suspekt wie Leute, die an solchen Tagen die ebenfalls aufrechterhaltenen telefonischen Seelsorgedienste in Anspruch nehmen und trotz gemieteter Wohnung und Telefonanschluss, dem nicht die schuldenbedingte Abschaltung droht, in sozialer Hinsicht als obdachlos gelten können.
»Ob die, die zu solchen Zeiten arbeiten müssen, wenigstens um Mitternacht mit einem Gläschen Sekt anstoßen dürfen?«, fragen sich die Leute besorgt und denken »Gläschen«, weil man zu besonderen Anlässen eben kein ganzes profanes Glas hinunterkippt, wie man es im Alltag macht, wenn man sich am Wasserhahn eines einschenkt und vor lauter Durscht, den einem Heim- und Hand- und Tagwerk verursachen, in einem Zug, der freilich aus mehreren Zügen besteht, unter hör- und sehbarem Schlucken austrinkt und sich anschließend die nassgewordenen Lippen abwischen und hart ausstoßend »’aaaaahh…!« sagen muß.
Ich könnte mich jetzt freilich noch darüber mokieren, daß die Leute in solchen Zeiten auch, obwohl sie das während des »Jahres« höchstens zu Ostern, bei Beerdigungen oder Hochzeiten tun, in die Kirche rumpeln oder Dinner for One …; aber das sollen die Schmöcke tun, wie die Leut’ es ebenfalls tun und halten sollen, wie sie munter, froh und fröhlich wollen. Ich stattdessen male mir nun aus, was Max Goldt dieses Jahr wohl tragen wird. Bei einem der letzten Nürnberger Auftritte nämlich erschien er in quadratisch geschnittenem, groß und grün kariertem Flanellhemd und schwarzbraun längsgestreiften, schlafanzugähnlichen Hosen. Aus Frankfurter Kreisen erfuhr ich, dass er bei der kürzlich dort stattgehabten Lesung wie üblich in unauffällig, in Hemd, Jackett und normaler Hose, auftrat. Aber dort las er auch nicht ›zwischen den Jahren‹.
Immanuel Reinschlüssel: Anconella
Scheppernd schleppt sich das stumpfgefahrene Triebwerk durch die hügelige Landschaft, die im Schein der ersten Sonnenstrahlen nur Konturen preisgibt. Ich höre die Lok ächzen und schnauben, während ich mich inmitten eines einzelnen verwaisten Waggons von ihr durch Täler und Hügel ziehen lasse, mein Schicksal in ihre staubigen Kolben lege. Im Gepäcknetz über mir wackeln meine Habseligkeiten und Mitbringsel hin und her, Geschenke für deine Großeltern, dunkle, ehrliche Schokolade, selbstgerührter Eierlikör, dazu ein Osterbrot aus der Backstube meiner Mutter. Dieser Feiertag, der für sie und ihr Land der höchste im ganzen Jahr ist und mir nichts bedeutet außer einem langen Wochenende und dem sicheren Übergang in die warme Jahreszeit, ausgerechnet er wird über uns entscheiden.
Niederlegung oder Auferstehung, so nah beieinander, einst drei Tage, für uns wohl nur drei Herzschläge voneinander entfernt.
Bis Bologna glitt ich in einem Hochgeschwindigkeitszug durch Voralpen, Tunnel und schwarze Nacht, eine surreale Reise ohne Anhaltspunkt für Raum und Zeit, eine konstante Überforderung der Sinne, die natürlich keinen Schlaf fanden im Angesicht der bevorstehenden, vielleicht letzten Begegnung mit dir. Der Umstieg im leergefegten Bologna Centrale, der sich in gespenstische Stille hüllte als kenne er das Ziel meiner Reise, ein letztes Lufthohlen. Ich hätte umdrehen können in diesem Moment, zum letzten Mal auf meiner Reise, hätte mich auf eine Bank setzen, das Osterbrot brechen und den Eierlikör entsiegeln können, auf den Zug zurück in den Nordnorden, das uferlose der beiden Monacos wartend. Und dann einfach einsteigen und alle Erinnerungen an dich für immer in den tiefsten Brunnen meines Geistes stecken, eine Felsplatte darauflegen und pfeifend nach vorne gehen können.
Doch im wahren Leben gibt es kein zurück und keine Felsplatten für Erinnerungen, sondern nur Niederlegungen und Auferstehung, getrennt durch Phasen heimtückischer Stille.
Also hinein in den schiefen Waggon, als einziger Mensch der Welt zu dieser unchristlichen Zeit an diesem christlichsten aller Tage. Hinein in den Anstieg zur letzten Etappe, hinauf nach Anconella, hinunter ins Reich des Zerberus oder den Himmel auf Erden. Langsam, beinahe unmerklich rollte der Zug aus dem Bahnhof und rumpelte durch das schlafende Bologna, diese letzte Schönheit vor dem Mezzogiorno.
Die Sonne steigt mühsam auf. Wie gerne würde ich den Sonnenaufgang bewundern, dem du seit vielen Wochen wohl genau so jeden Tag beigewohnt hast, die Uhrzeiten deiner WhatsApp-Nachrichten gaben mehr über deine Schlafgewohnheiten preis als deine Nachrichten selbst, nachdem du zu deinen Großeltern gegangen bist, oder sollte ich sagen geflohen. Zurück zum Ursprung, zu dem deine Familie bei allen großen Anlässen zurückkehrt. Die kleine Kapelle sah jeden Bund fürs Leben entstehen, den deine Familie je schloss, und ihr Taufbecken machte euch alle Teil der großen Ganzen, jedes dritte Kreuz auf dem kleinen Friedhof trägt die Namen deiner Ahnen.
Natürlich musstest du nach Anconella, ich hätte es auch ohne deine Nachrichten gewusst. Hier beginnt es und hier endet es, hier kommen Niederlegung und Auferstehung seit Jahrhunderten zusammen, warum sollten ausgerechnet wir die Ausnahme sein? Du musstest an diesen Ort, um dein Herz ganz spüren zu können, diesen unersättlichen Sammler, für den ein einzelner Mann nie mehr als eine Aktennotiz sein konnte, bevor es auf mein Herz traf, das weder Sammler noch Jäger, sondern einfach nur Muskel ist.
Ein Muskel, der seit dem deutschen Monaco verknotet in meiner Brust liegt wie das Osterbrot in seinem Papiermantel im Gepäcknetz über mir. Ein Muskel, der auf seine Bestimmung wartet, die sich auf dem oleanderbewachsenen Bahnsteig von Anconella offenbaren wird, wenn deine stumme Karfreitagsmesse Niederlegung oder Auferstehung predigen wird.
Joe Wentrup: Alles fällt auf einen Tag
Wenn die Sonne am tiefsten ihre Bahn zieht und am frühesten erlischt, dann gedenken wir den Tod des Sonnengottes, des Mitras, von Rom – flüchtig mit Bibelversen übertapeziert – dereinst als neues Produkt präsentiert: als Jesus, beauftragt, das Reich unter seinem milden Blick zu stärken.
Doch halt – gedenken wir an diesem Tag nicht der GEBURT des Sonnenkindes? Auch dies trifft zu, denn auf den kürzesten Tag folgt immer auch ein längerer – Mitras erwacht zu neuem Leben. Doch noch ist dieses schwach und unbedeutend, noch wird es kälter, der Frost überzieht das Land, die Welt verharrt in Totenstarre.
Erschöpft kroch Jesus aus dem Schützen und starb im Steinbock – umgeben von elf weiteren Zeichen: seinen Jüngern. Am Himmel regiert nun die Dunkelheit, die Schwarze Sonne: Sie ist Saturn, der schwächste mit bloßem Auge sichtbare Planet – auch Satan genannt. Es ist die Zeit der Unterwelt, der Dämonen und des Jenseits.
Erst im Februar gewinnt Mitras langsam seine Macht zurück, die Menschen schöpfen Mut und beginnen hinter Teufelsmasken alles Zwielichtige zu verhöhnen und zu verscheuchen, im ekstatischen Treiben des Karnevals. Doch noch hat Jesus, Ra, die Sonne, Mitras, seinen Thron nicht bestiegen.
Bis zur Tag- und Nachtgleiche wird es dauern, daß der Göttliche seinen Platz einnimmt. Doch erst muss er nun den pietätvoll verschobenen Tod der Wintersonnenwende sterben und wie das winterliche Zentralgestirn sodann drei Tage scheinbar tot verharren – bevor er schließlich prächtig strahlend aufersteht!
Die Menschen sind erlöst; Weihnachten und Ostern auf einen Tag gefallen! Baalsfeuer brennen, gleich Hase und Kaninchen rammelt man zu Ehren der Fruchtbarkeitsgöttin Ostara – ihr Name sagt es: im Osten geht die Sonne auf – und reicht ihr und auch den Seinen als Gabe mehr oder minder lebensspendende Eier:
- Ein gelbes, besonders süßes, das die Zahnärzte gelegt haben.
- Ein rotes, mit dem Versprechen, dem Proletariat die Kontrolle über die Produktionsmittel zu verschaffen (wobei es sich – wie sollte es schon anders sein – umgekehrt verhält).
- Ein grünes, ebenso verdreht gelegtes – aber immer eilfertig darauf bedacht, kein Nestbeschmutzer zu sein.
- Ein violettes, welches eigentlich verdient hätte das rote zu sein, wäre da nicht der Beigeschmack von Zweitakt-Abgas und Norm-Eierkarton.
- Ein schwarzes, unter Protest gereicht, da ich hier das Christentum entlarve (als würden sie das nicht die ganze Zeit selber tun).
- Und schließlich ein blaues mit braunem Inhalt – welcher gewiss keine Schokolade ist.
Ich wünsche allen ein frohes Sonnenfest!
Andreas Lugauer: Nahteufelerfahrung
Für Eilige wird es am Ende dieses etwas längeren Textes eine Zusammenfassung geben.
In der Nürnberger Innenstadt gibt es ein kleines Café namens Treppenhauslounge. Es wird betrieben vom CVJM. Das ist der Christliche Verein Junger Menschen, der deutsche Ableger der – wir kennen sie von den Village People: YMCA, der Young Men’s Christian Association. Die Belegschaft der Treppenhauslounge wechselt häufig, immer aber besteht sie aus jugendlichen und jungerwachsenen Christ*innen von überall auf der Welt, die in ihrem jeweiligen Herkunftsland Mitglied des dortigen YMCA-Ablegers sind. Gelegentlich bin ich vormittags Gast in diesem Café, um vor der Schreib- und Lektürearbeit in einer nahegelegenen Bibliothek ein Frühstück einzunehmen. Es ist ein irgendwie subventioniertes Café und kann deswegen mit marktunüblich günstigen Preisen aufwarten. Das weiß aber kaum jemand, weswegen es dort meist angenehm oder vielmehr unangenehm leer ist.
Folgende Beobachtung mache ich bei diesen Besuchen immer wieder: Oft, wenn ich die Treppenhauslounge am Kornmarkt betrete und, noch bevor ich mir einen Tisch ausgucke und belege, am Tresen meine Bestellung aufgebe, machen die Mitarbeiter*innen so einen seltsamen Eindruck. So, als würde ihnen plötzlich eiskalt ums Heil, als umklammerten sie bei meinem Eintreten geschwind einen Rosenkranz in ihrer Hosentasche so fest, daß die Fingerknöchel weiß hervortreten, ja, als zögen sie augenblicklich einen Bußgürtel fester, auf daß er seine Stacheln noch tiefer ins Oberschenkelfleisch treibe.
Sie verhärten, verhornen dann in spürbar, dennoch verhalten bannendem Ausdruck, als fürchteten sie in meiner Gegenwart die Anwesenheit des Leibhaftigen. Sie scheinen, als glaubten sie ihn fast zu spüren, den großen Verwandler, den Verführer, das Große Thier, das alle ins Dunkel zu locken trachtet – zu spüren als eisigen Hauch, der ihnen vom Nacken aus beckenwärts schießt.
Während sie den Kaffee zubereiten, das Gebäck auf den Teller heben und dann kassieren, scheinen sie, als sagten sie innerlich hastig Ave-Marias auf, und zwar auf Latein.
Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum.
Benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Iesus.
Sancta Maria, Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus
nunc et in hora mortis nostrae. Amen.
Angekommen beim Amen: wiederbegonnen beim Ave, und so in einem fort.
Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum.
Benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Iesus.
Sancta Maria, Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus
nunc et in hora mortis nostrae. Amen.
Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum.
Benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Iesus.
Sancta Maria, Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus
nunc et in hora mortis nostrae. Amen.
Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum.
Benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Iesus.
Sancta Maria, Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus
nunc et in hora mortis nostrae. Amen.
Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum – und so weiter.
Äußerlich ist ihnen das fast nicht anzumerken, aber ihre Augen wandern kaum merklich unruhig hin und her, so als läsen sie die Zeilen des Gebets vom Blatt.
Verlasse ich das Café wieder, ohne daß jemand hinabgerissen wurde ins Fegefeuer, wirken sie sogleich erleichtert. Die Erleichterung entspringt dem Glauben, erfolgreich einer Prüfung widerstanden zu haben. Der mit meinem Eintreten heraufgezogene Schatten verschwindet, die plötzlich die Sonne verdunkelnden Unwetterwolken lichten sich, das Licht des Herrn bricht wieder in den Laden.
Die Nahteufelerfahrung ist überstanden.
Und die verstummten Vögel singen wieder ihr fröhlich Lied.
Hier gibt’s jetzt überhaupt keine Zusammenfassung. Das wäre ja, als schöbe man einen ganzen Leberkäse in den Backofen, büke ihn, schnitte ihn in Scheiben, äße dann aber nur die beiden Endstücke und würfe den Rest unverdaut in den Mülleimer. – Wir sind hier schließlich nicht bei Spiegel Online oder einem von seinen Epigonen. Mahlzeit!
Theobald O.J. Fuchs: Frühstück
Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages. Die Zeitung ist ein wichtiger Bestandteil des Frühstücks. Nicht der wichtigste, aber schon sehr wichtig. Aber die Zeitung kommt heute sehr spät. Durchs Küchenfenster sehe ich die Zeitungsfrau auf ihr Rad steigen und weiter fahren. Ich gehe hinaus, ziehe die Zeitung aus der grünen Plastikröhre, die außen an unserem Jägerzaun befestigt ist. Ich will schnell zurück ins Haus, weil das Frühstück wartet. Im Gehen werfe ich einen Blick auf die Schlagzeilen und bleibe überrascht stehen. Da steht: »Verdacht bestätigt – erster Todesfall seit 143 Jahren!«
Drinnen stehen für mich auf dem Küchentisch dreizehn Sorten Marmelade und elf Sorten Wurst bereit. Ich habe noch nicht einmal angefangen und will doch von allem essen. Von jeder Marmelade einen Löffel. Himbeere, Schlehe, Erdbeere, Zwetschge, Kirsche, Orange, Apfel, Rhabarber, Pfirsich, Johannisbeere, Quitte, Mandarine und Radieschen. Von jeder Wurst eine Scheibe: Bierschinken, Stadtwurst, Gelbwurst, Mettwurst, grobe Leberwurst, feine Leberwurst, kalte Bratwurst, Pfefferbeißer, Bauernseufzer, Räucherschinken und kalte Frikadelle. Immer nur diese Sorten, keine anderen. Und das jeden Tag.
Die Meldung in der Zeitung bringt mich aus dem Tritt, meine Routine ist unterbrochen, ich bin verwirrt. Seit einhundertdreiundvierzig Jahren ist das Rezept für die Unsterblichkeit bekannt. Sofort, nachdem die Formel für ein ewiges Leben bekannt wurde, begannen alle Menschen so zu leben wie die Wissenschaftler es rieten. Im Grunde war es ganz einfach, die Zutaten waren alle längst bekannt, jeder konnte sich einfach und billig mit dem notwendigen Zeug eindecken: Dreizehn Sorten Marmelade und elf Sorten Wurst. Jeden Morgen von jeder Sorte Marmelade einen Löffel, von jeder Wurst eine Scheibe. Dazu Kaffee oder Tee, was man eben bevorzugt, und ein Brötchen, kein Problem. Auch ein Ei oder ein Stückchen Käse – da gibt es keine Vorgaben. Hauptsache Marmelade und Wurst, in der richtigen Menge, die richtigen Sorten. Das Resultat: Unsterblichkeit.
Und nun das: Ein Todesfall, irgendwo in Kanada, in einem kleinen Dorf. Dort ist zum ersten Mal seit einhundertdreiundvierzig Jahren wieder ein Mensch gestorben. Schnell gehe ich ins Haus, setze mich an den Frühstückstisch, beginne Wurst und Marmelade zu essen. Immer abwechselnd, ein Löffel hiervon, eine Scheibe davon, dazu Kaffee und ein Bissen von der Semmel. Wie immer, wie jeden Tag. Wie gestern, vorgestern, vorvorgestern. Wie seit einhundertdreiundvierzig Jahren, jeden Tag. Immer dieselben dreizehn Sorten Marmelade und elf Sorten Wurst.
In der Zeitung steht, der Mann in Kanada ist gestorben, weil er keine Wurst mehr sehen konnte. Weil ihm die Marmelade zum Halse hinaushing. Weil er es nicht mehr ertragen hatte, jeden Tag dasselbe zu frühstücken. Seine letzten Worte hätten gelautet: »Ehe ich noch ein einziges Mal Gelbwurst und Rhabarbermarmelade auch nur anschaue, will ich lieber sterben.«
Das hat er nun davon, denke ich. Hätte sich halt nicht so anstellen brauchen. Selber schuld. Mir schmeckt’s jedenfalls. Mir schmeckt’s sehr gut, jeden Tag, immer dasselbe.
Weil: Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages.
Sarah Grodd und Lukas Ullinger: Ein Brunch – zwei Perspektiven
Sie weiß es. Sie weiß es ganz genau. Ich hasse brunchen. Wer hat sich diesen Unsinn überhaupt einfallen lassen? Überhaupt, diese unmögliche Uhrzeit. Soll das jetzt Frühstück oder Mittagessen sein? Das ist doch normalerweise nicht ohne Grund getrennt. Brunch – schon dieses Wort löst Abneigung in mir aus. Müssen wir jetzt für alles einen neuen Begriff einführen? Nicht mal Hobbits nennen ihr zweites Frühstück Brunch. Sondern das was es ist: ein zweites Frühstück. Und dann das Zeug, das es da zu essen gibt. Grenola, Granola oder was weiß ich, für mich ist das einfach Ofen-Müsli-selbstgemacht, aber egal. Im Prinzip wäre das alles ja halbwegs erträglich, Müsli geht ja wirklich zu jeder Tageszeit. Aber nicht, wenn da ihre bekackten Freundinnen dabei sind. Vor allem Jennifer. „Hi, Jenny!“ Ich pack die Trine nicht. Wenn Brunch in mir Abneigung auslöst, bringt Jennifer die totale Ablehnung in mir zum Vorschein. Ihr albernes Lachen, ihre krallenartigen Fingernägel und ihr absolut verkacktes Tattoo auf dem Rücken vom Selbstfindungstrip in Indien. Die Vollpanne in Person.
„Denkst du bitte an die Lachsröllchen im Kühli?“, kommt es aus dem Schlafzimmer. „Ja sicher.“, knirsche ich zurück. Wie sollte ich die Dinger auch vergessen. Bei 15 Pfannkuchen habe ich assistiert. Aber keine stinknormalen Pfannkuchen. Nein, die werden jetzt glutenfrei zubereitet. Weil Jenny kann ja jetzt kein Gluten mehr. Seit Indien. Also, ab zu DM glutenfreies Mehl, Agavendicksaft – Zucker geht auch nicht – und Demeter Eier. Ist besser für die Tiere. Dass der Lachs bei Netto im Angebot nur 1,70 kostet, wird geflissentlich übersehen.
„Und ziehst du dann auch das Hemd an, das blaue? Das steht dir doch so gut. Du kannst dann wieder den obersten Knopf zu machen, dann sieht das richtig gut aus.“, sagt sie und streckt wie eine halb geschminkte Schildkröte ihren Kopf in den Flur. Klar, denke ich mir. Das Ding ist dann so eng, dass ich keinen Bissen von dem Fraß runterbekomme. Ha, vielleicht gar nicht schlecht. Und warum muss die sich jetzt so dermaßen aufbrezeln! Zum Frühstück – Verzeihung, Brunch? Ehrlich, von mir aus kann das auch so ablaufen: Kaffee, Kippe, fertig. Gerne ungeduscht in Unterhose und am besten allein. Stattdessen müssen wir uns fertig machen um dann stundenlang beinahe-bio-Lachspfannkuchen und Käse mit Weintrauben auf kleinen Holzspießen in uns reinzustopfen. Danke dafür.
Heute ist ja eigentlich Fußball. Aber es stimmt schon: Jenny hat nur einmal im Jahr Geburtstag.
Und wenn Jenny nur einmal im Jahr Luft holen würde, mir doch egal.
Ich gehe zum Kühlschrank, hole die Lachsröllchen. Eines schnappe ich mir schon mal heimlich. Schmecken tatsächlich ziemlich gut – zugegeben. Besser noch schnell eines, soll Jenny doch ihr Müsli essen.
„Also, los geht’s…“ murmle ich durch geschlossene Zähne und binde mir die Schuhe zu.
Das Frühstück. Die wichtigste und großartigste Mahlzeit des Tages. Es gibt nur wenig, das ein schönes Frühstück mit frischem Kaffee- und Brötchengeruch toppen kann. Eine Sache, die das noch um Längen schlägt: der Brunch. Diese Fusion aus Frühstück und Mittag, da ist für jeden noch so süßen Zahn sowie herzhaften Gaumenfreund etwas dabei. Seit Wochen freue ich mich auf den heutigen Tag, denn die liebe Jenny hat zum Geburtstagsbrunch eingeladen.
Jenny und ihr geiles, ja weltberühmtes Granola. Sie weiß ganz genau, wie gut es ist. Da muss ich gegensteuern. Nur mit ein paar langweiligen Sea Salt-Chia-Buchweizenvollkorn-Brötchen mit Sesam-Topping aufzutauchen, das kommt definitiv nicht in Frage. Ich muss sie ausstechen. Stundenlang habe ich bei Pinterest nach Instagram-fähigen High Class-Rezepten gesucht, die zudem auch noch glutenfrei sind. Denn die arme Jenny bildet sich seit ihrem Indien-Selbstfindungstrip eine Gluten-Unverträglichkeit ein. Nun ja, so sind es nun Lachsröllchen geworden. Und die habe ich natürlich äußerst akkurat auf einem extra dafür gekauften Teller drapiert, genau so wie auf den Vorschaubildchen bei Pinterest. Hoffentlich lässt der die Finger davon, bis die Mädels es gesehen und anerkennend gelobt haben.
Hauptsache, wir vergessen die Dinger nicht! „Denkst du bitte an die Lachsröllchen im Kühli?“ schreie ich aus dem Schlafzimmer, damit er auch was zu tun hat. Diese Brunch-Vorbereitung stiehlt mir schließlich schon genug Zeit.
Jenny hat einen neuen Freund, den sie uns heute vorstellt. Martin, Markus oder so ähnlich. Ein schnieker Typ soll das sein. Jenny schwärmt jedenfalls unerträglich oft von ihm. Bedeutet also, sich heute besonders viel Zeit fürs Schickmachen zu nehmen. Das gilt natürlich für uns beide – für mich UND für ihn, denke ich und rufe: „Und ziehst du dann auch das Hemd an, das blaue? Das steht dir doch so gut. Du kannst dann wieder den obersten Knopf zu machen, dann sieht das richtig gut aus.“. Unter uns: alles Taktik. Brunch ist eben nicht nur Essen, es ist auch ein Statuszeigen, eine Anstrengung.
„Also, los geht’s…“ sage ich und ziehe mir die Jacke an.
Matt S. Bakausky: Die Person, die beim Spiel des Lebens schummelte
Die meiste Zeit verbringt man also in diesen Casinos und spielt darum am großen Rennen teilzunehmen. Doch man muss auch Zeit im Becken verbringen, um Schwimmen zu üben. Und mit viel Glück gewinnt man dann das goldene Ticket und darf an einem Rennen teilnehmen.
Jaja, das Licht am Ende des Tunnels – das sind die Glühlampen der großen Casinos. Wissen nur die wenigstens, aber ich weiß es, denn ich erinnere mich noch genau daran, als wäre es gestern gewesen.
Die Zeit vergisst man dabei, dafür sorgen die großen Casinobetreiber schon. Nirgendwo gibt es eine Uhr oder einen Hinweis darauf, ob es gerade Tag oder Nacht ist.
Wenn man dann am Rennen teilnimmt ist das was ganz großes. Aber wie gesagt, man muss auch das Schwimmen trainieren. Denn die Chance beim Rennen zu gewinnen ist gering. Zu viele Teilnehmer – manchmal gar über 100 Millionen. Man muss also eventuell tricksen.
Also ich hatte nach all der Zeit im Casino und im Schwimmbecken keinen Bock mehr darauf das Rennen zu verlieren und machte einen Deal. Ja ich weiß, nicht ganz die feine englische Art, doch wer würde sich nicht einen Vorteil verschaffen, um aus diesem öden Alltag herauszukommen? Vor allem gibt es viele Rennen bei denen man gar nicht gewinnt, wenn man der Beste ist. Da gewinnt keiner – der große Preis bleibt aus.Ich lernte einen Hacker kennen, der mir das ideale Rennen heraussuchen sollte. Ich schloss einen Pakt mit ihm. Alles Beginner außer mir und so schaffte ich es auf den ersten Platz.
Nach wie vielen Rennen? Tausenden? Nach wie vielen Stunden im Casino? Milliarden? Doch ich war noch nicht bereit ein Rennen zu gewinnen, das merkte ich erst später.
Man kann nicht wirklich betrügen. Klar ich hatte das große Rennen gewonnen, jedoch fehlt mir nun jeglicher Ehrgeiz. Hätte ich mir den im Schwimmbad erarbeitet, wäre ich in dieser Welt vielleicht erfolgreich.
Hätte mich nur jemand gewarnt, wäre ich im Schwimmbad geblieben. Ich bin einer von Milliarden Siegern und sehne mich zurück in die Stadt mit den hellen Lichtern. Doch diesmal würde ich es anders machen. Keine Rennen mehr, keine Casinos und im Schwimmbad lieber Pommes essen.