Lea Schlenker: Mandelmilchmädchen, Teil 1

Meine Katze springt auf dem Bett herum und kratzt gewissenlos am Bettlaken. Sie wird nicht aufhören, ehe sie bleibende Spuren hinterlassen hat. Ich ignoriere sie trotzdem, ich streite nicht mehr mit Katzen. Dafür bin ich zu abergläubisch. Nach den Ereignissen des heutigen Tages werde ich vermutlich noch mehr als einfach nur abergläubisch sein – dazu jedoch später. Die Katze habe ich, seit ich mich scheiden haben lasse und nun alleine in dem Haus lebe. Versteht mich nicht falsch, ich mag die Einsamkeit. Ich führe ein gutes Leben. Aber manchmal wird es doch ein wenig, wie soll ich sagen, langweilig.
Aber heute konnte selbst die Katze keine Ablenkung bieten. Die Langweile liegt heute träge und dick in der Luft, die Zeit schreit geradezu danach, dass man sie leerlaufen lässt und keinerlei Inhalt in den Tag füllt. Ich spielte schon fast mit dem Gedanken, das Haus zu verlassen, obwohl laut Wettervorhersage noch Gewitter drohten. Nicht gerade ansprechend ohne Regenschirm. Ich wohne in einem pinken Haus am Ende der Strasse, gleich am Hügel neben der Autobahn nach Bellinzona. Niemand von den anderen Hausbesitzern im Quartier kennt mich, und ich kenne sie auch nicht. Ich bin auch nicht sicher, welche Häuser bewohnt sind und welche nicht. So etwas wie Quartierfeste und Nachbarschaftstreffen gibt es hier nicht. Wenn es sie gäbe, würde ich von hier wegziehen.

Unruhig suchte ich nach meinem Telefon, um etwas in die Finger zu kriegen, nebst den gesalzenen Caramelbonbons, die ich heute unaufhörlich verschlinge. Nebenbei giesse ich zum zweiten Mal heute die Blumen und Pflanzen, die ich auf dem Balkon habe. Natterkopf, Ochsenauge, Basilikum, Glockenblumen, Wiesensalbei und der Zitronenbaum. Ich hoffe, das Wasser tut ihnen gut. Am Horizont lassen sich schon finstere Gewitterwolken blicken und eine tonnenschwere Hitze macht sich draussen breit.

Ich versuche meine Mutter zu erreichen. Wie es scheint ist sie momentan nicht zuhause. Derzeit arbeitet sie als Putzkraft an der Universität von Lugano, vielleicht hat sie heute auch Dienst. Sie ist immer schwer beeindruckt vom imposanten Gebäude der Hochschule. Ich hätte gerne eine richtige Ausbildung gemacht, am liebsten sogar studiert. Es gibt viele Themengebiete, die mich spontan ansprechen würden, bei denen ich gerne mal in einer Vorlesung gesessen und einfach mal zugehört hätte. Aber in meiner Familie wäre das nicht gegangen. Deshalb habe ich mich für eine Berufsausbildung entschieden, aber nicht einmal die bekam ich auf die Reihe. Aber das spielte keine Rolle.
Ich bin eine Macherin, und ich bin mutig. Ich habe bei Miss Schweiz mitgemacht, wurde drittplatzierte und arbeite seitdem als Unternehmensberaterin. Mir war nie wieder langweilig, bis zu dem heutigen Tag. Diese Langeweile. Ich wusste nicht, in welches Gefäss ich sie füllen konnte, oder ob sie einfach aus mir auslaufen würde wie Batteriesäure. In der Küche wurde es zunehmend dunkler, vermutlich vom Gewittereinbruch. Ich möchte das Licht anmachen und werfe einen Blick auf den Balkon. Da wurde mir klar, dass die Dunkelheit nicht vom bedeckten Himmel herkommt.

Mein Balkon ist zwar klein, mir aber heilig. Wenn ich nicht in den Garten runtermöchte, sitze ich hier und trinke ein Glas Wasser mit Melonenstücken, Orangenscheiben und Minze drin. Ich habe zwei Stühle und einen kleinen runden Tisch, der mir schon seit Jahren dient. Und natürlich die Pflanzen, die den Balkon etwas bunter gestalten, mittlerweile mir aber die Sicht und das Sonnenlicht versperren. Bei Pflanzen ist es generell ja so ein Ding – man merkt nicht wirklich wie sie wachsen, bis dann plötzlich mal die Blüten zum Vorschein kommen. Ich kann aber ohne Zweifel sagen, dass diese Pflanzen seit dem letzten Wassergiessen vor ungefähr zehn Minuten beträchtlich in die Höhe geschossen sind. Die Stiele wirren wie wild bis zur Balkonabdeckung, manche der Töpfe haben Risse bekommen, weil die bereits blühenden Knospen sich nach allen Windrichtungen ausdehnen. Zweimal Wasser pro Tag ist offenbar fataler als man annehmen könnte. Von hier sehen sie aber trocken aus, beinahe ausgedörrt. Die Blüten beginnen abzublättern und fallen mir ins Gesicht. Aber all das ist noch nichts zum Vergleich, was mit dem Zitronenbaum passiert. Wo neben dem Zitronenbaum eine Wand war, ist bloss noch eine verwachsene grüne Fläche, worauf der Zitronenbaum seine duftenden Blüten und Knospen spriessen lässt. Wenn ich mich nicht täusche, sehe ich bereits kleine Früchte zum Vorschein kommen. Früchte, die ich dabei beobachten konnte, wie sie von grün zu gelb werden. Ich sehe nur noch durch die Wucherungen heraus ins Freie, aber eigentlich könnte ich jetzt überall sein. Ich weiss nicht mal mehr, ob ich das Meer oder die Autobahn rauschen höre.

Ich renne wieder in die Wohnung. Im Badezimmer spritze ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und höre mein Herz pochen. Ich glaube nicht an Übernatürliches. Vermutlich hatte ich einen Autounfall, liege im Koma und träume einfach wie wild. Aber auch wenn das bloss ein Traum ist, muss ich trotzdem dafür sorgen, das Unkraut auf dem Balkon loszuwerden.
Ich gehe wieder nach draussen. Auf dem Balkon ist kaum mehr Sonnenlicht zu sehen, dafür eine unheimliche Vielzahl an Pflanzen. Ich fühle mich in eine prähistorische Zeit versetzt. Die Zitronen hängen gelb und prall von meiner Wand herunter. Dabei sind es aber keine normalen Zitronen. Ihre Schalen sind von Wucherungen bedeckt, von kleinen scharfen Zähnen, die nebeneinander wie ein Gebiss aneinandergereiht sind. Dort, wo bei einem Menschen Augen sind, sind kleine Vertiefungen, die mit einer Flüssigkeit gefüllt sind. Verflucht, wenn das jetzt mein Augenarzt sehen würde! Na ja, vermutlich wäre er bereits schon umgekippt. Ich bilde mir ein, dass die Zitronen alle aus ihren nassen Augenwinkeln zu mir rüber starren. Wobei ich den Ausdruck einbilden schnell wieder zurücknehmen muss.

Die Zitronen drehen sich nach mir, wachsen in Rekordschnelle zu mir rüber, bis sie nur wenige Zentimeter auf Augenhöhe mit ihrem messerscharfen Haigebissen bei mir sind.

Ich möchte mich rühren, habe aber wohl vergessen, wie das geht.
Das passiert manchmal so auf dieser Welt.

Theobald O.J. Fuchs: Langeweile

… Langeweile, bleibe kurz … doch noch bei mir …. weil noch lange will ich hier … mich
nach Kürze sehnen … möcht‘ die Zeit noch dehnen … kein Wechsel, auf dem Dache
gurrt’s… eilt sie doch sowieso … du verweilest viertelfroh … so lang du willst … im Walde, wo lange … ach ganz lange Zeit … ziemlich exakt gar nichts … geschehet … denn sehet… uns war fürchterlich langweilig. Fürchterlich. Freitag Mittag schon. Dann wurde es Nachmittag, dann Spätnachmittag, dann Abend. Dann stiegen wir zu acht in Mutters Kleinwagen. Ich, mein kleiner Bruder, Volker, Bernd, Stefan, Thomas, Michael und Andreas. Acht mal schwarze lange Mäntel, acht mal schwarze Lederstiefel. Acht mal Lidschatten und rote Lippen. Acht mal verworrene Vorstellungen von Existenzialismus und die neue Platte von Cure im Kopf. Acht mal unbegrenzte Vorräte an Langeweile.

Langeweile war das stärkste Gefühl in meiner ganzen Kindheit. Ununterbrochen war nichts los. Leben hieß sich ständig langweilen, jeder, den ich kannte, tat das in Vollendung, wie mit einer umgedrehten Superkraft, die allen geschenkt war. Bis ich Menschen entdeckte, die ich nicht langweilig fand. Sondern interessant. Mädchen. Sie übernahmen das Ruder als ich etwa zehn oder elf Jahre alt war. Vorher nur Langweile. Vor allem in der Schule. Die mir darüber hinaus noch den Schlaf stahl, den Schlaf am Vormittag, den ich so sehr schätzte. Denn nur in dem einen oder anderen Action-Traum war mir für kurze Zeit nicht langweilig.

Immerhin lernte ich in der Schule andere Jungs kennen, die sich ebenfalls langweilten.
Bernd, Volker, Thomas, Stefan, Michael, Andreas. Und nun waren wir unterwegs, mit dem kleinen Auto viel zu schnell über die langweiligen Hügel, dann in das langweile Dorf im drittnächsten Tal. Eine langweilige Siedlung am Ortsrand, ein Einfamilienhaus ohne Eigenschaften, eine verendete Party, irgendwelche Bekannte von irgendwem, dessen Eltern irgendwo waren. Schauen kurz vorbei. Geht klar, kein Problem. Wir haben Bier mitgebracht. Kommt rein.

Bernd brachte sich ein paar Jahre später um. Sagte man jedenfalls, nachdem er seinen geliebten Benz auf freier Strecke am hellichten Tag an einen Brückenpfeiler. Die Party war daran aber nicht schuld gewesen. Sie war lediglich langweilig, lediglich unfassbar langweilig. Unfassbar.

Ich hatte gehofft, dass Frauen da wären. Vergeblich. Oder gutes Essen. Pustekuchen. Wenigstens eine spannende Verrücktheit. Ein seltsamer Apparat zum Beispiel, an dem in der Werkstatt gebastelt wurde. Ein Tandem-Maulwurfsgleiter oder eine Fallschirm-Video-Anlage. Ich wäre sogar mit einer dänischen Schnapsbar zufrieden gewesen, mit einer westfälischen Streckbank, einem defekten Hobby-Hochofen, einer Telefonbuch-Zerreiß-Maschine im Keller, einer Karpfenhaut-Handtaschen-Sammlung – irgendetwas nur, das nicht langweilig war.

Aber alles nichts, nur vier Typen mit langweiligen kurzen Haaren, langweiligen Jeans, langweiligen Hardrock-T-Shirts. Sie hießen Thomas, Stefan, Bernd und Michael. Es lief langweiliger Hardrock aus einer langweiligen Kompaktanlage von Quelle. Die Vier saßen auf dem Teppichboden im Wohnzimmer und spielten ein langweiliges Spiel mit Würfeln.

Ja, sagte mein Bruder. Ja, sagte Thomas. O.k., sagte Stefan. Und Volker sagte: stimmt. Ein langweiliges Gespräch also.
Die Würfel klapperten ohne uns. Wir tranken schweigend Sekt, kontrollierten unsere Leningrad-Cowboy-Frisuren im Spiegel im Hausflur. Wir waren irgendwie mega… dann stiegen wir wieder zu acht ins Auto. Bernd, Volker, Thomas, Stefan, Michael, Andreas, mein Bruder und ich. Wir sagten nicht tschüss, wir fuhren solange durch die Nacht, bis wir links vorne die Stadt. Da war dann echt was los.

Fabian Lenthe: Langeweile

Da ich nun schon seit sechzehn Stunden im Bett lag und außer, dass ich das Radio an und wieder aus, sowie lauter und leiser gestellt, nichts getan hatte, bis auf mir zwischenzeitlich ein großes Stück Salami abzuschneiden, auf dem ich gelangweilt herumkaute, beschloss ich den Rest des Tages ebenfalls nichts zu tun. Wenn ich es geschafft hätte im Schlaf zu sterben, wäre daran nichts verwerfliches gewesen.
Im Gegenteil, man hätte mir das Stück Salami aus dem Rachen entfernt und mich wie jeden anderen leblosen Gegenstand aus der Wohnung getragen. Vermutlich hätten die Angestellten der Möbelspedition bei Kaffee und Zigarette genervt auf die Uhr gesehen, weil sich der Fahrer des städtischen Bestattungsunternehmens ausgerechnet an diesem Tag für einen Umweg entschied. Dann wäre alles ganz schnell gegangen.

Sobald sich der Reißverschluss des Leichensackes über meinem Gesicht zugezogen hätte, wären die kläglichen Überreste meiner Existenz in einem großen, leeren LKW verschwunden, in dem noch mindestens zehn ähnliche Leben Platz gefunden hätten. Doch dann klingelte es an der Tür. Ich stand nicht sofort auf, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich zuhause sei, sondern setzte ein Fuß nach dem anderen auf den Boden, schlich mich zur Tür, und spähte durch den Türspion. Zu meiner Erleichterung war niemand zu sehen. Etwas Wichtiges konnte es ohnehin nicht gewesen sein. Für wichtige Dinge sind andere Leute zuständig. Leute, denen es nichts ausmacht sich mit wichtigen Dingen zu beschäftigen. Auf dem Weg zurück ins Bett schnitt ich mir noch ein extra großes Stück Salami ab, damit ich bis zum nächsten Morgen keinen Grund mehr hatte, um aufzustehen. Dann schlief ich ein.

Matt S. Bakausky: Gefühlte Zeit

Rutsche auf dem Bürostuhl hin und her. Starre auf den Monitor.
Draußen, tief unten, stehen Autos im Stau. Umleitung.
Weißt du noch damals als der Helikopter gelandet ist und der Pilot sich einen Döner geholt hat?
Okay, das war wohl nur ein Tagtraum.
Seiten aufrufen. Nachrichten die täglich gleich aussehen, nur dass unsichtbar das Wort „Neu“ davor steht. Immer sichtbar die Uhrzeit in der Startleiste. Die Zahlen verändern sich umso seltener, je öfter du darauf schaust.

Dein Kollege gegenüber macht Tippgeräusche auf seiner Tastatur und sagt etwas zu dir. Zumindest denkst du für einen kurzen Moment, dass er ein Gespräch beginnt. Doch ein Blick verrät, dass er ins Telefon spricht. Eine Fliege liegt bewegungslos auf dem Fensterbrett. Die hat für heute bereits genug getan. Du breitest deine Flügel aus und fliegst durch das Fenster über die Autos hinweg ins Paradies. Ein weiterer Tagtraum.

Der Kaffee ist kalt und schmeckt wie kalter Kaffee schmeckt. Du hörst ein Klingeln, willst an die Tür gehen, doch dein Kollege ist schneller. Der Paketbote ist an der Tür, abgehetzt. Zack, zack, schnell hier unterschreiben. Dein Schreibtisch sieht tipptopp aus. Du hast ihn vorhin aufgeräumt. Laut der Uhr in der Menüleiste ist seitdem erst eine viertel Stunde vergangen.

Webseiten öffnen. Uninteressante Nachrichten. E-Mails abrufen, keine neuen Nachrichten. Nicht mal ein Newsletter. Der Spamfilter ist fleißig. Die Autos unten bewegen sich in müden Schritten.
Du überlegst an deinem Hobbyprojekt zu arbeiten. Die Computermaus steuert den Mauszeiger langsam Richtung Menüleiste.

Dein Blick wandert wieder auf die Fliege.  Sie ruht sich immer noch aus. Wahrscheinlich ist sie tot. Ja, sie ist hier gestorben. Das musst du wohl zugeben. Sie ist hier gestorben. Aus Langeweile.
Noch ein Schluck vom kalten Kaffee, der wie kalter Kaffee schmeckt.
Du nimmst einen Kugelschreiber und schiebst damit die Fliege in den Mülleimer. Die stört das gar nicht.

Herrmann Asien: Über die Langeweile

Wie konnte es für eine Person des 21. Jahrhunderts, die ihrer Gegenwart entsprechend lebte, sich Technikfortschrott (eigentlich ein Vertipper – das i liegt auf der Tastatur gleich neben dem o – da es aber ein sehr, sehr dummes und langweiliges Wortspiel ist, lasse ich es drin im Text, auch weil die Erklärung für das Drinlassen so schön egal und überflüssig ist + die Klammer nach dem Schließen vergessen lässt, wie der Satz eigentlich weiter oben begonnen hat) und Arbeitswelt nicht verweigerte, überhaupt so etwas wie Langeweile geben?

1. Texte generell immer mit einer sehr langen Frage beginnen.

Sie muss nicht unbedingt polemisch sein, aber es kann helfen, wenn sie sehr verallgemeinernd gestellt ist, z. B. „Alle Spinnen vor meinem Küchenfenster machen sich insgeheim über mich lustig, so dick und eng oder so dünn und weit sie ihre Netze auch gespannt haben, ob fette Kreuz- oder langbeinige Schnakenspinne – Ist ihnen vielleicht einfach langweilig?“

So wird zu Beginn gleich ein Problem beschrieben (die „Spinnen vor meinem Küchenfenster machen sich insgeheim über mich lusitg“), dem eine mögliche Erklärung mitgeliefert wird (“Ist ihnen vielleicht einfach langweilig?“), die allerdings erst bewiesen werden muss (daher als Frage gekennzeichnet wird). Je entfernter das Problem („Spinnen vor meinem Küchenfenster machen sich insgeheim über mich lustig“) und seine Erklärung bzw. Lösung (“Ist ihnen vielleicht einfach langweilig?“) voneinander sind, desto mehr Spannungsmöglichkeiten eröffnen sich im fortlaufenden Text.

„Heuer ging es famos in die erste Runde der schlecht verdichteten Zugriegelbausteine, falls noch Interesse daran bestünde, liebe FB-Freunde, bitte nur per PN melden.“

Spätestens hier steigen Leser*Innen aus der Lektüre aus, da nicht nur kein direkt erkennbarer Zusammenhang mit dem vorangestellten TextTEASER – wie wir Journos zu sagen pflegen – besteht, sondern auch der semantische Kitt dieser Wortzusammenstellung undefinierbar bleibt. Was sind „Zugriegelbausteine“? Von welcher „Runde“ sprechen wir? Weshalb ist von sozialen Netzwerk „Facebook“ (FB) die Rede? Und was haben die eingangs erwähnten Spinnen vor Küchenfenstern damit zu tun? Statt eines langsamen detektivischen Erklärungsspiels, wirft der Text nur noch weitere kryptische Rätsel auf. Das Interesse der Leser*Innen versiegt. Was sich allerdings inhaltlich nach diesem scheinbar zusammenhangslosem Einstieg abspielt, kann nur mit folgender, gleichnishafter Short Story aufgelöst werden:

Die Frau, die aus Langeweile die Welt rettete und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) ebenfalls aus Langeweile wieder zerstörte

Als sozialem Geschlecht „Frau“ der klaren biologischen Kennzeichnung „Phänotyp weiblich“ und dazu in Relation stehend, dem Menstruationszyklus (volksmundig Monats- oder Regelblutung, Emma, „Hast du auch wieder ein Schwein geschlachtet“ genannt) ausgeliefert, als Mutter nicht nur mit dem Austragen, sondern auch mit dem Gros der Erziehung der Kinder beschäftigt, zusätzlich dem sexistisch-patriachalen Sozialgefüge unterworfen, konnte es Langeweile streng genommen nur in einem geschützten, konsequenzlosen Raum geben. Etwa in einer idyllischen Nachmittagsszene auf dem bürgerlichen Gartengrundstück eines Charlotte Brontë Romans (ohne die Anwesenheit der Männer und Kinder) oder eben in folgender kleiner, von mir völlig frei erfundener Geschichte:

„Boah, ist mir langweilig!“, dachte die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) ebenfalls aus Langeweile wieder zerstören würde. Lange war der Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) ebenfalls aus Langeweile wieder zerstören würde, nicht mehr so langweilig gewesen wie in diesem Moment, als sie, die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, feststellte, dass ihr, der Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) aus Langeweile zerstören würde, unglaublich langweilig war. „Erstaunlich!“, dachte die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) aus Langeweile wieder zerstören würde. „Was fange ich denn jetzt mit mir an?“, fragte sich die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) ebenfalls aus Langeweile wieder zerstören würde. „Ich könnte“, fuhr die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, in Gedanken fort, „die Welt retten.“ Die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, kontemplierte eine lange Weile über diesen Gedanken und entschied schließlich: „Aber jetzt noch nicht!“ Sie hatte vage in Erinnerung, dass der Literaturnobelpreisträger Peter Handke ein Buch über die Langeweile geschrieben hatte. Es hieß, dachte die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, „Über die Langeweile“ hatte sie nie gelesen (ich übrigens auch nicht) und hatte das auch nicht vor. „Wie langweilig muss mir sein, dass ich Peter Handke lese?“, dachte die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, und drückte auf den Weltzerstörungsknopf der Weltzerstörungsmaschine, vor der sie schon die ganze Zeit gesessen hatte. Flugs darauf änderte sie ihre Meinung aus einer Laune (Langeweile?) heraus und rettete die beinah zerstörte Welt, indem sie den Weltrettungsknopf betätigte. Kurz danach drückte sie aber doch nochmal (Achtung: Switcheroo!) auf den Weltzerstörungsknopf (absichtlich).

Um zu einem befriedigenden Ende eines jeden Textes zu gelangen, empfiehlt es sich, einen schönen Bogen zum Anfang zu schließen. Folgende Zeichnung kann für diesen Zweck stellvertretend eingesetzt werden:

Ein Strichmännchen mit ausgestreckten erhobenen Armen und grimmigem Mondgesicht steht neben einem von oben herabhängendem laufenden Duschkopf. In einer großen Sprechblase über dem Strichmännchen stehen folgende zwei Sätze: „Unter diese Dusche geh ich nicht! Diese Dusche nehm’ ich nicht!“

Elmar Tannert: Blick aus dem Fenster

Paul nahm einen Schluck aus der Bierflasche.

„Weißt du, was ich mich manchmal frag?“

Kalle, sein Banknachbar in der kleinen Grünanlage, wußte nicht, was Paul sich manchmal fragte. Er hätte also einfach „nöö“ sagen und seinerseits einen Schluck Bier nehmen können. Aber er wollte Paul nicht verstimmen.
Also erkundigte er sich teilnehmend: „Was fragst du dich denn manchmal?“

Paul leitete seine Antwort mit einer stummen Kopfbewegung zum Mietshaus ein, das auf die Grünanlage blickte.

„Der Typ da oben“, sagte er schließlich.“

„Du meinst den im zweiten Stock, der aus dem Fenster schaut?“

„Genau den. Ist ja sonst niemand da.“

Paul nickte zufrieden wie ein Lehrer, der seinem Schüler zu einer wichtigen Erkenntnis verholfen hat, so daß Kalle kaum noch wagte, die Folgefrage zu stellen, die zwangsläufig lauten mußte:

„Und was ist mit dem?“

Es dauerte eine Weile, begleitet von zwei Bieren, bis Paul seinem Freund Kalle klargemacht hatte, daß der Typ am Fenster im Prinzip immer aus dem Fenster hinausgucke. Kalle wandte ein, daß sie gar nicht wissen könnten, ob er wirklich immer gucke, da sie ja nicht immer da seien, aber Paul meinte, der Typ gucke doch jedes Mal aus dem Fenster, wenn sie sich der Grünanlage näherten, und gucke immer noch, wenn sie sie wieder verließen. Man könne also mutmaßen, daß der Typ praktisch immer aus dem Fenster gucke.

„Ich frag mich bloß“, schloß er seine Betrachtung, „wieso machen Menschen sowas?“

„Ist doch nicht so schlimm, was der macht“, beschwichtigte Kalle. „Dem ist halt einfach langweilig.“

„Langweilig“, schnaubte Paul, „dann soll er gefälligst fernsehgucken, anstatt uns auszuspionieren!“

Kalle meinte, daß es bei ihnen nicht allzu viel auszuspionieren gäbe, und packte seine psychologischen Kenntnisse aus, die sich zum größten Teil auf gelebte Erfahrungen stützten.

„Manche Leute wollen einfach nicht mitmachen, sondern gucken lieber bloß zu. Das kenn ich schon aus der Kindheit. Meine Mutter hat mir immer erzählt, daß die Kinderärztin ihr empfohlen hat, sie soll mich zu einer Gymnastikgruppe anmelden. Aber da hab ich den anderen Kindern immer bloß zugeguckt, wie sie rumhüpfen, und bin in meiner Ecke geblieben. Und so ging‘s weiter. Ich sollte nie machen, was die anderen machen. Aber andererseits ist mir auch nix besseres eingefallen. Also hab ich halt einfach nix gemacht. Vielleicht ging‘s dem am Fenster sein Leben lang genauso. Außerdem – kann ja sein, daß er im Rollstuhl sitzt, und wir sind seine einzige Abwechslung.“

Paul widersprach vehement.

„Völliger Quatsch. Ich sag‘s dir, solche Typen, die immer am Fenster rumlungern, haben einen hochgradigen Kontrollzwang. Die wollen immer alles im Blick haben. Und selber machen sie nix, weil sie nämlich glauben, daß alle anderen genauso ticken wie sie. Aber sie wollen sich um keinen Preis selber kontrollieren lassen. Deshalb machen sie lieber gar nichts. Verstehst du, was ich meine? Schau dir doch mal an, was der für nen Kontrollblick drauf hat! Der wartet doch bloß darauf, daß irgendeiner irgendwas anstellt, was ihm nicht paßt.“

„Ist aber gar keiner da außer uns.“

„Also wird er so lang aus dem Fenster gucken, bis wir irgendwas anstellen.“

„Da kann er aber gucken, bis er schwarz wird“, meinte Kalle.
Dann kam er ins Grübeln.
„Obwohl … andererseits … je länger ich den so seh, um so mehr krieg ich Lust, wirklich irgendeinen Scheiß zu machen. Zum Beispiel … ich weiß auch nicht … ich glaub, den Abfalleimer da abfackeln. Das wär‘s jetzt.“

„Gib dir nicht so viel Mühe. Solchen Leuten reicht es schon, wenn du ne Pfandflasche in den Altglascontainer wirfst.“

Kalle mußte lachen. Dann setzte er noch eins drauf.
„Womöglich noch ne Braunglaspfandflasche in den Grünglascontainer!“

Paul sah auf die Uhr.
„Und das dann auch noch nach 19 Uhr! Hopp, trink aus und schmeiß die Flasche rein!“

Kalle setzte die Bierflasche an. Setzte sie wieder ab und prustete los.
„Braunglaspfand nach 19 Uhr ins Grünglas!“ wieherte er. „Ob er dann die Polizei ruft?“

„Garantiert. – Noch besser wäre, du würdest noch was drinlassen in der Flasche. Nicht komplett geleert in den Container! Da kommst du gleich in U-Haft!“

Kalle wollte sich ausschütten vor Lachen. Paul versuchte, ihm die halbvolle Flasche zu entwinden. „Gib her! Die schmeiß ich jetzt ins Altglas!“

Kalle hielt sie eisern fest.
„Reicht schon, wenn das Pfand weg ist“, meinte er. „Aber das Bier wird gerettet!“

Er setzte die Flasche an. Während er trank, überfiel ihn ein weiterer Lachanfall. Das Bier geriet in falsche Kanäle. Kalle röchelte. Kalle japste. Lief blau an. Kippte zur Seite.

„Heee!“ schrie Paul nach oben. „Rufen Sie die Sanitäter! Schnell!“

Der Mann im zweiten Stock zog sich zurück und schloß das Fenster.

„Na?“ bemerkte seine Frau beiläufig, „da draußen wird doch nicht mal was passiert sein?“

„Klar doch“, sagte der Mann und öffnete sich eine Flasche Bier. „Man muß nur lang genug gucken. Dann passiert auch was.“

Arabella Block: Langeweile

Sie rufen: Steh auf, komm endlich raus, 
wir sterben vor Langeweile.
Doch ich habe keine Eile.
Träge treib ich in der Dünung
des Lakenlichts und peile
durch Wimpernlamellen den Sonnenstand. 
Ein Sommermorgen im Bett,
eidottergelb und flüssig.

Es ist eine heile
Welt und was mir fehlt, erfinde ich dazu.
Nichts dort draußen, nicht der grüne Duft, 
des rasenmäherkurzgeschnittenen Grases, 
auf dem man Ball spielt, nicht die steile
sonnenwarme Abfahrt aus Asphalt,
und die aufgeschürften Knie
über den umgeschnallten Rollschuhen, 
nicht das Quietschen der Schaukelseile
und das Kreischen der Horde, die sich schon gefunden hat,
nicht mal das Gefühl, wenn die gefangenen Heupferdchen 
sich in der klebrigen Faust regen,
ist so schön wie das hier:

dass ich noch ein wenig länger verweile, 
während ein Teil von mir durch alle Bilder schwimmt
und die Bilder, bunte Fische, 
wie aus schwarzem Wachs gekratzt,
schwimmen durch mich hindurch.
Die entscheidende Meile
vor der Küste des Tages genieße ich 
mich ganz, noch war die geile
kleine Insel unentdeckt. Ich war es ganz, 
das Reich, das ich nicht teile
oder verlasse, für irgendeinen Ruf.
Schickt mir keine Feile,
in Kuchen nicht und in Pasteten, nein.
Ich bin mir selbst die schönste letzte Zeile.

Michael Schmidt: Workaholic

Die von der Sucht droben werden mit der Corona viel zu tun kriegen. Haben ja alle jetzt viel genug Zeit gehabt, um daheim zu hocken und eine Flasche nach der anderen runterzulassen. Im Neudeutschen: Home Office. Und da läuft’s halt umso geschmierter, wenn die Promille stimmt. Und der Chef wundert sich, warum auf einmal sämtliche Mitarbeiter, die vorher kein Wort herausgebracht haben, mit Schnapsideen kommen, als ob sie der Daniel Düsentrieb selber wären. So manch einer hat in der Zeit sogar ein Buch geschrieben und veröffentlicht. Unser Nachbar ja auch. Letzt‘s Mal im Supermarkt hab ich ihn drauf angesprochen. Sagt er, er sagt’s mir ganz ehrlich: Er tät gar nicht mehr wissen, worum’s in seinem Buch eigentlich geht. Aber signiert hat er mir’s trotzdem noch spontan. Dafür hab ich ihm auch die Flasche Korn übernommen. Sag ich: Legen Sie die einfach bei mir auf’s Kassenband. Das war ja das Mindeste, wie ich mich bei dem Mann hab bedanken können. Und dann ist er wieder zu sich heim. Hat ja wieder ins Home Office müssen. Aber ich denk, irgendwann muss auch der hinauf in die Sucht. Und dann ist’s nicht mehr lustig. Aber schämen muss man sich deswegen heutzutags nicht mehr. Gibt ja lauter prominente Beispiele, wer schon alles in der Sucht war. Sogar der Professor Wuiser hat mal eine Therapie gemacht. Bei den anonymen Workaholikern. Und da hat der Therapeut gesagt, dass es gut wär, wenn sich der Herr Wuiser mal Zeit nimmt und hinsetzt und in sich geht und zusammenschreibt, wie es ihm als Workaholic so geht. Am Anfang ist ihm gar nichts dazu eingefallen, weil ja ein Workaholic gar nicht groß darüber nachdenkt, was er so den ganzen tag tut. Und dann ist es doch geflossen. Das bringt er jetzt auch als Buch heraus: „Die Kulturgeschichte des Workaholismus.“
In acht Bänden und im Schuber.

Theobald Fuchs: Sucht

Die Leute, bei denen ich meine Kindheit verbrachte, waren süchtig. Hochgradig süchtig. Nach Wegwerfen. Sie warfen ständig weg, was sie schon besaßen, um sich neue Dinge anzuschaffen. 

Meine früheste Erinnerung ist, dass ich mich Abends aus dem Haus schlich, um im nahen Wald ein Loch zu graben. Darin, unter einer dicken Schicht aus Nadeln, Laub und Moos versteckte ich meinen Lieblingsteddy. 

Als ich aufblickte, standen sie bereits da und beobachteten mein Tun.  

»Was machst du?« fragten sie. 

»Ich habe Angst, dass jemand meinen Teddy wegwirft.« 

»Ach so«, sagten sie, »den alten Teddy…«, und brachten mich nach Hause. Am nächsten Tag war der Teddy… Sie hatten halt nicht anders gekonnt, die Sucht war eben stärker gewesen als sie, und es musste zwangsläufig dahin kommen, dass ich, wenn man so will, eine Ko-Abhängigkeit entwickelte. Ich entwickelte einen Zwang, Dinge für immer aufzuheben. 

Seltsam war, dass die Frau niemals den Mann fortschickte und der Mann niemals die Frau. Sie waren das einzige in ihrem Leben, das sie nie gegen etwas Neues austauschten. Das mag untypisch erscheinen, gar nicht zum sonstigen Gebaren passen, aber es wird wohl ein Versehen gewesen sein, ein gewöhnlicher Fehler. Denn auch beim Wegwerfen passieren Fehler. Auch beim Wegwerfen gibt es eine Art blinder Fleck. Zum Beispiel in Gestalt eines Ehegesponses. 

Doch darauf wollte ich mich nicht mehr verlassen. Ich beschloss mit sehr jungen Jahren, absolute Kontrolle über die Gegenstände in meinem Besitz zu gewinnen. Ich lernte, das, was mir wichtig war, so gut zu verstecken, dass es niemand anderes mehr finden konnte. Die Eichhörnchen wurden meine Vorbilder, wie besessen studierte ich ihre Tricks.

Das ging soweit, dass ich genauso wie diese dämlichen Nager manchmal meine eigenen Verstecke nicht mehr wiederfand. Keine Ahnung, wie viele meiner Spielsachen noch heute dort draußen im Wald gut verpackt und sorgfältig geschützt in der Erde darauf warten, dass ich sie abhole. 

Die Kleidung, die ich mochte, lagerte ich bei einem Freund. Morgens auf dem Weg zur Schule machte ich kurz Station bei ihm, zog meine alten Lieblingsklamotten an und ließ die neuen Sachen, die ich in beim Aufstehen neben meinem Bett vorgefunden hatte, tagsüber dort. 

Ein einziges Mal noch gelang es der Frau, die wir spaßeshalber »Mutter« nannten, eines meiner liebsten T-shirts zu entsorgen. Ich hatte es nur kurz ausgezogen, um im Keller die Kohlen zu wenden, was reihum jeden Monat einer von uns zur Aufgabe hatte. 

»Wo ist mein T-shirt«, fragte ich sie, als ich mir den schwarzen Staub vom Körper gewaschen hatte. 

»Ach, dieses hässliche alte T-shirt? Was ist das schon im Angesicht der Ewigkeit! Sei froh, du kannst dir jetzt ein neues kaufen.« 

»Ich fasse es nicht!« schrie ich. »Es war mein Lieblingsshirt! Von meiner Lieblingsband! Es hat mir meine Lieblingsfreundin zu meinem Lieblingsgeburtstag geschenkt! Noch keine fünf Lieblingsjahre alt… das kann man doch nicht wegwerfen!« 

»Ach komm, vergiss den alten Kram. Niemand will den alten Kram. Der alte Kram belastet einen doch nur. Den alten Kram muss man wegwerfen. Ich freu‘ mich für dich.« 

Damit endete unser letzter Streit. Ich konnte sie mit Argumenten nicht mehr erreichen, sie hatte sich in ihren Wahn eingesperrt, in dem alles, was nicht neu war, sofort weggeworfen werden musste. Den Schlüssel zu ihrer Welt hatte sie wohl ebenfalls nach dem ersten Gebrauch zum Altmetallhändler gebracht. Von nun an machte ich keine Fehler mehr. Ich besorgte mir alle Gegenstände, die ich zum Leben brauchte und trug sie ständig in einem Tresor bei mir, den ich mit einer Kette an meinem Bein befestigte. Sogar einen Teller und ein Glas führte ich mit mir, sorgfältig in einen alten Teppich eingewickelt. Ich wurde sehr stark, der Stärkste in meiner Klasse wurde ich, da es keine Sekunde gab, in der ich nicht allen meinen Besitz mit mir schleppte. 

Dahingegen sie, die Frau, sie kochte und warf nach dem Essen alles Geschirr einfach auf den Boden. 

»Hoppla«, rief sie, »alles kaputt! Wie schön, dann können wir endlich etwas Neues kaufen!« 

Dann zogen sie los, sie und ihr Mann und kauften ein. Glücklich kamen sie nach Hause zurück, schwer beladen mit neuem Zeug. 

Die Sucht war es, die sie dazu zwang, sie konnten eigentlich nichts dafür, und niemand half ihnen. Solange sie funktionierten, solange sie damit durchkamen, solange war es für die Gesellschaft in Ordnung. Und die Behörden sahen bewusst in eine andere Richtung. 

Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre! Später, als ich schon ausgezogen war, traten sie einer Partei bei und wurden erfolgreiche und angesehene Politiker. 

Als ich sechzehn wurde, verkündete ich im Kreis der zahlreichen Leute, die in jenem Haus versammelt waren, dass ich ausziehen würde und dass ich eine Lehre als Restaurator beginnen würde. Der Lehrherr hätte eine Gesellenwohnung voller alter Möbel für mich, erklärte ich und verabschiedete mich – nicht überschwenglich, aber auch nicht unhöflich knapp. 

»Wie schön!«, rief die Frau, die mich jeden Morgen geweckt hatte, damit ich rechtzeitig in der Schule saß, »Ein Esser weniger, dann können wir uns ja noch einen neuen Hund anschaffen, sobald wir den alten ins Tierheim gebracht haben! Jetzt gleich!« 

Der Hund kapierte sofort, was los war, verkroch sich unter dem Sofa. Natürlich half ihm das. Nicht. Im geringsten. 

Einmal noch kehrte ich zurück, da ich für eine Bewerbung ein altes Schulzeugnis brauchte. Ich hatte zwar wenig Hoffnung, vielleicht, so dachte ich, machen sie bei offiziellen Dokumenten eine Ausnahme… Nun, was soll’s. Hatte ich doch schon vor einiger Zeit einen sehr geschickten und dabei überaus preisgünstigen Fälscher kennengelernt, der mir dann weiterhalf. Immerhin erfuhr ich angelegentlich des Besuches, dass die Leute, die mir im Rahmen ihrer Sucht Obdach und Nahrung gegeben hatten, bei den letzten Wahlen einen großen Sieg errungen hatten. Sie waren Bundeskanzlerehepaar geworden.

Ihr Erfolg gründete darauf, dass sie Verwaltung und Parlamente gründlich ausmisteten. Sie warfen alte Gesetze genauso weg wie alte Beamte. Ganze Ministerien flogen auf den Kehricht, jahrhundertealte Strukturen in Verwaltung, Parlament, Justiz – alles wurde hinaus geschmissen und nagelneu angeschafft. Das brachte ihnen anfangs große Sympathien ein, in den ersten Monaten war die Bevölkerung hellauf begeistert von ihrer Arbeit. Eine regelrechte Welle des Ausmistens schwappte durchs Land, vor den Städten wuchsen Müllberge, höher als das Ulmer Münster und an etlichen Orten halb so groß wie das Saarland. 

Doch wie das mit Süchtigen eben so ist: sie konnten nicht mehr aufhören. Sie machten sich daran Bahnstrecken und Flughäfen, Wasserwerke und Krankenhäuser, Sozialwohnungen und die Polizei. Das hatte nichts mehr mit freiem Willen zu tun, sie verloren vielmehr die Kontrolle, so wie ein Autofahrer, der bei 200 Stundenkilometern das Lenkrad abbeißt und zum Fenster hinausschleudert. Sie waren kurz davor, wirklich alles wegzuwerfen, den Himmel, die Erde, die Menschen, Tiere und Pflanzen und so wäre die ganze Welt beim galaktischen Schrotthändler gelandet, wenn sie nicht im letzten Moment, wirklich nur wenige Augenblicke, ehe sie die Existenz alles Seienden sowie die Nicht-Existenz alles Nicht-Seienden ausgelöscht hätten, innehielten und erkannten, dass ihr Werk nur dann vollendet und zum Abschluss gebracht werden konnte, wenn sie sich selbst zum Schrott bringen würden. 

Da gingen ihnen die Augen auf, wie einem das Land verschlingenden Drachen, der alles gefressen hat außer dem eigenen Schwanz, und, während er daran schnüffelt und ein oder zwei Mal abschleckt, begreift, dass es jetzt vielleicht genug ist. (und er dringend eine Dusche bräuchte, was sich bei Drachen allerdings häufig als schwieriger als gedacht darstellt.)

»Gut ist’s, oder?«, fragte sie, und der Mann, den wir spaßeshalber »Vater« gerufen hatten, antwortete mit denselben Worten. »Ja, gut ist’s«, sagte er und nickte mit dem Kopf und nahm ihre Hand und ging zusammen mit ihr los Richtung Sonnenuntergang, der aber auch ein Sonnenaufgang gewesen sein könnte, so genau kann man’s auf dem Foto nicht erkennen, und von da an waren sie geheilt und befreit von ihrem Zwang und lebten wie wir alle als ganz gewöhnliche Messis noch ein paar Jahre vor sich hin, auf zwei Zimmern, Küche, Bad im vierten Stock zwischen Kisten und Möbeln, zwischen Kleidern und Elektroschrott, bis sich auch für sie das Schicksal erfüllte und sie den Ruf an der Tür hörten: »Lassen Sie mich durch, verdammt nochmal, ich bin doch die Person von der Entsorgungsfirma…«