Arne Zank: Interview »Die Vögel fliegen hoch«

Transkript: Felix Brenner

0: Wie geht`s? Müde, warm

0.15 Was fasziniert dich so an Vögeln? Irgendwie ist es so ein Leitmotiv. Anfang der 90er hab ich auch schon Vögel gezeichnet in der Comicgruppe an der Uni. Ich hatte als Kind ein gutes Verhältnis zum Wellensittich meiner Schwester. Seitdem mag ich Vögel und ich mag das Wort „Vogel“. Im Comicbereich drängt es sich auf, da gibt es viele Gestalten aus dem Vogelreich. Bei meinem punkigen Stil fand ich es reizvoll, sich an klassische Figuren anzulehnen. Es gibt schöne Querverweise, z.B. zu Hitchcock. Ich mag es düster und gleichzeitig albern. Schräge Vögel, Außenseiter.

2.25 Punkverrat? Nein, total unabhängig. Punkverlag! Ergab sich aus dem Tocotronic-Comic 2020. Ich fand das Webtoonformat gut, mach das auch weiter. Inzwischen bin ich 50, nicht so native, mach alles auf Papier. Likes haben mich angetrieben, dadurch kam es zustande. Kolorierung war viel Arbeit.

4.15 Inspiration durch welche Webtoons und Dramaserie? Underpants and overbytes, Autobiographisches ist mir nah und damit hab ich auch angefangen. Serie: irgendwas mit Worlds, basiert auf einem Webtoon, Comicfigur kommt in reale Welt. Fand ich super, war Auslöser.

6.20 Reale Figuren im Comic? Meine Freundin war sehr beteiligt und wusste es. Andere wurden überrascht, z.B. Nis-Momme Stockmann. Leute, die ich mag, hab ich verwurstet, um sie zu würdigen.

7.50 Zusammenfassung in eigenen Worten? Reise durchs Leben mit allen Höhen und Tiefen. Vieles, was mein Leben ausmacht. Reise und Flucht.

8.40 Bildende Kunst, warum Musik? Viel allein als Kind und Jugendlicher, immer Sachen für mich gemacht. Viel Musik gehört, aber erst mit 18 selbst gemacht. Stift ist leichter zu halten als eine Gitarre. Mit Jan Müller mach ich immer noch Musik.

10.20 Unangenehm? Fanzine zu Studienzeiten, Comic war dort noch nicht vertreten. Autobiographisch, DIY.

11.50 Trickfilme: Warum sind Tiere interessant? Menschen sind schwerer zu zeichnen. Kam mir minderbegabt vor, hatte hohen Anspruch an mich. 

13.20 Lindenstraße? Hab ich früher wie besessen gekuckt. Wollte noch viel mehr Spielereien einbauen, dann hat mich aber die Geschichte mehr interessiert als postmoderne Experimente.

15.00 Duckamuck, Theodizee? Kenn ich nicht, aber finde Religion und Spiritualität total interessant. Gibt viel, z.B. „Der Ursprung“. Meine Figuren erleben Schlimmes, ich hab aber auch Hemmungen, sie zu quälen. Mal kucken, wie es weitergeht.

17.05 Autobiographisches nicht zu vermeiden? Mag es gerne. Bei abstrakten Figuren geht es leichter als verschriftlicht. Im Comic kann ich einiges ab, wird erträglich.

18.45 Japan? Hat mich immer interessiert. Meine Freundin hat mich dazu gebracht, mir ein Stipendium zu holen. Kyoto, Goethe. Sehr einschneidendes Erlebnis, war nie so lang woanders und so weit weg. Glück und Herausforderung, Leute kennengelernt. Seitdem noch paarmal da, auch mit der Band und für Solo-Auftritte. War Sehnsuchtsort, jetzt realer Ort am anderen Ende der Welt. Entrückt mich aus westeuropäischer Welt, kann mich selbst anders ankucken.

22.05 Soloalbum? Zu viel vorgenommen, vielleicht kommt es irgendwann noch.

23.20 Mischung aus Filmgenres automatisch? Hatte nur grobe Richtung, hab lang nix zustande gebracht. Genres waren hilfreich, auf Plot hatte ich keine Lust. Wollte mich nicht im Perfektionismus verlieren, musste leicht gehen. Dass ich überhaupt täglich was gemacht habe, war gut. Das einfachste Drehbuch haben Roadmovies, leuchtet mir ein. Wenn Figuren sich bewegen, ist was los. Hab täglich 3-5 Panels gezeichnet, Cliffhanger war wichtig. Oft hab ich selbst nicht gewusst, wie es weitergeht. Während Corona angenehme Ablenkung, auch gut gegen Unterforderung, weil wir keine Musik machen konnten.

26.30 Wohin soll es gehen Hauptfrage? Ja, genau. Hab ständig gegooglet. 

27.23 : Anfänge des Zeichners Arne? Kam vom Basteln und Linoldruck. Fanzines. Collagen. Zeichnungen mit Kugelschreiber. Erst im Studium ernstgenommen. Reales Abzeichnen erst mit 20 angefangen.

29.00: Vögel verfilmen? Ziel natürlich Netflix-Serie (lacht). Trickfilme unfassbar aufwändig. Legetrick, den ich mit Gregor Stockmann gemacht hab, aus Filz war totales Gefummel. Braucht großes Team, sonst total frustrierend. Heute einfacher, aber bei Verfilmung möchte ich alles delegieren. Beim Kolorieren kam ich mir so beschäftigt vor wie noch nie, zuletzt vielleicht beim Abi. Ich harre der Dinge und bin für alles offen.

32.12: Konzert, Buch auch ohne Ausfälle entstanden? Ja, aber langsamer. Habe schon Januar 20 angefangen. Konnte mich besser drauf konzentrieren. Manchmal ist abgelenkt sein aber auch besser.

33.40: Epilog, persönlich, Sucht, Depression? Habe sehr gehadert, wollte aber große Dankbarkeit ausdrücken. Mit Figur des Doktors als Erleuchtungsinstrument war das einfacher. Wurde vor 2 Jahren durch Selbsthilfegruppen clean, hab mit Alk und Drogen aufgehört. Wollte das in den Vögeln miterzählen. Wollte eigentlich noch viel mehr Persönliches erzählen, wurde aber schwierig, mochte ich nicht. Habs auf paar Panels eingedampft. Mit Vogel-Ich konnte ich es besser erzählen und hat sogar Spaß gemacht. 

37.30: Weihnachtscomic autobiographisches Erzählen im Comic leichter? TMI, unangenehmes Angefasstwerden von persönlichen Geshcichten soll vemieden werden.

39.00: Wie geht’s weiter mit den Vögeln? Hab schon weitergezeichnet, will gern weitererzählen, so wie in der Lindenstraße, dass die Figuren alt und faltig werden.

40: Danke, verging wie im Flug.

Arne Zank: Die Vögel fliegen hoch

Teil 1: Bank

Teil 2: Krabben

Teil 3: Dr. Zank

Teil 4: Geld

Teil 5: Schnell essen

Teil 6: Dr. Zank II


Hörspielskript, Regie, Schnitt: Lukas Münich
Mastering: Bernd Pflaum

Sprecher*innen:
Vogel 1: Timo Möller
Vogel 2: Luca Rihm
Cousinvogel/Polizistvogel: Bird Berlin
Kapitän/Wirtin/Polizei/Arzt: Philipp Kause
Krabbenlehrling Nils/Bankbeamter: Roman Bahr
Dr. Arne Zank: Anders Möhl


Lea Schlenker: Astronomische Denkweise

77 Gedichte
gelangweilt aneinandergereiht

sie gleichen sich wie falsche Freunde
und leiten eine Katastrophe ein
ein Autounfall auf einer Seitenstrasse im Verzascatal
77 Deutschschweizer Touristen
sterben dumm beim Einparken

Ich habe gemischte Gefühle
wenn es um meine Familie geht

sehe meine Grossmutter unter Rosen
schön aber auch giftig
sehe meine Mutter in meinem Spiegelbild
schön aber auch gefährlich

77 Gedichte
lieblos in die Tastatur gehauen
ich kann nicht mehr einschlafen
ohne sie und dich und dem Wissen
dass ein Sextape von mir im Umlauf ist

Ich schaue es mir an
Ich vermisse dich

Ich weiss nicht
Ob Gedichte wirklich helfen
Ich weiss nicht
Wo mein Kopf aufhört und mein Herz beginnt

Ich weiss nicht
ob das Aufschreiben nicht alles nur noch schlimmer macht
ich habe schon sehr viele Freunde an die Wörter verloren

ausserdem
spüre ich die Laken nicht mehr unter mir
oder auf mir
viele Decken mit denen du dich bettest
sind fettig und alt und dunkelrot

Jupiter Mars Saturn
auf dem Badezimmerteppich
ausgelegt wie auf dem Bügelbrett
wie meine 77 Gedichte
bevor ich sie 
aneinanderreihte

ich hole mal
das Telefon

Fabian Lenthe: Ida

Ich habe nicht viel mit den Nachbarn zu tun. Man grüßt sich, hält sich die Tür auf, nimmt Pakete entgegen. Einigen, begegnet man ständig, anderen nie. „Hi, ich bin Ida!“, sagt sie. Ich bleibe stehen und drehe mich um. Der Sommer steht ihr. „Ich bin gerade eingezogen und wohne im Achten“. „Ich im Dritten.“, antworte ich. Sie lächelt.

Einige Tage später versuche ich etwas über die verschiedenen Ursachen meiner Symptome herauszufinden. Dazu zählt plötzlich einsetzende Todesangst, Übelkeit bis zum Erbrechen, Atemnot, Schwindel, Realitätsverlust, Herzrasen, Harndrang, Schweiß an Händen und Füßen und die absolute Gewissheit alleine zu sterben. Dann klingelt es an der Tür. Ich erkenne Idas Gesicht durch den Türspion. Ich bin nicht in der Verfassung für Gesellschaft. Die Strapazen vergangener Nächte haben mich ausgelaugt. Sie schellt ein zweites Mal. In der einen Hand entdecke ich eine Weinflasche, mit der anderen schreibt sie etwas mit einem Stift auf das Etikett. Sie stellt die Flasche auf die Fußmatte und geht.

„Von Ida“ steht darauf und dahinter ein Herz. Ich stelle die Flasche auf den Küchentisch und lege mich hin. Seit Wochen träume ich, vor irgendetwas zu flüchten. Ich weiß nicht, vor was, oder vor wem, aber etwas kommt bedrohlich näher, sobald ich langsamer werde. Zur Beruhigung schalte ich das Radio ein. Infokanal. Keine Musik. Die Stimmen der Moderatoren haben etwas Beruhigendes. Ich kann ihnen lauschen, ohne zuzuhören. Sobald es hell wird verschwindet die Angst. Menschen verlassen ihre Häuser, Hundegebell, klingelnde Telefone, Baustellen, zwitschernde Vögel. Dinge auf die ich mich verlassen kann.

Ida muss bemerkt haben, dass die Flasche nicht mehr da ist. Früher oder später wird das also der Einstieg unserer nächsten Unterhaltung. Später sind zwei Tage und vor dem Hauseingang. Mein Herz rast. Ich balle meine Hände in den Jackentaschen zu Fäusten, um den Druck in meiner Brust zu kompensieren. „Ich muss dringend zum Arzt!“, sage ich und bleibe dabei nicht stehen. Ich atme in kurzen Abständen durch den Mund. Mit der Hand streiche ich mir die Kehle hinab, als würde etwas in meinem Hals stecken. An der Ampel werde ich ersticken. Zwischen Arzt und Krankenhaus. Vor dem Kind, das mit seiner Mutter auf der anderen Straßenseite steht und darauf wartet, dass es grün wird. Ich gehe bei Rot. Quer über die Fahrbahn. Noch fünfzig Meter. Ich sage: „Keine Luft!“, deute auf meinen Hals, gebe ihr die Versicherungskarte. Ich bin in Sicherheit. Das Personal ist hervorragend ausgebildet. Alle wissen was zu tun ist. Das Gesicht der Ärztin ist das schönste, das ich kenne. Sie ist doppelt so alt wie ich. Sie trägt eine Brille, die an einem goldenen Kettchen um ihren Hals hängt. Ihre Haare sind kurz und grau. Ich vertraue ihr mein Leben an. Sie nimmt ein Holzstäbchen aus dem Glas, legt es mir auf die Zunge und leuchtet mit einer kleinen Taschenlampe in mich hinein. „Keine Schwellungen zu erkennen. Legen Sie sich hin“. Ich bin ihr so dankbar, dass ich weinen möchte. Ich entspanne mich. Der Druck in meiner Brust nimmt ab. Ich atme langsam und gleichmäßig. Sie reicht mir Traubenzucker. Kirsche, wie immer. Ich komme mir lächerlich vor.

Ich kann mir nicht auch noch über Ida Gedanken machen. Ich muss am Leben bleiben. Zum Aufstehen trinke ich Schlaf- und Nerventee. Zwei Tassen. Dann eine Tasse Salbeitee, mit der ich gurgle. Gegen die Schwellungen. Erstmal keinen Alkohol. Keine Zigaretten. Ich möchte mich wieder Gesund fühlen. Die Klingel habe ich abgestellt. Sobald es dunkel geworden ist, werde ich einkaufen gehen. Etwas Gutes, etwas für die Seele und dazu irgendwas im Fernsehen. Nicht denken. Ich setze mich mit Steak und Pommes vor den Fernseher. Ich fühle mich gut. Später nochmal Tee, nur um sicher zu gehen. Wenn es mir besser geht, werde ich mit der Flasche Wein bei Ida klingeln und mich entschuldigen. Ich werde ihr sagen, dass ich gerade viel Stress habe, Arbeit und so, und, dass die Ärztin etwas von Ruhe sagte. Sie wird mir glauben. Das tun sie alle.

Mit dem Stechen in den Fingerspitzen kann ich leben. Selbst das Ziehen in der Nierengegend bereitet mir keine Probleme. Der Kühlschrank ist voll. Ich habe vorgesorgt. Seit drei Tagen war ich nicht vor der Tür. Tagsüber öffne ich das Fenster über meinem Bett und lege mich so hin, dass ich nur den Himmel sehe. Ich stelle mir vor, was die anderen machen. Wie sie im Park um die Ecke um den großen Springbrunnen sitzen und Kinder sich darin gegenseitig mit Wasser bespritzen. Die Vögel fliegen über ihre Köpfe hinweg, oder lassen sich in den Bäumen nieder. Auf der Wiese liegen Menschen in kurzen Hosen und Bikinis. Fahrradfahrer schlängeln sich um Kinderwägen herum. Alle sind da draußen. Das ist gut so. Ich öffne das andere Fenster auf der gegenüberliegenden Seite und genieße den Wind. Gleich läuft eine Doku über Kaiserpinguine. Es geht mir ausgezeichnet. Es geht mir so gut, dass ich Angst vor morgen habe. Vor dem Aufwachen.  Alles wird anders sein. Normal würde reichen. Eine gute Mischung. Ausgewogen. Das Wort, das sie immer in der Kaffeewerbung verwenden. Du kannst bei einer guten Mischung nichts falsch machen. Ich trinke Tee. Unterbewusst bereite ich mich auf das Schlimmste vor.

Vor dem Haus blühen Magnolienbäume. Ihr Duft strömt durch das offene Fenster. Ich habe Ida eine Woche nicht gesehen. Ich habe niemanden eine Woche gesehen und ich bilde mir ein, als sei das von Bedeutung. Ida und ich haben kaum mehr als fünf Sätze miteinander gesprochen. Aber ich fühle mich gut. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt. Ich dusche, ziehe mich an, nehme die Weinflasche und gehe die fünf Stockwerke nach oben. Ihre Glocke klingt anders als meine. Kein mechanisches Summen. Eine einladende Abfolge harmonischer Klänge. Ich schelle nochmal, dann schreibe ich etwas auf das Etikett, dahinter ein Herzchen. Ich stelle die Flasche auf die Fußmatte und gehe.

Kaiserpinguine verteilen durch ständigen Positionswechsel ihre Körperwärme gleichmäßig in der Gruppe. Nur so sind sie in der Lage extreme Kälte zu überstehen. Nachts laufen die Wiederholungen von letzter Woche. Ich bin allein. Ich weiß was passiert. Ich konzentriere mich auf meine Atmung. Meine Augen werden schwer. Doch sobald ich einschlafe, schrecke ich auf. Vorzeichen einsetzender Panik. Ich werde wütend. Auf mich, auf die Angst, auf das Leben. Irgendwas ist komisch. Mein Herz schlägt nicht, wie es sollte. Das Stechen in den Fingerspitzen breitet sich in den Armen aus. Das Atmen wird schwerer. Ich darf die Kontrolle nicht verlieren. Es ist mitten in der Nacht. Das bedeutet Krankenhaus. Das bedeutet Notaufnahme und zwölfstündige Beobachtung und der ständige Alarm des Monitors, wenn der Sauerstoffgehalt des Blutes unter hundert fällt. Ich will Ruhe. Beruhige dich. Ich stehe auf und mache Tee, werfe den Kopf in den Nacken und wieder nach vorn. Schüttle die Arme aus. Es heißt die Angst frisst einen auf. Und genau das passiert. Wenn ich jetzt sterbe, finden sie mich bei der Vollstreckung der Räumungsklage. Auf dem Boden liegend. Befallen von Maden und anderem Getier. Die Wärme des Tees beruhigt. Ich schließe die Augen und denke an Ida. Sie lächelt und sitzt mir gegenüber. Wir trinken Wein. Ihre Lippen bewegen sich. Sie hinterlassen einen Abdruck am Rand des Glases.

Ich werde wach und öffne das Fenster. Ein paar Lichter gehen an. Vorhänge werden zur Seite geschoben, Jalousien geöffnet. Ich sehe nach unten. Idas Körper liegt auf dem Gehweg, als hätte ihn jemand wütend aus dem Fenster geworfen. Nach ein paar Minuten, Sirenen. Das Blaulicht ertränkt die Straße. Ich lasse das Fenster geöffnet und lege mich so hin, dass ich nur den Himmel sehen kann.

Fabian Lenthe: Marie

Auf dem Schoß des Mannes, der neben mir sitzt, liegt der nackte Schenkel einer jungen Frau. Der Rest ihres Beines verschwindet zwischen seinen. Mit dem anderen steht sie elegant und sicher. Ihre Absätze haben Bleistiftlänge. Ihr Haar glänzt. Sie lächelt, streicht ihm mit der Hand über den Rücken. Gleich wird es passieren. Sie wird ihm die Wünsche erfüllen, für die er bezahlt hat. Ein Geschäft, nichts weiter. Ich trinke mein Glas aus und sehe mich um. Für einen Moment erliege ich der Illusion, doch ich gehöre nicht hier her. Zuhause schließe ich die Augen. Ich stelle mir Körper vor, Beine, Brüste, Haare, die glänzen. Ich ejakuliere in ein Taschentuch und spüle es die Toilette hinunter.

Ich verschwende die Tage so leichtfertig, wie sie vergehen. Unter der Woche sitze ich im Büro. An den Wochenenden in einem kleinen Café. Wenn es regnet, bleibe ich zuhause. Ich denke noch immer an Marie. Vor allem, wenn ich in dem kleinen Café sitze. Ich bestelle Weißwein und rauche und denke an Marie. Das ist alles.

Als ich den Baumarkt betrete beginne ich zu schwitzen. In den Gängen stehen junge Menschen. Paarweise. Sie müssen sich für ein Tapetenmuster entscheiden, für eine Steh- oder Wandlampe, für klassisches Weiß, oder Farbe. Sie machen Pläne. Für die Zukunft. Sie wirken weder traurig, noch glücklich. Ihr Handeln scheint instinktiv. In ein paar Jahren werden sie sich trennen, oder die erste Rate an die Bank überweisen. Ich tausche all das gegen einen Eimer Wandfarbe und einen lauwarmen Hot-Dog. 

Ich fange von vorne an. Die Wände sind weißer denn je. Die Wohnung, leer. Ich habe mich von allem getrennt, was mir als unnötig erschien. Die Matratze liegt auf dem Boden. Davor ein Stuhl auf dem ein Fernseher steht. Daneben ein Frühstückstischtisch. Ein Teller, ein Glas. Kartons mit Büchern. Die Stimmen aus dem Fernseher hallen durch den Raum. Das Fenster ist geöffnet. Die Nacht, klar. Die Luft, kühl. 

Tom sagt wir treffen uns im Casino. Spielhölle. Der Boden ist dreckig. Zwischen den Rauchschwaden hindurch blitzt und blinkt es. Die Melodien der Spielautomaten ertönen aus allen Richtungen. Ich lasse einen Zwanziger in einen Becher voller Kleingeld wechseln, bestelle mir Bier und setze mich Abseits auf einen freien Stuhl. Ich gewinne, zwei- dreimal, dann habe ich alles verloren. Tom ist verschwunden, oder war nie hier. Das ist fast schon egal. Auf dem Weg nachhause besorge ich mir Bier an der Tankstelle. Marie will nicht dass ich trinke, aber Marie ist nicht hier. Dazu kaufe ich eines der schwitzenden Würstchen, die in einem Warmhaltebehälter neben der Kasse stehen. Sie sehen aus wie alte, nackte Menschen.

Während ich esse überlege ich mich umzubringen. Um zu sterben benötigt man nicht einmal einen guten Grund. Tatsächlich muss man nicht einmal einer tödlichen Krankheit erliegen, ermordet, oder bei einem Unfall ums Leben kommen. Es reicht vollkommen aus, betrunken Fast-Food zu essen.

Manchmal höre ich den Nachbarn zu. Sie sind jung und schön. Liebe. Vielleicht. Marie schlief auf meiner Brust ein. Ihr gefiel wie schnell mein Herz schlug, mir die Schwere ihres Kopfes, der Duft ihrer Haare. Exotische Früchte, oder die Insel, auf der wir vorhatten zu sterben. Das Weiß der Decke frisst mich auf. Es regnet. Ich bleibe zuhause. Höre zu.

Der Qualm der Zigarette steigt in langen, blauen, Fäden nach oben.  Auf dem Balkon war es immer zu windig. Auch bei offenem Fenster. Jetzt sind alle Fenster zu. Ich gehe barfuß auf dem Holzboden von Zimmer zu Zimmer. In jedem hört er sich anders an. Aber nicht mehr so, als würde man auf ihm tanzen. Als wäre er eine Bühne und es würden Pirouetten auf Spitzenschuhen gedreht. Ich habe keine Vorstellung verpasst.

Der Stuhl mir gegenüber ist leer. Ich bestelle Weißwein. Die Bedienung kennt mich. Sie fragt nicht mehr nach Marie. Marie wird hier nicht mehr sitzen. Einmal hatte sich ihr Kleid in einem der Rattanstühle verfangen. Ich wollte nicht, dass es kaputt geht. Heute Morgen sah es nach Regen aus, doch inzwischen ist keine Wolke mehr zu sehen. Das ist gut. Ich rauche. Ich trinke. Marie.

Margit Heumann: Mehr oder weniger zusammen

Unser blauer Planet ist ins Trudeln geraten und gondelt richtungslos durch das All wie ein besoffenes Segelschiff bei Windstärke 12. Eine Welle jagt die nächste noch höhere und droht die Erde in den Abgrund zu reißen. Die ganze Welt sitzt im selben Boot, das Gefahrenpotential steigt mit dem Wasser im lecken Schiff. Doch der Mensch wäre nicht Mensch, ergäbe er sich ideen- und kampflos. Schon greifen die ersten nach Eimern und beginnen zu schöpfen. Ob Eimer die Rettung sind, ist ungewiss, aber alles ist besser als mit Nichtstun mit hundertprozentiger Gewissheit  abzusaufen. Eine Welle der Solidarität erfasst die Menschheit, Allianzen werden geschmiedet, Pakte geschlossen und Teams gebildet, Alt und Jung, Groß und Klein, Reich und Arm helfen zusammen, mit Gefäßen aller Art, vom Kanister bis zum Fingerhut, schöpfen alle Mann/Frau, was das Zeug hält. 

Alle Mann/Frau? 

Nicht alle! 

Einige stehen mit verschränkten Armen da und tun nichts. Sie halten Schöpfen für überflüssig, das Wasser ist von allein hereingeschwappt, es wird auch von allein wieder abfließen. Sie weigern sich, einen Eimer auch nur in die Hand zu nehmen, damit ja kein Härchen ihrer gestylten Frisur gekrümmt wird oder einer der vom Naildesigner dekorierten Fingernägel abbricht. Dabei belächeln sie die schwer Schuftenden und bezeichnen sie als manipulierte Schafe, zum Tragen von Maulkörben verdammt und sogar zum Blöken zu dumm.

Solchen Verweigerern ist der Gemeinsinn (oder nenne es Mitverantwortung oder Nächstenliebe oder Solidarität) abhanden gekommen und ihr Mangel an Loyalität behindert und verschleppt den kollektiven Rettungserfolg – aber davon profitieren, das wollen sie schon, am liebsten erste Reihe fußfrei!

Da geht selbst den Tolerantesten, die da im Schweiße ihres Angesichtes schöpfen und schöpfen, das Messer in der Hosentasche auf und sie finden es nur recht und billig, wenn diese Verräter ein Formular unterschreiben müssen, dass sie im Falle von akuter Ertrinkungsgefahr freiwillig auf jede Art von Rettungsversuch verzichten. 

Zeha Schmidtke: Wildnis

Ein milder Dienstagnachmittag. Auf der schmalen Straße vor dem berankten Ziergartenzaun pickt eine Elster an etwas frisch Überfahrenem.

Hinter dem Zaun ist der Kinderspielplatz heute kaum besucht. Zwei Eltern schaukeln ihr korpulentes Kind mit gemeinsamer Kraft. Eine weitere Mutter hat sich auf die Holzumrandung des Sandkastens gesetzt und beobachtet glücklich seinen Säugling, der im Sand liegt und mit den Ärmchen rudert. 

Zu ihr setzt sich ein drahtiger Fremder und beginnt mit leiser Stimme grußlos dieses Gespräch.  

– Ist das da Ihrer? 

– (zustimmend) Das ist Paul.

– Der kann ja gar nix.

– Wie bitte?

– Liegt im Sand und kann kaum den Kopf oben halten. Erbärmlich.

– Hallo? Er ist gerade mal fünf Monate alt!

– In der Wildnis wär er keine drei Tage alt geworden. 

– Aber sonst geht es Ihnen gut, ja? 

– Sie sollten sich lieber fragen, ob das gut ist, was Sie da tun. Sie erziehen Ihr Kind zu einer Beute!

– Ich pass schon auf, keine Sorge.

– Das Giraffenjunge wird bereits wenige Minuten nach seiner Geburt von seiner Mutter zum Laufen gezwungen. 

– Das kann man doch nicht vergleichen!

– Warum? Sind Sie dümmer als eine Giraffe?

– Werden Sie mal nicht pampig. Es reicht langsam!

– Sehen Sie sich die schwächliche Frucht Ihrer Lenden doch an! Wenn sich ein Raubtier mit offenem Rachen auf ihn stürzen würde, dann könnte er nicht einmal den Kopf heben, um seinen Henker zu betrachten!

– Wissen Sie: Raubtiere sind auf Kinderspielplätzen dann doch eher selten.

– Wie lang will Ihr Kind noch warten? Die Welt wartet nicht auf Ihr Kind! 

– Und Sie sind schon als Löwenbändiger auf die Welt gekommen, oder was?

– Ich war mal genau so wie Ihr kleiner Schwächling da. Aber widrige Umstände haben mich früh auf eigenen Beinen stehen lassen. 

– Tja. Wir haben halt alle unser Schicksal…

– Die Eltern von einem Lastwagen gerissen. Ich musste mich schnell allein behaupten. 

– Das ist traurig. Aber Paul ist trotzdem noch ein Baby! Wenn er in Ihrem Alter ist, dann wird er auch für sich sorgen können.

– So schnell soll aus diesem hilflosen Wurm ein überlebensfähiger Krieger werden? Sind Sie sich da sicher?

– Natürlich bin ich mir da sicher.

– Was glauben Sie: Wie alt bin ich?

– Ist mir doch egal. Mitte, Ende Dreißig. Die Ecke.

– Ich bin auf den Tag genau sieben Jahre und drei Wochen alt.

– Was?

– Ich sagte doch, dass mich die Umstände früh auf eigenen Beinen haben stehen lassen.

– Quatsch.

– Hier mein Geburtsarmbändchen mit dem Datum. Das Einzige, was mir blieb. Wenn Sie Ihrem Sohn einen Gefallen tun wollen, dann stehen Sie jetzt auf und lassen ihn hier zurück. Sonst lernt er es nie.

– Das ist doch gefälscht…

– Sehen Sie! Er isst Sand! Er beginnt bereits, für sich selber zu sorgen! Sie sind es, die ihn bremsen. Gehen Sie! GEHEN SIE!

Lea Schlenker: Der Kaiman

 Der Kaiman

Ich habe die Nachricht aus der Zeitung erfahren. Sie hat es zwar nicht auf die Titelseite geschafft, allerdings war sie auch für Personen, die normalerweise bloß nach den Kreuzworträtseln Ausschau halten, kaum zu übersehen. Fett gedruckt und neben einem anschaulichen Bild aus der Mediendatenbank las ich folgende Schlagzeile:  Aargauer Polizei jagt in Hallwilersee Kaiman. 
Ich war gerade bei meinem morgendlichen Tee, einer entspannenden Mischung aus Alpenkräutern und frischer Kamille. Um diese Nachricht aufnehmen zu können, musste ich allerdings sicherheitshalber meine Tasse absetzen und einmal tief Luft holen. Ein Kaiman im Hallwilersee! Das war schon eine eher ungewöhnliche Nachricht. Ich wuchs nur wenige Dörfer weit entfernt von diesem See auf und während meiner gesamten Kindheit schwamm ich jeden Sommer in diesen Gewässern. Der Gedanke daran, gemeinsam mit einem kleinen Krokodil gebadet zu haben, wäre sicherlich für die meisten Menschen eher erschreckend. Allerdings war dieses Thema für mich aber noch auf eine ganz andere, auf eine persönliche Art und Weise ungewöhnlich.  
Mir ist nämlich vor ungefähr zwei Tagen aufgefallen, dass mein eigener Kaiman spurlos verschwunden ist. Zuerst dachte ich, er hätte lediglich frische Luft schnappen wollen, weil ihm vielleicht die Decke auf den Kopf gefallen ist. Als dann aber Stunde um Stunde verstrich und von ihm nicht die geringste Spur zu sehen war, wurde ich misstrauisch. Etwas war passiert. Ich wusste zwar nicht genau, wie er hätte verschwinden können – habe ich ihm doch nie das Türe öffnen beibringen können. Auch von den Fenstern hielt er sich in der Regel eher fern. Die Nachricht aus der Zeitung ließ bei mir aber wenig Zweifel aufkommen – das wird wohl oder übel mein Haustier in diesem See sein. Die Situation war nun leider etwas ungünstig, da der Besitz dieses Kaimans in einer rechtlichen Grauzone lag. Mir gefällt der Ausdruck illegaler Handel nicht besonders, aber es war mir leider nicht möglich, das Tier auf rechtmäßige Art in meinen Besitz zu bringen. Ich habe viele Freunde verschiedenster Art. Manchen bin ich bis heute noch ein oder zwei Gefallen schuldig.  
Aber darum ging es nicht. Mein Haustier war verschwunden, und ich wollte es wiederhaben. Nachdem ich alle möglichen Optionen abgewogen hatte, rief ich meinen Bruder Lukas an. Er war Journalist bei einer 
renommierten Wirtschaftszeitung, hatte also mit dieser Lokalsensation kaum was am Hut. Ich fragte ihn, ob er am Nachmittag Lust hätte, mit mir an den See zu fahren. Mit dem miefigen Brummen in den Hörer hatte ich in etwa gerechnet. Er mochte die Sonne nicht, auch das Baden lag ihm fern. Seine Definition von einem Traumurlaub bestand darin, jedes Jahr an denselben Ort in dasselbe Haus zu fahren, jenes dann nur zum Lebensmittel einkaufen zu verlassen und dann den ganzen Tag fernzusehen. Wenn es dazu noch zwei Wochen lang regnete, umso besser. Heute war ich aber dummerweise auf ihn angewiesen. Ich hatte kein Auto, konnte selber nicht fahren und für den alle zwei Stunden fahrenden, nicht-klimatisierten Bus fehlten mir die Nerven.
Und tatsächlich konnte ich ihn dazu überreden, mit mir an den See zu fahren. Wieso auch nicht? Die Hitze machte ihm mehr zu schaffen als jedem anderen, den ich kenne. Vermutlich sah er ein, dass ein Sprung ins kalte Nass die einzige Möglichkeit war, sich abzukühlen. 
Wir fuhren also kurz nach drei Uhr nachmittags los. Schon bald erreichten wir den Parkplatz vor dem Strandbad. Die anderen Autos glitzerten in der Sonne wie feurige Metallsärge. Hoffentlich hat auch niemand seinen Hund auf dem Rücksitz vergessen. Manchmal liest man im Sommer auch etwas von Kleinkindern, die in der Hitze auf dem Rücksitz explodieren. Nachdem wir den vermutlich letzten Parkplatz gefunden haben, stiegen wir aus und marschierten Richtung Parkuhr. Ich sah ein junges Mädchen, deren Erdbeereis so schnell südlich tropfte wie die Gletscher im 21. Jahrhundert. Zurück blieb bloß eine zuckergetränkte Waffel. Ich sah Lukas an. Er hatte noch nichts gesagt, seitdem wir losgefahren sind. Er verzog bloß hin und wieder das Gesicht, vielleicht weil er seine Sonnenbrille zuhause vergessen hatte. Er warf Münzen in die Parkuhr und wischte sich dazwischen immer wieder den Schweiß von der Stirn. Ich lächelte ihn an, er kniff aber bloß die Augen zusammen und machte eine Handbewegung Richtung Strandbad. Wir trotteten träge in das Freibad, beim Eintritt wollte man noch einmal je fünf Franken von uns haben. Die Frau an der Kasse sah müde und abgekämpft aus. Ich war ehrlich gesagt froh, wenn kein aufmerksames Personal herumschwirrte, während ich nach meinem Liebling sah. Wobei ich zugeben musste, dass ich mich noch nicht auf einen definitiven Plan festgelegt hatte. Wenn ich ihn sehen und nur kurz fünf Minuten mit ihm allein sein konnte, könnte ich ihn vielleicht dazu überreden, nachhause zu kommen. Wobei ich mir ehrlich gesagt keinen Reim darauf machen konnte, wieso er überhaupt verschwunden ist. Ich dachte, wir hätten es gut miteinander. Wie dem auch sei, Lukas sollte nichts davon erfahren. Der Kaiman mochte es ohnehin nicht so gern, wenn ich in Begleitung kam. Ich habe bisher nur meiner Mutter von ihm erzählt, und sie toleriert die ganze Sache mehr oder weniger, weil ich ihr versprochen habe, dass sie ihn ab und zu mal ausleihen darf, um die Tauben auf ihrem Balkon zu jagen. Aber begeistert war sie nicht, das wusste ich genau.
Wir suchten uns ein halbschattiges Plätzchen irgendwo hinter den Bäumen aus. Lukas legte sich auf das ausgebreitete Badetuch und schloss die Augen. Ich griff in die Tasche, fischte nach der Sonnencreme und verteilte einen Klecks nach dem anderen auf meiner Haut. Danach machte ich das gleiche bei ihm, wobei er weder zustimmte noch protestierte. So langsam wurde ich ziemlich ungeduldig. Hinter dem Vorwand, eine Abkühlung nehmen zu wollen, spazierte ich von den Sonnenanbeterinnen weg ins Ungewisse.  
Ich lief vom Strandbad fort, dem Wasser und dem Ufer entlang. Vermutlich versteckte er sich im Schilf, damit ihn niemand finden konnte.
Ich hörte Vögel kreischen und Kinder laut schreien. Ab und zu rief ich leise nach ihm, und wartete dann wieder. Ich setzte mich auf einen Steg und hoffte, die Sonne würde erst mal nicht so schnell wieder untergehen. Mir war klar, dass ich ihn nicht mehr finden würde, wenn es erst einmal dunkel war. Daher ließ ich den See keine einzige Sekunde lang aus den Augen. Weder Hunger noch Durst noch Langeweile überkam mich. Alles, was ich tat, war der Sonne beim Wandern zusehen und dabei nach dem Kaiman Ausschau zu halten. Grillen zirpten, Vögel zwitscherten, und was Tiere in der Sommerzeit noch sonst so alles an Geräuschen zu bieten hatten. Noch mehr Kinderschreie, ich versank in Gedanken zum Thema Verhütungsmittel. Bis mein Kaiman dann tatsächlich aus dem Wasser auftauchte. Er schwamm auf mich zu und hielt am Seeufer an. 
Kaimi, wieso bist du abgehauen?  wollte ich von ihm wissen.
Das war eine unglaubliche Sache, meinte er verwirrt, du wirst mir diese Geschichte niemals glauben. 
In einer ruhigen, mütterlichen Stimme hielt ich ihn dazu an, mir doch zu erzählen, was genau passiert war. 
Du hast die Tür nicht abgeschlossen, und als deine Mutter geklingelt hat und niemand geöffnet hat, ist sie schnurstracks rein und zu mir ins Bad. Sie bat mich, mit zu ihr zu kommen, da die Tauben auf ihrem Balkon außer Kontrolle waren und der Plastikrabe, den sie aufgestellt hatte, um die Tauben zu verscheuchen, bloß weitere Raben angelockt hatte, die nun bei ihr lebten und ihre Walnüsse stahlen. Ich dachte, ich will nicht unfreundlich erscheinen, und begleitete sie daher zu ihr nach Hause. Allerdings hat sie nicht übertrieben – so viele Tauben wie auf ihrem Balkon habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Ich konnte nicht einmal erkennen, was noch Balkon war und wo die Tauben anfingen. Dementsprechend war ich völlig machtlos. Als ich die Tauben anschrie, sie sollen verschwinden, lachten sie bloß und schissen mir auf den Kopf. Nun war ich auch noch blind, und das einzige, das ich noch mitbekam, war, wie sie mich mit ihren Dinosaurierfüssen packten und über Himmel und Lüfte hinwegtrugen, bis ich mich endlich losreißen konnte und hier im See landete. Allerdings kenne ich den Heimweg nicht mehr. Als ich ein paar Angler fragen wollte, machten die bloß Fotos und rannten weg. Aber es macht nichts, denn es gefällt mir hier. Das Wasser ist tief und die Enten schmecken hervorragend.
Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich ihm helfen wolle, ihn wieder bei mir in der Badewanne platzieren wollte, aber er tauchte bereits wieder runter und verschwand in der Tiefe.  Bevor ich etwas unternehmen konnte, tauchte aber schon wieder Lukas hinter mir auf. Sein Gesicht war rot und verschwitzt. Er trug sein graues T-Shirt und hatte orange klebrige Flecken auf der Brust. Dem Anschein nach wollte er wieder nachhause, ganz im Gegensatz zu meinem Krokodil.
Ich hob bloß meine Schultern, ohne etwas zu sagen. Wenn er sich normalerweise dazu entschieden hat zu gehen, dann nutzte es in der Regel nichts, mit ihm zu diskutieren. Ich stand auf und zog das Kleid über, das er für mich mitgenommen hat. Es war das Kleid, das ich schon lange entsorgen wollte, es war puderrosa und ich sah wie ein Schwein aus darin. Wenn mich mein Kaiman noch sehen könnte, würde er vermutlich denken, ich wäre sein Abendessen und mich fressen.  
 
Einige Tage später lief ich an einer Zoohandlung vorbei. Im Schaufenster stand, man solle sich ein Reptil zutun, das seien Freunde für die Ewigkeit. Darunter ein Foto einer Eidechse, die im Wasser plantschte. Ich war erstaunt über dieses Zusammenspiel von Zufällen und betrat das Geschäft. Hinten im Laden, hinter dem Tresen, konnte ich einen gelangweilt wirkenden Verkäufer erspähen. Vor ihm hinter der Vitrine tummelten sich Eidechsen, Schildkröten, Bartagame und Geckos. Ich marschierte auf ihn zu und erklärte ihm meinen Wunsch. Er kratzte sich am Kopf, sagte ein paar Mal verstehe und griff dann nach einem Katalog. Er zeigte auf ein Bild. Ein so genannter Dornschwanzagame war zu sehen, der allerdings nicht einmal einen Meter groß werden würde. Ich schüttelte den Kopf. Der Haustierfachmann blätterte etwas im Buch und zeigte dann auf ein anderes Tier. Ich seufzte und runzelte die Stirn. 
„Tut mir leid, das ist leider das Einzige, das wir in diese Richtung haben. Wenn Sie möchten, kann ich noch meinen Kollegen rufen, der kennt sich besser aus mit der Haltung von größeren Reptilien.“  
„Ist schon in Ordnung. Trotzdem danke.“  
Die Bartagame hinter der Vitrine starrten mich mit ihren ausdruckslosen Knopfaugen an. Ich fragte mich, ob sie wohl auch lieber ein kleines Krokodil wären. Oder zumindest frei. 
 

Margit Heumann: Freiheit im Wandel

Es war einmal ein kleines Mädchen, das lernte die Freiheit beim Zuhören kennen. Oma, erzähl mir eine Geschichte, und schon durfte es sich in Fantasiewelten tummeln. 

Es war einmal ein Schulkind, das holte sich die Freiheit aus Büchern. Mit einem Buch vor Augen entfernte es sich aus der engen Umgebung, weg von den Hausaufgaben, vom lästigen kleinen Bruder, von der fordernden Mutter, von allen Pflichten. 

Es war einmal ein Mädchen, das wollte nicht immer nur anziehen, was die Mutter nähte, was die anderen trugen. Schließlich hatte der Papa Erbarmen: sie bekam eine Hose, dunkelblau, dreiviertellang, mit roten Kordeln an den geschlitzten Aufschlägen. Diese Hose machte sie zum ersten hosentragenden Mädchen im Dorf – der Inbegriff der Freiheit. 

Es war ein mal ein Teenager, die sah ihre Freiheit darin mit Worten zu provozieren. Sie war gegen alles: Gegen frühe Schlafenszeiten, gegen regelmäßiges Essen, gegen die spießige Wohnungseinrichtung, gegen die Verwandtschaft, gegen die Erwartungen der Mutter, gegen die Ansichten des Vaters, gegen den sonntäglichen Kirchgang. Taten beschränkten sich auf die Mitgliedschaft in einem Europaclub und immer noch auf Hosen zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. 

Es war einmal eine Berufsanfängerin, für die es Freiheit bedeutete, die sichere Arbeitsstelle im Nachbardorf aufzugeben, den Freund zu verlassen und für ein Jahr nach England zu gehen. Der Preis war verdrängtes Heimweh, aber jeder Tag hatte sich gelohnt.

Es war einmal eine Zwanzigjährige, die nahm sich die Freiheit zweierlei Leben zu führen. Es gab das streng geregelte Tagleben im Büro von acht bis 17 Uhr, das ihr Wohnung, Auto und Plattenspieler finanzierte. Es gab das Nachtleben mit Studenten, Künstlern und Dichtern, die nach der Arbeit bei ihr aufschlugen zu gemeinsamem Kochen, Trinken, Rauchen und Diskutieren, was ihr chronischen Schlafmangel brachte.

Es war einmal eine Fünfundzwanzigjährige, der waren zweierlei Leben nicht genug. Sie verfolgte einen neuen Freiheitstraum und heuerte zwei Monaten beim Zirkus an  – und machte die Erfahrung eines anstrengenden und extrem reglementierten Alltags.

Es war einmal eine Familie, die hatten ihre Wunschtochter und wollte noch ein Kind. Um gleichzeitig einem Kind zu helfen, entschied sie sich für eine Adoption, ohne Not und freiwillig. So ganz nebenbei war die Mutter dadurch auch von der Mühsal einer zweiten Schwangerschaft befreit. 

Es war einmal eine selbständige Kleinunternehmerin, die entschloss sich nach dreißig Jahren das Landleben aufzugeben und das Kontrastprogramm Großstadt zu wählen. Dieser Schritt gab ihr die Freiheit einer bisher unterdrückten Leidenschaft zu frönen. 

Es war einmal eine Frau, die hatte wechselvolle Jahre hinter sich und wenn sie einmal gestorben ist, hat sie ihr ganzes Leben immer neue Freiheiten gesucht und gefunden. 

Zeha Schmidtke: Ein Tag vor dem Abend

Ich lief durch die Felder und tollte
und streichelte zart einen Baum 
er rauschte mir zu, dass er’s wollte 
früh morgens und halb noch im Traum 

Dann biss ich mich in fremdes Leben
und liebte und wollte doch fort
wer liebt, muss die Freiheit aufgeben
gebunden an Mensch und an Ort

Wir schworen bis mittags noch Schwüre   
und gaben der Wahrheit dann Laut:
wär besser, wenn ich jetzt führe
ans Meer oder aus meiner Haut. 

Ich ging, kreuz die Stadt, ihre Knoten   
begegne dem Wahn und sei’m Sinn 
sprech mit Lebenden, spreche mit Toten. 
spür, wie müd und wie wach ich doch bin

Der Abend, der Körper braucht Ruhe
Kehre ein, find als Gast einen Platz
warmer Ort und ich öffne die Schuhe
auf dem Schoß schnurrt vom Gastwirt die Katz.

Zartheit, Suche, Flucht und Verwirrung
Bot mein Tag. Als ich von ihm sprach 
zu dir. Sitznachbar. Zufallsbegegnung, 
da fragst du, was ich eigentlich mach.

Denn da war gar nix dabei, was sich rechnet
und man muss auch was tun, was sich trägt
gern gehaltvoll, solang es Gehalt gibt
das dann das, was man schafft, auch belegt
„Komm, ich kauf dir was ab“, lacht und brüllt er
von der Lyrik, da fehlt es ihm eh 
und dann wäre doch alles erfüllter:
seine Ehe und mein Portemonnaie
Einen Tag, nein, nichts halbes, wir tauschen 
Wolkenkuckucks- und Eigenheim ganz
Er wird mit meinen Geistern plauschen
und ich leb einen Tag in Konstanz.

Und da lachen wir beide so traurig
wer ist Abel und wer ist jetzt Kain?
Katze leckt mir die Hand, doch die brauch ich  
Außer: „Zahlen“ fällt mir nichts mehr ein.