Lea Schlenker: Der Bär

Wäre ich lieber
alleine eine Nacht
in einem Wald
mit einem Bären
oder einem Mann?

Aus einem seltsamen Grund
denke ich Sachen wie
einem Bär könnte ich vielleicht noch ausweichen
oder ihn irgendwie besänftigen
ich könnte mich totstellen
oder versuchen
laut zu sprechen und ihn somit einzuschüchtern

Ich denke an Bärenfallen
und Honigfässer
an Winnie Poos Freunde und
dass sie mehr Angst von mir als ich von ihnen hätte
Und dass ich so laut über seine Witze lachen dürfte
wie ich will
ohne dass er sich gleich in mich verliebt

Wäre ich lieber
auf einer einsamen Insel
mit Paddington oder einem Incel
einem gefrässigen Faulpelz oder einem schmierigen Pinsel
Wieso wird mir diese Frage überhaupt gestellt?

Es ist vielleicht weil ich nach einer Lesung
jeweils fleischfressende Pflanzen per Post erhalte
Weil ich die fetten Fische eigenhändig aus dem Meer fische
Oder es ist, weil ich mich manchmal fragen muss ob ich übertreibe
mich dann auf der Toilette verstecke
und ein Bär in meinem Büro
wenigstens irgendwie niedlich wäre

Wäre ich lieber eine Partygängerin
Mit einem Teddybären oder einem Pfefferspray
in der Handtasche?
Wäre ich lieber eine Arbeitnehmerin
Mit Werdegang oder einem Gang zum HR?

Ich denke an Bärenfallen und Honigfässer
Weil sie mir die Illusion von Kontrolle geben
Denn jeder weiss
Dass Bären nicht angreifen
Es sei denn man provoziert sie
Ich Männer gleichzeitig liebe und hasse
und ich nach einem Bärenangriff
niemandem erklären müsste
wieso mein Rock so kurz war

Benjamin Weissinger: HOLZ BALANCE MIT [Estragonmilch] weitere Personen

In einer Klasse wird gefragt, was die jeweiligen Großeltern der Kinder besonders gut kochen oder anders zubereiten können – oder konnten. Als Ira als letzte an die Reihe kommt, fällt ihr nichts ein. Sie hat auch gar keine Großeltern. Da sagt sie halb in ihre Hand: „Estragon Milch“. Die Lehrerin ganz laut: „Was? ESTRAGONMILCH? Das kann ich mir ja garnicht vorstellen.“ Ira wird rot, die Kinder feixen, rufen „wäh“, diese Dinge. Doch die Lehrerin kniet sich zu Ira hin und sagt, dass sie es nicht böse gemeint habe und alles gut sei. Dann macht die Klasse mit etwas anderem weiter.

Als Ira mittags nach ihrem Hause eine Straße entlang geht, findet sie nicht, dass alles gut ist. Ich kann mich schon gar nicht daran erinnern, wenn einmal alles gut war. Und das mit der Milch war nicht die Wahrheit, aber etwas Erfundendes ist besser, als wenn man gar nichts hat. Da geht sie an der geöffneten Tür einer Kneipe vorbei, vor der ein riesiges Fahrrad steht. Innen hört sie einen gehörigen Händel und zersplitternde Holzmöbel. Schließlich kommt, ganz zerzaust, der drei Meter große Zimmersmann herausgewankt. Fast läuft er Ira über den Haufen, die sich vor lauter Staunen nicht rühren kann. „Huch“, brummt er, „pass doch auf, sonst walz ich dich noch platt.“ „Schön und gut, aber was war denn da drinnen los“, fragt Ira forsch. Ein Lächeln, das man nicht sehen kann, huscht über das grimmige Gesicht des Zimmersmanns. „Ach, nur ein kleiner Händel. Alles gut, mein Kind.“ „Ich heiße Ira und es IST NICHT ALLES GUT!“ Der Zimmersmann wird ernst. Nach einer Pause sagt er: „nein.“ Und: „hier, eine Kastanie“. Die Kastanie ist sehr groß, schön glatt und sieht als wie poliert, so wunderschön rotbraun leuchtet sie. „Darfst sie behalten, Ira. Hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Ich muss los.“ Als der Zimmersmann gerade losfahren will, ruft Ira: „du bist doch sicher schon an vielen Orten gewesen.“ Er hält an und dreht sich zu ihr um. „Das will ich meinen.“ „Hast du schon mal Estragon M.. magst du Estragon?“ Der Zimmersmann nickt und Ira lächelt zufrieden.

Die Lehrerin hat sich zuhause Estragonmilch in einem Vergleich der Berge gemacht und befüllt ein HOLZ BALANCE MIT ESTRONG MILCH BEHANG VOLL in der zoterharensik und dort gekordelt in den sportkordelonmmnm. ESTRANK heißt das Gemank. Die Lehrerin denkt, mit dem Experment sei alles gut. Doch manchmal ist auch weniger schon Mut.

Matt S. Bakausky: Megastar

Jeder kennt mich, ich kenne niemanden. Man nennt mich den nächsten Michael Jackson. Ich bin ein Megastar. Überall wo ich hinkomme schreien die Frauen und fallen in Ohnmacht. Aber ich bin sehr schüchtern und bin am Boden geblieben. Manchmal habe ich sogar das Hochstaplersymptom. Dann glaube ich für vier bis fünf Stunden, dass ich ein Niemand bin und nichts zu bieten habe. Ich fühle mich auch oft sehr einsam, gerade unter Menschen, dann ziehe ich mich zurück für ein paar Wochen nach Altenried. In Altenried kennt mich niemand als Megastar und ich kenne jeden. Es ist meine Familie, mein Dorf. Meine Heimat. Die kennen mich noch von früher. Die kennen mich noch als kleiner Hosenscheißer, der für fünf Pfennig Süßigkeiten bei Bäcker Rudi kauft. Da kann ich sein, muss nicht Autogramme schreiben oder Selfies schießen. Alles ist gut. Vor kurzem habe ich mit dem Rauchen aufgehört. Seitdem muss ich öfters husten, als würde sich etwas in mir lösen und ich bin sehr sensibel geworden, als hätte ich eine dünne Haut. Die Gefühle der unerwiderten Liebe und Einsamkeit sind seitdem präsent. Nie hat mich eine Frau wirklich geliebt. Sie lieben nur die Idee mit BIG BAKAUSKY zusammen zu sein, sie genießen die Aufmerksamkeit die das an meiner Seite stehen ihnen gibt. Aber Intimität existiert nicht. Rein-/Raus-Spiel klar, doch da ist keine Liebe. Das macht mich zutiefst traurig und dann kehre ich zurück mit einem alten VW Käfer nach Altenried. Dort begrüßen mich die Menschen als Matze. Matze ist immer noch der kleine Junge von vor 30 Jahren. Matze kann geliebt werden für sich. Wenn ich eines Tages heiraten werde, dann ein Mädchen aus Altenried. Im Haus meiner Eltern mit Garten werde ich die Kinder groß ziehen. Fernab von der falschen großen Jetsetter-Welt. Abgeschirmt von den Fanscharen. Aber jetzt sitze ich erstmal in der Bäckerei von Rudi und trinke einen einfachen Kaffee, mit viel Liebe zubereitet von Rudis Tochter Anneliese. Sie kennt mich schon seit ich mit fünf in den Kindergarten kam. Ich liebe sie, bin jedoch zu schüchtern, sie auf eine Verabredung einzuladen. Habe Angst sie zu verlieren, die Idylle zu zerstören. Da wo mich jeder als Matze kennt, da habe ich eine meganice Zeit und da will ich für immer sein.

Simon Borowiak: Geschlossene II

Sechs Uhr dreißig Morgenrunde.
Setz Dich auf! Geh los! Gesunde!
Lange Gänge,
zähe Gänge,
immer wieder,
volle Länge,
immer wieder
Bett bis Tür,
wo ein Cherub sitzt dafür
und liest Illustrierte.
Elf Uhr dreißig Mittagsrunde.
Seelenkrümmung. Neue Stunde.
Kurze Gänge,
enge Gänge,
tausend Meisen
im Gedränge,
Bett bis Tür
und Tür bis Klo,
laut bis Krach
und Mensch bis Zoo.
Einer muss mal kreischen.
Sechs Uhr dreißig Abendrunde.
Pharmaka in aller Munde.
Dunkle Gänge,
schwarze Gänge,
immer wieder,
volle Länge,
Finsternis und Fehlbelichtung,
Einsamkeit und Selbstvernichtung,
leider stirbt man nicht im Schlaf.

Harald Kappel: Murmeln

Beim Betreten des Saales
trinken wir Sand
aus riesigen Urnen
bis sich die Zeit bewegt
schreitend
ziehen schwindelnde Gemälde vorbei
wir überqueren eine dunkle Schwelle
auf der andren Seite
Fische und Schalentiere
schwarz wie Blei
im öden Raum
auf dem Plakat
hinter dem Vorhang
suchen sie verlassene Muscheln
die Anderen nicken fremd
ich weiß nichts davon
atme graue Luft
kein Erklären
bin allein
in dieser taubstummen Welt
regiert das Schweigen
rauschen Murmeln vorbei
klickern die Leere ein
mit Augenschuss
am Wetzelloch
sammeln sich die stillen Stimmen
der einsamen Nacht
und machen mir Angst
auf dem Plakat
im öden Raum
suchen sie
mich

blumenleere: kawumm!

o, du groeszenwahnsinniges praefix, mega, das du – im wahrsten
sinne der worte mir nichts, dir nichts – aus eh schon gewaltigem
schier unermessliches machst!, ja, wir wollen deutlich mehr von dir,
wenn wir heraus, aus unseren ganz persoenlichen einsamkeiten –
den dilettantisch wabernden ausbeulungen uns kategorisch eigener
mickrigkeit – bewundernd dein ueberdimensionales vielleicht blosz
pseudo-dasein konstatieren, als gegenpol zu der – ach wir oeden
bloeden ereigniskonsumenten, denen wir kaum tatsaechliche
mitspracherechte zugestehen koennen – uns zugewiesenen
nichtigen randexistenz: denn egal, wie & wo wir es auch drehen &
wenden – liebe erde, die du uns notduerftig nur ertraegt –, du bist,
was wir nie sind & ebenso wenig je sein werden, unabhaengig der
behauptungen infantiler rauschpersonen, zumindest solange wir die
wirr verstreuten einzelteile des gesamtmenschen betrachten, doch –
masse! – in idiotie vereint vielleicht halt doch!

Christian Knieps: Die megamoderne Gesellschaft

Die deutsche Sprache ist eine der kombinationsreichsten der Welt und lässt Wörter erschaffen, die mühelos selbst bei Schriftgrad 4 noch ein Trennzeichen benötigen. Doch aktuell muss diese Sprache einen Trend, einen sogenannten Megatrend managen, der bei beschleunigter Weltgeschwindigkeit kaum noch mit den Regeln der Sprache abzubilden ist. Wo früher der Komparativ das probate Mittel des Vergleichs und der Superlativ bei den meisten normalen Menschen verpönt war, so fühlt es sich in der heutigen Welt des Megapopulismus’ an, als würden nur noch Schnarchnasen und Ewiggestrige den Superlativ nutzen. Der neue Standard scheint der Megalativ, obwohl es nach dem Superlativ sprachtechnisch keine weitere Steigerung mehr geben dürfte. Aber wie schon seinerseits Spaceballs mit sprachpräziser Übersetzungsgenauigkeit nachwies, dass es nach der Lichtgeschwindigkeit auch noch eine lächerliche und wahnsinnige Geschwindigkeit gibt, so gibt es heute nicht nur den Besten (also der Beste unter allen, die verglichen werden), sondern auch noch den Allerbesten. Was ist das dann? Es muss der neue Megalativ sein, der in einer Zeit des Megapopulismus’ eine Megagesellschaft erschafft! Wie fühlt es sich an, nicht mehr in einer Gesellschaft von Spießern zu leben oder im Bauchnabel des Mittelstandbauchs das eigene Kleinreich zu regieren, sondern in einer megaintensiven Zeit megatolle Megaereignisse zu erleben? Kein Wunder, dass sich wieder viele Menschen dem ruralen Leben zuwenden – dem megaruralen, versteht sich!
Doch es bedrängt uns noch mehr, denn wer glaubt schon, dass der Megalativ das Ende der Megafahne sein wird? Scooter hat den Hypermode schon angekündigt, und der Hyperlativ steht bereits in den Hyperstartlöchern. Das Leben und die Sprachen werden sich in eine Hyperlapse entwickeln, wenn das auf social media nicht bereits passiert – ein Jugendlicher mit dem eher unbekannten Gefühl der Langeweile ist ein Megatrottel, der den Sprung in den Hyperraum des Lebens verpasst – oder grenzt der junge Mensch nicht schon am Status des Hypertrottels? Da wagt man sich fast nicht, noch weiter vorauszublicken, denn wer weiß schon so genau, ob wir sprachlich nicht auch ein Futur Quadrat brauchen, um die abzusehende Ultrazeit mit ihren Ultralativen adäquat beschreiben zu können? Dabei könnte das Futur Quadrat die Möglichkeit in der Zukunft beschreiben, dass die abgeschlossene Entwicklung hyperrealistisch und hypermodern sein wird. Der Ultramensch mit seinen ultraschnellen Gedanken wird von einer ultrakontrollierenden Künstlichen Intelligenz ultraistisch vorgehen: alle Sprache wird technisch, Binärcodes, obwohl zugleich ultradämlich und ultraintelligent, aber vor allem ultraresilient, zerstören den letzten Rest der Mega- und Hyperzeit und verhindern mit ihrer Ultrakontrolle ein weiteres Ausscheren aus der Ultrasprache. Dann ist schon so etwas wie Game over angesagt, immerhin konnte auch Tetris zerspielt werden! Und von wem? Einem, der sicherlich in der Hyper-, wohl aber auch noch in der Ultrazeit leben wird.
Wer diese Gedanken für Schwachsinn oder groben Unfug hält, sozusagen groben Schwachfug, dem kann man nur eine megaintesive Hyperultraanalyse der eigenen Sprache empfehlen. Na?! Wie weit ist es denn noch? Aller-, aller-, allerhöchstens? Megaerschreckend, nicht wahr?

Harald Kappel: Mega Hoffnung

Am großen Schwarzen Flügel
ein kranker Junge
Hörner im Gesicht
blass von Lebertran
und Ratschlägen
er hört
Trommeln schlagen
ein schwebendes Konzert
im ächzenden Dunkel
ein phonographisches Gespiel
auf der Fieberstirn
treibende Wolken
ein Schwall von Hilferufen
ein Verband am blutigen Auge
links
die Zunge balsamiert
so still seit Beginn der Zeit
rechts
ohne Blick
ein konkaves Brillenglas
ein sonderbares Instrument
es schallt Schritte
ein Mann
oder
eine Frau
weiden sich aus
entsetzlicher Applaus brandet
die Trommeln sabbern
der Junge spielt blind
den Schwarzen Flügel
mitten im Stück
entzündet die Haut
sie juckt und nässt
das Elfenbein zerblutet
aber der Junge spielt blind
eine epileptische Melodie
schön
das muss man ihm lassen
sehr schön
und hofft
auf einen Traum