Jörg Hilse: Das Monster

Am Bettgestell knackte irgend so ein Teil. Tobias fuhr hoch und sah auf die Uhr. Mist, in fünf Minuten fing die Gruppentherapie bei Frau Stein an. Das verdammte Tavor machte einen ganz malle, mit hektischen Bewegungen tauschte er die Jogginghose gegen seine schwarzen Jeans. Wenigstens der Themenhefter lag schon griffbereit auf dem Tisch. Nichts war für ihn schlimmer als zu spät zu kommen. Hastig lief er über den Flur und klopfte an die Tür vom Fernsehraum. Frau Stein machte auf, die Stühle standen wie bei Gruppentherapien üblich, im Kreis. Er setzte sich und André sein Zimmernachbar, reichte ein Blatt Papier herüber. Es handelte sich um zwei sonderbare Zeichnungen, direkt übereinander. Oben kam ein Wanderer an eine Weggabelung, linker Hand führte ein Pfad direkt zum Strand, traumhaft wie eine Südseeinsel. Doch davor stand ein Monster, eine wild zähnefletschende Mischung aus Grizzlybär und Riesengorilla. Rechts kam man an dem Vieh vorbei, aber der Weg führte durch ein weites Tal ins Gebirge über dem ein Unwetter niederging. Auf dem unteren Bild hatte das Monster nur noch die Größe eines Schimpansen und hockte frustriert auf einer Art Handwagen. Und unser Wanderer zog mit zuversichtlicher Miene den Wagen hinter sich her zum Strand.
Toby mochte das untere Bild nicht.
Das Ding sah aus wie eins dieser oberschlauen Spruchbilder bei Facebook.
Sein eigenes Monster, das waren die Leute, die zu ihm sagten, der passt nicht, den wollen wir hier nicht. Jeder Versuch Anerkennung zu finden, es allen recht zu machen, scheiterte. Und das Monster in ihm wurde größer und größer. Er merkte auch das es sich nicht zähmen ließ, man konnte es nur killen. Hemingway und Virginia Woolf hatten ihre Monster gekillt. Doch verlor er jedes Mal den Mut, wenn er zum Gleis ging und ein Zug ganz nah heran raste. Seine Hausärztin gab ihm eine Überweisung für die Klinik. „ Möchte jemand zu den Bildern etwas sagen ?“ fragte Frau Stein in die Runde. Alle schwiegen, als ob Sie darauf warteten das Tobias den Anfang machte. Neben ihm saß eine neue Patientin, und schaute, eigenen Gedanken nachhängend zu Boden. „ Ja“ begann Toby „ gibt’s sowas wie ne Bauanleitung für den Handwagen da? Die könnte ich gut gebrauchen.“ „ Genau das möchten wir ihnen hier an die Hand geben.“ sagte Frau Stein am Ende der Stunde . „ Einen Weg wie Sie mit ihrer Erkrankung umgehen können. Dafür steht der Handwagen.“
Nach dem Abendbrot las Tobias noch etwas, sah nach der Spülmaschine und ging noch mal raus. Um diese Zeit saßen immer ein paar Patienten auf der Terrasse im Innenhof und genossen die Abendsonne. Toby grüsste im Vorbeigehen. Er blieb ganz gern für sich. Plötzlich stand jemand neben ihm. Es war die Neue aus der Gruppentherapie vom Nachmittag. Sie trug ein T Shirt und ihre nackten Arme waren übersäht mit langen hellen Kratzern . Ein dunkelroter Streifen lief quer über den Unterarm, die Wunde sah frisch aus. „Magst Du zu uns rüber kommen“ fragte Sie. Tobias wusste nicht ganz wie ihm geschah. Ein Mädchen, in deren Augen er wahrscheinlich ein alten Mann war, lud ihn ein mit ihr und den Anderen zu quatschen. Kaum , saß er neben ihr kamen Hanna und Viktoria, beide von der 93/2, auf die Terrasse. Hallo Svenja, sagte Hanna und setzte sich neben Sie. Vicki will mir ein bisschen die Haare schneiden. Magst Du auch? Muss nicht, aber danke sagte Svenja und drehte sich eine Zigarette. Toby erfuhr das Sie von der 93/3 kam. Der Abend war besser als jede Therapiestunde. Hier sprach man aus, was man woanders lieber verschwieg. Toby blieb bis halb Zehn und ging dann mit einem nie gekannten Gefühl schlafen. Er war Dingen nachgerannt, hatte immer versucht irgendwo dazuzugehören. Hier gehörte er einfach dazu.
Einen Abend später, Svenja telefonierte und dabei kam irgend was in ihr hoch. Sie weinte. Man sah das oft hier. Toby wünschte sich manchmal, er könnte es. Aber in dieser Armee der Traurigen lernte man eins. Achtsamkeit, für sich und den Anderen. Dani war grossartig. Obwohl Sie oft selbst mit sich kämpfte saß Sie neben Svenja und hielt ihre Hand. Die legte den Kopf an Dani’s Schulter während immer noch Tränen über ihr Gesicht liefen. Später beruhigte Sie sich und um sie auf andere Gedanken zu bringen fragte Toby: „Sag mal Svenja, was hast Du eigentlich früher ganz gern gemacht.“ „ Du meinst, bevor ich mich geritzt hab“ gab Sie zurück. „Ja, davor.“
„Tja, ich bin ganz gern Skateboard gefahren.“
Immer Freitags fand die Visite mit dem ganzen Ärzteteam statt. Am Ende des Gesprächs sagte Dr. Grimm. „ Hier drin scheint es ihnen ja langsam besser zu gehen. Aber wir würden gerne wissen wie es so draußen für Sie ist.“ Toby überlegte, während der Arzt weitersprach. „ Wie wäre es wenn Sie diesmal das ganze Wochenende zu Hause verbringen statt nur einen Tag. Und am Montag reden wir, wie es denn so war.“ „ Einverstanden“ sagte Tobias. „ Gut, wann ist die letzte Gruppentherapie heute?“ „ Um 14 Uhr bei mir“ antwortete ihm Frau Lamprecht. „ Wunderbar, danach können Sie nach Hause fahren und das sogar vor uns“ scherzte der Doktor und wünschte ein schönes Wochenende. Etwa gegen drei stand Tobias an der Haltestelle nahm aber prompt die falsche Straßenbahn, weil die Anzeige wieder mal nicht richtig funktionierte. In Flussnähe stieg er aus. Toby lief über die Brücke und setzte sich ans Ufer. Zwei Skateboard Fahrer rollten vorbei. Tobias fiel auf das ihre Bretter etwas länger als normal waren und musste dann an Svenja denken. Abends saß er dann ziemlich lange vor dem Fernseher. Es lief noch eine Talkshow.„ Wir begrüßen einen Mann“ kündigte der Moderator seinen Gast an „der eine Trendsportart aus den USA zu einer in Deutschland gemacht hat. Herzlich willkommen, Eberhard „ Cäsar“ Kaiser.“ Der Name sagte Toby irgendwas. Die Cäsar Skateboard Läden, gab es in jeder großen Stadt. Für Tobias eine fremde Welt. Aber irgendwie steckte ihn das Charisma dieses Mannes in seinem Hoodie und der Wollmütze an. Er sprach über Begeisterung, innere Motivation, Hinfallen und wieder Aufstehen. All das, was einem die Therapeuten mit großer Mühe auch begreiflich zu machen versuchten. Nur viel überzeugender. „ Was haben Sie uns da mitgebracht.“ fragte der Moderator und zeigte auf ein längliches Rollbrett. Toby erinnerte das Gefährt ein bisschen an heute Nachmittag „ Das ist ein Longboard“ sagte sein Talkgast „ damit fahre ich morgens meine Brötchen holen. Die Kunst ist übrigens, auf dem Rückweg die Brötchentüte nicht zu verlieren“
Tobias nahm sein Tablet und fand bei YouTube jede Menge Clips übers Longboarden, auch auf Deutsch. Am Samstagmorgen stand er in der Cäsar Filiale. „Hi, was brauchst Du.“ fragte die junge Verkäuferin in lockerem Ton. „ Äh, so’n Longboard, am besten eins, äh“ Tobias guckte verlegen „ ich wills halt erst lernen“ „ Ja am Besten ist da eins wo die Achsen durchgesteckt sind. Man steht tiefer und fühlt sich sicherer .“ Sie nahm eins der Bretter aus dem Ständer. Hier, steig mal drauf ob für Dich die Breite stimmt“ Es war eine wackelige Angelegenheit, das erste Mal auf so einem Ding zu stehen. Aber Toby blieb zuversichtlich. Denn Skaten würde für ihn immer eine gute Erinnerung sein. An seinen Weg zurück ins Leben und an alle die ihn mit ihm gingen. Besonders aber an Dani und Svenja.
Dazu kam noch etwas Anderes.
So ein Board war der Wagen, auf dem sein inneres Monster keinen Platz hatte, groß zu werden.

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