Miriam Gil: Regenbogencocktails oder: Der Durst nach Salzwasser

Lange Zeit wusste er nie genau wann er geboren worden war. Seine Papiere hatte er bekommen als er beinahe schon erwachsen gewesen war und in Gambia wurde man früher erwachsen als in den europäischen Ländern.

Wenn er sein Passbild auf dem Ausweis im Tageslicht schwenkte, dann schillerte das Hologramm in den schönsten Farben des Regenbogens.

Mamudu war 23 Jahre alt und war alleine auf das Boot gestiegen, seine Mutter hatte ihm noch viel Glück gewünscht und hatte beinahe geweint aber nur beinahe.

„Nicht!“

Er spürte eine Hand auf seinem linken Oberschenkel, hörte aber nicht auf seine Blase über den Schlauchbootrand hinweg direkt in das offene Meer hinein zu entleeren.

Sanfte Wellen mit vom Urin gelblich gefärbten Kronen aus Meeresschaum schwappten auf die am Boden kauernde jungen Männer in verblichenen Baumwoll T-Shirts in den vielfältigsten Farben und zerschlissenen Shorts.

Mamudus Sandalen hatten eine rutschige Sohle, der abgetretene Gummi rutschte nun nervös auf dem nassen Holzbrett neben dem Treibstoffkanister auf und ab, trommelte an die mit Rissen versehene Bootswand.

„Nicht!“

äffte er den Kerl nach, der noch immer seine Hand in Mamudus Richtung erhob. „Was willst du von mir?“ dachte er und blickte auf die Salzflecken auf seinen Shorts. Weiße Ringe die langsam in der gellenden Sonne zu Pulver vertrocknen. Ein ungenießbares Kokain aus den Tiefen der Meere.

Er hatte vier jüngere Geschwister davon eine Schwester. Es gab ungefähr dreihundert Meter von der Flüchtlingseinrichtung einen Spätkauf für Tabakwaren und Kaltgetränke. Spätkauf bedeutet auch Öffnungszeiten bis in den Abend hinein. Vor dem Eingang standen zwei Bänke und ein kaputter Sessel. Die LED-Lichterkette wechselte blinkend die Farben des Regenbogens und das Radio im Hintergrund verströmte poppige Rocksongs, Verkehrsmeldungen und Hits der jeweiligen Festivalsaison. Jedoch war die Musik immer leise, Nachbarn hatten sich zwei Mal beim Ordnungsamt beschwert. Die Anwohner hatten sich auch schon beschwert als entschieden worden war dass die alte Bürosiedlung hinter dem Schwimmbad zu einer Unterkunft für Personen mit Fluchthintergrund aus allen Herren Länder werden sollte. Das wussten die Neuankömmlinge meistens nicht da sie die Schrift auf den Schildern der Demonstranten nicht entziffern konnten. Außerdem hatte der Demonstrationszug seinen Auftritt in Regionalzeitung und Lokalradio bevor die ersten Familien vom Düsseldorfer Hauptbahnhof im Camp nach einem zusätzlichen besonders für die Kinder beschwerlichen Fußmarsch von der Bushaltestelle angekommen waren. Angekommen. Willkommen. Jedenfalls von der Bürgerinitiative für mehr Vielfalt in der das Ehepaar Kraus sogar einen Deutsch Konversationskurs mit Kinderbetreuung anbietet. Im kleinen Saal des Braukellers an jedem dritten Donnerstag im Monat. Die Kleinstadt hatte ihre eigene kleine Bierproduktion. Bei den Veranstaltungen mit den ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern gab es nur Apfelsaftschorle und Kräutertee. Mamudu hatte allerdings den Deutschlehrer bereits in der örtlichen Kneipe  Bier trinken gesehen. Seine Frau hatte eine Karaffe mit rotem Wein vor sich stehen gehabt. In Düsseldorf hatte er auch Jugendliche mit alkoholischen Getränken am Bahnhof gesehen. Mamudu selbst hatte das erste Mal getrunken als er längst erwachsen gewesen war nämlich mit 19 Jahren auf einer großen Feier seines Onkels. Es gab ein paar Flaschen Bier und Whisky mit Eiswürfeln und Coca Cola. Der Whisky brannte die Kehlen der jungen Männer um ihn herab wie die tiefroten Chilischoten im Garten seiner alten Tante. Die Flüssigkeit glänzte bernsteinfarben in der Flasche mit dem goldenen Etikett. Urin wurde auch dunkler je länger er im Körper verweilte. Nach drei Tagen schimmerte die Pisse bernsteinfarben in den Sprite Flaschen der Bootsflüchtlinge und schmeckte salzig, aber gerade noch nicht so salzig wie das klare Meerwasser welches bedrohlich mehrere Zentimeter hoch im Boot stand. Und gerade noch nicht so salzig wie der Schweiß auf den Stirnen der Elendsgestalten auf offener See.

Wenn Mamudu die Augen schloss in der brütenden Hitze dann schimmerte das Wasser neben dem Treibstoffkanister wie ein Regenbogen am Horizont nach der Regenzeit. Regen. Wie süß kann dieser eigentlich schmecken sieht man sich umgeben in einem Grab aus Salzwasser wie es nur der Hälfte der Fische eine Heimat bietet. Er hatte in der Heimat das Schwimmen nie richtig gelernt da der Ozean als gefährlich und unberechenbar galt. Nur erfahrene Fischer machten sich regelmäßig vor Sonnenaufgang auf in das schwarze Meer ohne Boden hinauszufahren und die Kinder jubelten jeden Mittag bei deren Rückkehr mit halbgefüllten mehrfach geflickten Netzen aus Nylonfaser.

Wahrscheinlich konnten die anderen Bootsinsassen genau so wenig Schwimmen wie Mamudu der ohne Gepäck eingestiegen war. Der Durst nach Salzwasser war so groß. Dieser Durst war eine Folter unter dem Sternenhimmel ohne Ränder und Ende. Nur wenige Tropfen Süßwasser sammelten sich jeden frühen Morgen auf der Reling des bunten Bootes. Gerade so viel um seine salzigen und trockenen Lippen zu benetzen und für einen Moment zu vergessen, dass dies weiße Kristall den Kampf gegen die nach Erfrischung flehenden Adern längst gewonnen hatte.

In Deutschland tranken die Kinder. Er hatte sie gesehen. Sie tranken Limonade mit Alkohol, der einem in den Kopf stieg. Einmal war ihm schlecht geworden. Vom Bier.

Auf dem Boot war ihm auch schlecht gewesen. Die Leute übergaben sich auf das raue Meer. Der Geschmack von Magensaft begleitete ihn auf dem Weg über das Mittelmeer, auf dem Weg über dieses unendlich tiefe und weite Massengrab.

Einmal hatte er Weißwein probiert, dessen Säure ihn sofort an diesen Geschmack erinnerte, der nicht besser wurde trocknete einem langsam der Mund aus vor Durst.

Er ekelte ihn. Rotwein ging besser. Es gab ihn süß in großen Literflaschen neben den Monatsangeboten. Wenn er sich mit Freunden auf einer Parkbank traf nahm Mamudu eigentlich immer zwei Flaschen Wein oder ein paar Bierdosen mit. Er mochte das Gefühl nach den ersten beiden Dosen, oder der ersten halben Flasche Wein wenn alles ein wenig lustiger wurde. Die Gespräche mit den Bekannten wurden laut und komisch, wenn man ein wenig einen sitzen hatte und am wichtigsten war, dass man nicht mehr an die Mutter und  Geschwister in der Ferne dachte. Schmecken aber tat er ihm nicht, der Alkohol. In eigentlich keiner Form. Der Spätkauf hatte auch bunte Gummischlangen und Brausekugeln, Kaugummis und Lakritzstangen vor den Tabakwaren und den Getränken und manchmal zögerte Mamudu beim Kauf einer dritten Flasche Wein und war stark versucht eben solch Süßigkeiten zu kaufen statt der grünen Glasflasche. Schokolade war auch fein. Der Alkohol aber brannte, schmeckte nach Magensäure oder war so süß, dass man ihn in winzigen Schlucken trinken musste wollte man nicht heimlich würgen.

Es kostete Überwindung alkoholische Getränke zu sich zu nehmen. Willenskraft. Es war ein Kampf gegen seine eigenen Geschmacksnerven aber diese gewisse Leichtigkeit, welche sich nach den ersten kühlen Schlucken einstellte überwog an Wichtigkeit und Dringlichkeit.

Auch wenn man fast am Verdursten ist muss man langsam trinken.

In winzigen Schlucken kriecht der giftige Regenbogen in deinen Schlund wenn du neben dem gekenterten Boot aus bunten Leitplanken schwimmst. Es ist ein stiller Tod man wird erst ohnmächtig und entgleitet dann langsam und lautlos in die Tiefen des Meeres.

Nur in den Matrosenfilmen aus den 1950er Jahren wird ein solcher Tod majestätisch von kreisenden Möwen begleitet, in Wahrheit sinkt man auf den Grund ohne dass es jemand mitbekommen würde. Die zivile Seenotrettung berichtete dann über solche Todesfälle, aber den Rest der Welt interessierten die Leichen auf dem Grund des Mittelmeeres nicht.

Mamudu war nicht gekentert. Er hatte es geschafft.

Manchmal, wenn er spät am Abend heim kam dann wankte er wie ein Seekranker auf rutschigem Deck. Er war aber noch nie gestürzt.

Eines Abends saß er in einer der wenigen tropischen Nächte alleine auf der Parkbank und trank eine Flasche Rotwein, da schimmerte der Wein in der Abendsonne tiefrot wie Blut. In seiner Heimat alleine war die Sonne so tiefrot am Horizont zu sehen und zwar in den langen und heißen Sommermonaten. Er trank und trank und während er trank schloss er die Augen wie so oft und sah sich in den Armen seiner guten Mutter. Er hatte es geschafft. Und er wollte es schaffen. Er hatte kein Geld. Für den Alkohol reichte es.

Rausch nach Leben. Leben für ein bisschen Rausch.

Und als er so dasaß und in den Himmel blickte verspürte er einen unbändigen Durst nach Salzwasser. Er fühlte sich auf einmal einsam und verlassen, spürte seine müden Knochen und den verspannten Rücken, die Müdigkeit hatte sich angesammelt in den letzten Wochen der Schlaflosigkeit. Deutschland war ein kaltes Land. Viele lange Monate war es bitterkalt und dunkel. Auch die Menschen begegneten ihm eher kalt. Er hatte nur wenige Leidensgenossen kennengelernt, mit welchen er die Freizeit verbrachte. Die Freizeit überwiegte, er hatte ja noch keine Arbeit und wenn er durch die Kleinstadt mit dem Fahrrad fuhr begleiteten ihn neugierige, aber nicht besonders freundliche Blicke.

Das nächste Mal wollte er sich eine bunte Brausekugel kaufen und sie langsam im Mund zergehen lassen. Und es fing an zu regnen und als der Schauer vorüber war ging Mamudu unter einem Regenbogen, der schimmerte wie ein Ölfilm auf Salzwasser unter der brennenden afrikanischen Sonne.

Er war erwachsen und er wollte es schaffen.

Susanne Stiegeler: Salazar

Einmal- ich war schon erwachsen, studierte in Nürnberg, und war in Augsburg bei Mama zu Besuch, entbrannte ein heftiger Streit um Salazar, den portugiesischen Diktator.

Mama saß da und begann enthusiastisch  zu erklären: „Salazar war ein guter Diktator! Damals war es Mode, Diktator zu sein. Alle waren Diktatoren: Hitler, Franco, usw.! Sie alle waren schrecklich. Aber Salazar war gut. Er ist der einzige Diktator, der arm war, und sein Land reich hinterlassen hat. Sein einziger Fehler war, dass er zu lang an der Regierung geblieben ist! Ich selbst habe ihm einmal einen Brief geschrieben, und ihn kritisiert. Und er hat mich nicht ins Gefängnis gesteckt, sondern mit der Hand (!) zurückgeschrieben, stellt Dir vor.“ Ich widersprach natürlich vehement, daraufhin wurde sie noch engagierter in ihrer Argumentation, Lautstärke, Gestik und rief: „Er war lieb! Er hat seinen schlimmsten Feind, der Chef der ‚Kommjunischtenpartei‘ studieren lassen! Mit zwei Wachleuten links und rechts durfte er jeden Tag zur Uni gehen! Welcher Diktator hat so etwas gemacht?“

Auch hier fragte ich nach, zweifelte an, wurde ebenfalls etwas aufgeregter, stellte diese durchweg positive Ansicht in Frage und so entbrannte ein fürchterlicher Streit, an dessen Ende wir uns erbittert und verzweifelt anschrieen. Am Ende gingen wir weinend und erschöpft ins Bett.

Ich weiß noch, dass ich mir damals dachte, dass ich Salazar nun schon allein aufgrund der Tatsache verabscheute, dass er der Auslöser für einen solchen Streit war.

Susanne Stiegeler: Fit for Life 1 und 2

Irgendwann las die Mamili ein folgenreiches Buch mit dem Titel „Fit for life 1“. In diesem Buch wurde empfohlen, bis 12 Uhr nichts als Obst zu sich zu nehmen. Das wäre in vielerlei Hinsicht ‚zehr!‘ gesund, da es vor Mangelerscheinungen, Krankheiten, Fettleibigkeit und Antriebslosigkeit schützen würde. Das bedeutete, dass wir einige Wochen tatsächlich nur Obst bekamen bis Mittag.

Kurz darauf erschien das Nachfolgerbuch, „Fit for life 2“, in dem der Autor sonderbarerweise vom Obstgebot abrückte und nun den ausschließlichen Verzehr gekochter Kartoffeln bis zur Mittagszeit empfahl. Auch diese Diät wurde sofort in die Tat umgesetzt: Plötzlich standen Kartoffeln auf unserem Frühstückstisch und Mama sinnierte darüber, dass das gar nicht so schlecht schmecken würde.

Ich befürchtete immer das Aufkommen eines dritten Bandes – und was dieser dann von uns abverlangen könnte. Glücklicherweise wurde nie einer herausgegeben.

Immanuel Reinschlüssel: FaKotäne

Man nimmt sich vor all das zu tun, wofür man sonst keine Zeit hat. Die alten Platten mal wieder anhören, Bücher lesen, den gottverdammten Roman endlich schreiben, Spanisch lernen. Und dann wacht man auf, schleppt sich vom Bett zum Sofa, weiß nicht, wie spät es eigentlich ist und welcher Wochentag gerade vergammelt werden muss – und klickt ohne Ziel durch das endlose Angebot von Netflix, das plötzlich gar nicht mehr so unendlich erscheint. Die Entmystifizierung dieser unendlichen Weiten dauerte genau 45 Tage. Die Fenster sind verdreckt, die Frühlingssonne zeichnet jede einzelne Schliere mit größter Sorgfalt nach. „Morgen werden die Fenster geputzt.“, sagt man sich. Ja klar. 

Da sowohl Wochentage als auch Tageszeiten keine Rolle mehr spielen, wird getrunken. Und zwar sehr viel früher, als man es irgendjemandem erzählen wird. Aber niemand wird spontan anrufen oder vorbeikommen, man muss nicht ohne Vorwarnung zu einem Treffen oder einem Termin erscheinen, also kann man sich genauso gut dem dämpfendherrlichen Gefühl des leichten Seiers hingeben, der fließend in einen amtlichen Suff übergeht und das schlechte Gewissen über all die ungelesenen Bücher und ungehörten Alben, den gottverdammten Roman, Spanisch und den Rest der Welt gleich mitschwemmt. All die halbleeren Flaschen mit Fusel, die von vergangenen Feiern übriggeblieben sind und auf den Schränken verstauben – jetzt schlägt ihre große Stunde, hier ist ihr Auftritt. Bühne frei für den 4,99 Gin aus dem Aldi, Vorhang auf für Wein im Tetrapak, Spot auf den Kopfweh-Bourbon, füllt die Gläser mit Fanta-Korn.  

Je ähnlicher sich die Tage werden, desto undeutlicher erscheinen die Erinnerungen an das „davor“. Hat man einen Job? 

Hat man eine Freundin irgendwo? 
Leben die Eltern eigentlich noch? 
Wie heißt man eigentlich? 

Irgendwann muss man diese Informationen wieder zusammensammeln, sie erscheinen wichtig. Aber nicht jetzt, jetzt ist der FaKo an der Reihe, mit Fanta geht einfach alles und mit etwas Übung geht auch alles runter. Hardcore-Workout für Leber und Gedärme, ein staatlich finanziertes Säufertrainingslager, bei diesen geistreichen Gedanken fängt man an zu lachen. Richtig zu lachen, aus voller Kehle, lang und anhaltend, ein Lachen geboren in Langeweile und Fanta-Korn. Nachdem man sich beruhigt hat merkt man, dass dies der erste Laut war, den man seit Wochen von sich gegeben hat. Das beunruhigt. Man öffnet den Mund, kommt sich dumm dabei vor aber macht es trotzdem, man öffnet den Mund und sagt einen Satz. Etwas Saudummes wie „die Sonne scheint“ oder „Hallo, hallo, Test, Test.“. Ein komisches Gefühl ist das, die eigene Stimme zu hören und den Nachhall der Worte im Mund zu haben. Man schließt die Augen und schmeckt die Worte auf der Zunge förmlich nach.

Ein ganz kritischer Moment ist das jetzt, ein ganz, ganz kritischer. Hier entscheidet sich, wie es weitergeht. 

Links: Etwas dämmert, ein Gedanke manifestiert sich, man fragt sich, was man hier eigentlich macht und wie es so weit kommen konnte. Man stellt das Glas zur Seite, nimmt eine kalte Dusche, sucht sein Handy und ruft die erstbeste Nummer an, die man findet. Und dann alle anderen, die wichtig erscheinen. 

Rechts: Man nimmt einen tiefen Schluck FaKo, trottet ins Bad zu einem längst überfälligen Schiss und singt auf der Schüssel schief Lieder von Radiohead. Dann torkelt man in die Küche und schüttet Fanta und Korn im Verhältnis 1:1 in ein großes Wasserglas und zurück geht es aufs Sofa.

Man geht nach links.

Man wacht auf, der Kopf schmerzt. Man hat viel gelernt in den Telefonaten, das Meiste wollte man eigentlich gar nicht wissen. Man hatte eine Freundin, sie wohnt scheinbar in Berlin, man war über zwei Jahre zusammen, ihr Name ist Jana. Sie hat die Sauferei aber endgültig satt und weil man sich mehr als sechs Wochen nicht bei ihr gemeldet hat ist es jetzt endgültig aus. Man findet Fotos auf dem Handy, Jana war wirklich sehr hübsch. Man arbeitet anscheinend in einer Agentur, weder der Chef noch die Kunden haben gemerkt, dass man im Homeoffice seit Wochen keinen Finger gerührt hat. Na gut, muss er ja nicht wissen. Die Eltern leben noch, sie hören sich wirklich sympathisch an, man freut sich ganz ernsthaft auf ein baldiges Treffen mit ihnen. Sie scheinen ein bisschen überrascht darüber zu sein. 

Man heißt …

@bakausky: Pizza Gator

Also in Washington England gibt es eine Pizzeria in der gibt es ein „Gate“. Das ist englisch und steht für Tor. Dieses Tor führt direkt zur Hölle, nein zu einer Höhle, in der die „Lizard People“ – also Menschen mit grüner Alligator-Haut leben. Und da fahre ich gerade hin, mit dem Neun-Euro-Ticket von Bielefeld aus. Das wird ein Abenteuer, das können Sie mir glauben. Als ich da über die Grenze nach Frankreich fahren wollte, wurde ich kontrolliert.

Das Neun-Euro-Ticket sei nicht gültig auf diesem Weg, hieß es. Ich erkläre die Situation, dass mit den „Lizard Peoplen“ und der Pizzeria und meinem Plan, die über den Eurotunnel zu besuchen. Darauf wurde gar nicht weiter eingegangen, die verstanden nur Bahnhof und ich aus dem Zug geladen auf den selbigen. Verschwörung, wohin man schaut.

Also als Tramper weiter. Von dort nach dort. Ich werde Beweise liefern, sobald ich angekommen bin. Das zieht sich noch ein wenig hin. Denn die wissen, was auf sie wartet, wenn das rauskommt. Ich werde Fotos liefern auf Instagram. Folgt mir bitte bitte dort @bakausky.  

Angekommen bin ich schließlich doch. In Washington, England. Mit einem Uber bin ich die letzte Strecke zur Pizzeria gefahren und was ich dort erlebte, das glaubt mir niemand. Außer ich hätte nicht Fotos. Ich also in die Pizzeria rein und erst mal nichts anmerken lassen. Eine Pizza Hawaii bestellt. Doch die gab es da nicht. Verschwörung, ich höre dich trapsen.

Also dann halt Pizza Salami. Denn was viele nicht wissen ist, dass die „Lizard People“ oder Eidechsenmenschen keine Ananas mögen. Also die mögen die gar nicht, und auch nicht auf der Pizza. Dann wurde es spät und die Pizzeria war kurz vor dem Schließen. Doch die Pizza war groß und noch lange nicht gegessen. Da bot mir Michel, der Kellner an, zur After Party zu bleiben. Ich sei doch ein cooler Junge, jemand, der „Open minded“ sei und nichts über die „Special guests“, die noch kämen, schimpfen würde. Und ich hatte schon ein paar Bier intus und willigte ein.

Dann gegen Mitternacht wurde das Lokal offiziell geschlossen und ich saß noch auf einem Barhocker bei Michel an der Theke. Der sagte gerade „my name is Mitchell, not Michel“ und ich so „my name is @bakausky, follow me on Instagram“. Und da waren sie schon zu einer kleinen Treppe emporgestiegen. 

Ich traute meinen Augen nicht. Es waren fast Menschen, nur winzig und mit grüner Haut. Sie bestellten eine Runde aufs Haus, was mir sehr entgegenkam, denn ich war mittlerweile knapp bei Kasse. So, fragte ich sie, „You don’t like Pizza Hawaii?“ „No, it’s terrible“, sagte da einer und die anderen lachten. Ich nahm mein Handy heraus und machte ein Foto, sagte: „We will see who laughs now, I am just posting this on my Instagram @bakausky“. Und da lachten sie noch mehr. Und ich war verblüfft.

Sie bezeichneten mich als „conspiracy Nuss“ und sagten, dass mich kein Mensch ernst nehmen würde und luden mich auf noch einen Schnaps ein. Da konnte ich nicht nein sagen. Und einige Schnäpse später waren wir die besten Freunde, die „Lizard People“ und ich.

Am nächsten Tag wachte ich mit einem „Hangover“ auf einer Parkbank in Washington, England auf und hatte nur noch verschwommene Erinnerungen an die letzte Nacht. Die Eidechsenmenschen hatten mich gefügig gemacht, meine menschliche Schwäche, den Alkohol ausgenutzt. Und da war ich nun, ein Wrack mit null Pfund Kohle und null Prozent Akku in Washington, England. Aber mit dem guten Gewissen, auf Instagram geliefert zu haben. Und das machte mir Mut, als ich mit Daumen nach oben mich auf den Weg zurück nach Deutschland machte. 

Sabrina Marzell: Legenden

Ihre Nase blutet schon wieder. Vergiss nicht zu spucken und schau dir die Wolken an. Ich wühle so lange im roten Sand nach deinem Zahn.  Der Boden zieht mich an 


Die Fliegengittertüre schnalzt. Jemand zerhackt Kreide. Als ich in die Chipstüte greife, klatscht Steffi´s Hand in mein Gesicht. Sie wird mit dem Schimmelreiter untergehen 


Im Schatten der Reben. Der größte Idiot im ganzen Viertel zündet gerade die Parkbank an. Seitdem teilen wir uns zweieinhalb Quadratmeter Balkon 


Mein erster Bezug zur Form ergab sich aus dem formen von Matschfiguren. Meine Brust pochte und ich schüttelte den Kopf, als ich die übrig gebliebenen Körperteile (kleine Zweige) in der Pfütze liegen sah 

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Ungläubig verließ ich den Ort

Theobald Fuchs: Wenn die Familie zum Überliefern anfängt

Anfangs fand ich die Story absolut plausibel. Die kleinen Schrotkörner, an denen man sich früher gerne mal den einen oder anderen Zahn ausbiss, seien, so behauptete er, absichtlich vom Koch hinein praktiziert worden. In den Rehbraten mit Sahne und Preißelbeeren. Damit die Gäste sich davon überzeugten, dass das Wild absolut frisch geschossen und eh aus der Gegend sei.

Ja, klar, warum eigentlich nicht, dachte ich. Vom Jagen habe ich keine blasse Ahnung, bloß als er dann behauptete, dass Rehe und Hirsche eigentlich gar keine Tiere sondern Pflanzen seien, irritierte mich das – ehrlich gesagt – schon ein wenig.

Aber nicht schlimm. Nur so ein klitzewinziges Gefühl, das in mir, nun – nicht wuchs, aber schon irgendwie keimte, ein Gefühl, als stimme in einem riesengroßen Gesamtbild ein fitzikleines Detailchen nicht. Schwer zu sagen, welches genau, aber etwas störte.

Dass somit Wildbret ideal für Vegetarier sei, leuchtete mir wiederum ein, logisch, logisch, popogisch: wer sich im Wald ernährt, besteht irgendwo irgendwann auch aus Wald. Dann fängt die Zukunft an… Äh, falsches Thema. Weiter im Text: Dass sich seit vorgeschichtlicher Zeit aus den sterblichen Überresten des Wildes ein spezielles Erdöl gebildet hat, verblüffte mich abermals. Allerdings einen Moment nur. Unter hohem Druck über lange Zeiträume entstünde in tiefen Schichten aus zerquetschen Hirschkadavern ein beinahe milchiges, orangegrünfarbenes Öl. Wildes Erdöl werde es genannt, so raunte er, Österreich und das Saarland seien die beiden größten Produzenten. Auf der Erde, im bekannten Teil des Sonnensystems, universell. Soweit, so transparent.

Jedenfalls: für vertrauenswürdig hielt ich die Empfehlung, Messer und Gabeln mit diesem Öl zu behandeln. Grund offensichtlich zweifach: damit sie nicht nur nie mehr stumpf würden. Sondern auch, damit weder Brot noch die Frucht, die damit geschnitten wird, jemals wieder schimmelte. Coole Sache.

Anfangs bezweifelte ich aber, was darüber hinaus behauptet wurde. Dass man sogar die Sprache des Landes, aus dem die Wurst stamme, sprechen könne, wenn sie mit einem in dieser Weise präparierten Messer geschnitten werde. Beispiele: Mortadella, Cheddar, Salami.

Doch da mein Ururururur-Großvater, als er sich mit dem Jagdmesser in den Daumen geschnitten hatte, daraufhin stundenlang sehr komplexe und phantasiereiche ungarische Flüche ausstieß (oder etwas, das so ähnlich klang, so wird es zumindest berichtet), bin ich heute restlos überzeugt. Von nichts anderem als der öligen Wahrheit des Wildes nämlich.

Isso, sagte der alte Jäger, und ich glaubte ihm.

Theobald Fuchs: Es ist nicht immer vorteilhaft, gut zu schmecken

… es war genauso, wie ich es auf YouTube recherchiert hatte: erst nach zwei Tagen ununterbrochenen Kochens fiel das Fleisch von den Knochen. Oder besser gesagt: die Knochen ploppten aus dem Geschmorten, als wäre es ihm ein Bedürfnis, sie loszuwerden. Mir war dabei völlig klar, dass ich bei einem Hype mitmachte. Seitdem dieses Nahrungsmittel selbst von Veganern akzeptiert, ja sogar in höchsten Tönen gelobt wird, wollen es alle selbst probieren. Kaum zu glauben, aber es war seit Jahren oder Jahrzehnten unentdeckt geblieben, bis ein Isländer, glaube ich – oder doch jemand in Kanada? – darauf gekommen war, sie zu essen. Doch auch das erst nach vielen Versuchen und Fehlschlägen. Nachdem die Knochen sich vom Rest gelöst haben, muss man genau auf die Zeit achten. Noch weitere fünfundzwanzig Minuten auf kleiner Flamme knöcheln, pardon: köcheln, keine Sekunde länger, sonst verwandelt sich die kulinarische Köstlichkeit in eine unverdauliche, zementartige Masse. Falls das geschieht, ist es sehr ärgerlich, nicht nur, weil das Zeug immer noch sündhaft teuer ist, obwohl es quasi ohne Produktionskosten in der freien Natur eingesammelt wird. Aber es war schon ein Aufwand, zwei Tage am Herd zu stehen, immer wieder Brühe und Salzsäure zuzugeben, regelmäßig die giftigen Gase abzusaugen, von dem irrsinnigen Pfeifen, das aus allen Poren strömte, einmal abgesehen. Doch ich erwischte den richtigen Zeitpunkt, schüttete das crushed ice, das ich natürlich bereitgelegt hatte, in den Topf, gab gekochte Kartoffeln, Sägemehl und Pflaumen zu. Dann alles durch den Mixer und fertig. Und ich muss sagen: es war köstlich! Wirklich unvergleichlich, nur wenige andere Speisen können da mithalten. Und das alles ohne Fett und Zucker. Ich war begeistert! Keinen Menschen interessiert es mehr, wann und wie sie auf die Erde gelangt und dort bis vor Kurzem unerkannt gelebt hatten. Diese Außerirdischen schmecken einfach echt voll lecker! 

Matt S. Bakausky: Kann nicht kochen

Ich koche gerne Nudeln mit Pulver, sagte mein fünfzehnjähriges Ich. Dann kochte ich einmal Spaghetti mit Thunfisch-Tomatensoße. Und dann eine ganze Zeit lang nichts mehr.

Heute grille ich höchstens oder wärme Essen auf. Nudeln mit Pulver waren gekochte Nudeln mit Bolognesepulver von Knurr. Ich weiß nicht mehr, wo ich dieses Rezept herhatte. Normalerweise würde man das Pulver mit Wasser verdünnen, aber ich streute es über die Nudeln als wäre es Parmesan.

Kochen war nie so meins. Ich war höchstens eine Küchenhilfe. Karotten schneiden für den Braten, den Braten mit Gewürzen einreiben, alles nach Anleitung.

Anfänger können nur nach Rezept leben, sagte ein Guru mal, die Meister schreiben eigene Rezepte und irgendwo dazwischen sind Leute, wie mein Vater. Der hat immer einfach alles in eine Pfanne geworfen. Hauptsache Nahrung, ohne Rücksicht auf Geschmack oder Ästhetik. Das Auge isst nicht mit, der Hunger isst mit.

Mit Vater wahren wir als Kinder deshalb häufig auswärts essen. So häufig es ging. Nur ein Rezept blieb mir in Erinnerung, welches er meisterhaft beherrschte. Apfelpfannkuchen. Wenn es die gab, war mein Vater Chefkoch. Mit Zucker und den Äpfeln im Teig der Pfannkuchen. Das konnte nicht mal Mutter.
Das beeindruckte mich.

Und ich selbst bekam irgendwann einen Kontaktgrill geschenkt und dieses Teil war in der Lage alles perfekt zu grillen, sogar Steaks. Also war das mein Kochen. Das klang so altmodisch männlich, „Ich grille heute“. Aber ich habe nie verstanden, wie man am Grill steht, Feuer macht und Fleisch wendet.

Ich hatte nie so einen altmodischen Vater, meiner zeigte mir, dass man mit Technik alles lösen konnte. So wünschte ich mir einen Roboterfreund als Kind von ihm, aber das war damals selbst dem Ingenieur zu schwer.

Mutter lässt mich heutzutage immer abschmecken, sie weiß nicht, ob etwas gut schmeckt, ich sage es ihr immer, dass es gut schmeckt. Oder erkenne, wenn was nachgewürzt werden muss.

Kochen, das war Liebe in unserer Familie. Sie ging durch den Magen, wo doch äußerlich häufig wenig herrschte. Aber ich bin nicht deswegen so dick geworden, das kam mit der Krankheit und den Medikamenten. Da weiß man nicht mehr, wann man satt ist und hat Hunger, wenn man eigentlich genug hat. Wenn man dann noch Sport hasst, dann geht Liebe am Bauch vorbei. Leider. Aber meine Liebe bleibt, sie gehört mir und nicht der toten Schönheitsindustrie. Guten Appetit.

Margit Heumann: Mahlzeit!

Der Wirt der Stadtschenke am Tiergärtner Tor stellt den Kupferkessel mit der fränkischen Bierbowle zwischen die bauchigen Glastassen auf der Theke.

„So! Alles fertig für die Firmenfeier des Frankenfernsehens.“ Noch ein kritischer Blick über die gedeckte Tafel, die Reihe hochglanzpolierter Speisenwärmer mit dem warmen Buffet und den Desserttisch am Ende. „Fehlt nur noch das Personal“, murmelt er und verlässt den Saal, um seine Angestellten auf Trab zu bringen.

Ein abgrundtiefer Seufzer durchbricht die Stille.

„In was für Zeiten leben wir eigentlich?“, jammert der Kloß und rotiert empört um seine eigene Achse. „Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke, wie man mich aus dem Tiefkühlschrank direkt ins kochende Wasser geworfen hat. Ein Schock! Das wünscht man seinem schlimmsten Feind nicht.“

„Die Köche sind nicht mehr das, was sie mal waren“, pflichtet ihm das Schnitzel bei. „Früher wurde ich in Butterschmalz in der Pfanne herausgebacken, jetzt lässt man mich einfach in die Fritteuse fallen und im Öl ertrinken. Und wenn ich noch lange hier herumliege, ist es mit meiner Knusprigkeit auch vorbei.“

„Wem sagen Sie das?“, stöhnt der Kartoffelstopfer. „Die Kochkultur ist ausgestorben. Ich werde aus dem Päckchen zusammengerührt und bin nur noch ein geschmackloser Einheitsbrei.“

„Geht mir auch nicht viel besser“, blubbert die Hochzeitssuppe und blinzelt ärgerlich über den Rand des Suppentopfs. „Sieben verschiedene Einlagen, die es braucht um Glück zu bringen, habe ich schon lange nicht mehr und meine Fettaugen werden auch immer weniger.“

„An mir ist das gottseidank so ziemlich vorbeigegangen. Ich bin nach wie vor konkurrenzlos die Nummer Eins“, brüstet sich das Schäufele. „Allerdings wird meine Herkunft weniger fett gemästet als früher. Und das Beste an mir, meine knusprig gebratene Oberhaut, bleibt so und so oft auf dem Teller liegen.“

„Wenn’s nur das wäre!“, beschwert sich der Gurkensalat. „Mit dem Schlankheitswahn ist mir der Sauerrahm fast komplett abhanden gekommen, seit neuestem muss ich mich mit Magerjoghurt zufriedengeben. Magerjoghurt, ich bitte Sie! Da muss das Aroma ja auf der Strecke bleiben, wo doch jeder weiß, dass Fett der beste Geschmacksträger ist.“

„Kalorien sparen um jeden Preis, das ist leider der Zeitgeschmack“, erklärt der Karpfen. „Was glauben Sie, gegen wie viele Nebenbuhler ich heutzutage anstinken muss? Aber ich behaupte meinen Platz, das schwöre ich.“ Er reckt die frittierten Flossen so weit wie möglich über den Plattenrand.

„Rücken Sie mir bloß nicht auf die Pelle“, ärgert sich die Rostbratwurst. „Ich unterliege einem strengen Reinheitsgebot und Fischgeruch verdirbt meinen Charakter.“ Angeekelt wendet sie sich ab.

„Wie kann man nur so eingebildet sein“, näselt der Wirsing daneben. „So wie Sie riechen, weiß doch keiner, mit wie vielen chemischen Zusatzstoffen Sie versetzt sind.“

„Das sagt der richtige“, gibt die Wurst erbost zurück. „Sie duften auch nicht gerade nach Veilchen!“

„Aber ich bin pürierte Natur pur“, prahlt das fränkische Gemüse selbstbewusst. „In dieser Hinsicht habe ich mir nichts vorzuwerfen.“

„Das mag ja sein“, tönt es aus der Kristallschüssel am Ende des Buffets, „aber Ihre Konsistenz ist sogar für Blinde und Zahnlose eine Zumutung, graugrün und matschig, wie Sie daherkommen. Ich dagegen …“ Der Obstsalat präsentiert sich in seiner ganzen knackigen Buntheit und setzt noch eins drauf: „Und Ihre Vitamine sind auch im Eimer, so lange wie Sie vor sich hin köcheln.“

„Das ist nicht meine Schuld“, rechtfertigt sich der Wirsing, „sondern …“

„Psst!“, zischt die Bierbowle und unterdrückt einen Hickser. „Sie kommen!“

Die Tür geht auf und das Personal nimmt Aufstellung, gefolgt von den Gästen. Mit „Ah“ und „Oh!“ und „Mmmh!“ wird das Buffet gestürmt.

(aus Margit Heumann: Ein schräger Blick auf Nürnberg)