Bastian Kienitz: Vor Anker

 

wer weiß wohin die Reise geht, ich nicht
von minutiös wächst mir der Horizont
ins Nachlicht und erinnert sich
an das alte Fotogen und Spuren, die gekonnt
die Sichtverschiebung stark ins Blau verschieben:
im Sommer haben wir gesonnt
im Winter bleibst du ziellos liegen
und zählst das Raufaser in deiner Hand
die Linien, die nicht mehr verzweigen,
geformt zu einem Strom und einem Band…

Bastian Kienitz: [Der Staub der Kanäle]

Der Staub der Kanäle, das Wechselprogramm,
die Zeitschrift ein Muster für Taten und Drang:
du zappst durch die Stunden (erst vor, dann zurück)
inmitten des Raumes; was hast du doch Glück.

Ein Kind in den Armen, der saugende Mund
in einem Fahrzeug, ich suche dich und
nach einem Zentrum, einer Mitte, die Stadt:
ich fahre und fahre, dass Kind trinkt sich satt.

Andreas Prucker: Die heilige Chimäre

Die heilige Chimäre einer Familie werde ich nie richtig verstehen. Schon bin ich am Endanfang der Zukunft angelangt.

Schaue ich hörend ZDF oder ARD, oder Radio Z, so habe ich einen bestimmten Geist im Kopf. Schaue ich anderes und Tiktok, so ist mein Geist komplett im widersprüchlichen verloren. Und was macht das mit der Identität, die sich im Präfrontalen Cortex bildet und dies Vermächtnis uns in Zukünftiges lenken soll?

Es ist egal was sich da über ein wie bildet, denn wir denken uns eh, im falschen kann man viel richtig machen und wählen also durch Fehlinformationen, wie durch falsche Sichtweisen, die unsere Voreingenommenheiten triggern, immer die falschen Parteien, Freunde und Lebensmöglichkeiten, da wir nie durch diese medialen und dem familiären als Umgebungsbedingte Umstände, dass richtige wahrnehmen können.

Ohleahlihuah dies Schicksal als Zukunft ist vorherbestimmt. So wie der familiäre Habitus unsere Möglichkeiten für unsere Lebensführung formt.

Blubsdibubsdi rapadi baus und schon reden wir rebellisch pubertär in Sprachen, die wir nur über disziplinäre Autoritäten und ihr Anwendungsverhalten verstehen.

MfG Andreas Prucker

Ella Carina Werner: Feministische Tiergedichte

Alles unter einen Hut 
kriegt die Krakin. Die hat’s gut.
Mit einem Arm spielt sie Klavier,
mit dreien kippt sie Bier um Bier
und mit den allerletzten vieren
kann sie fröhlich masturbieren. 

Zum Kater sprach die Katze: 
„Du putzt das Haus, ich ratze.“
Das tat er. 
(Es war ein moderater 
Kater). 

Im Grase ruft die Schlangendame:
„Seht her, ich habe keine Arme!
Ein Glück. So kann ich gar nicht putzen,
keine Rosensträucher stutzen,
nie Socken ineinander knäulen
und dem Gatten keinen keulen.
Ich kann nur liegen, kriechen, krauchen
… und ab und an mal eine rauchen.“ 

https://archive.org/embed/e-werner-tiergedichte-1

Zum Hengst sagt die Stute: 
„Hör mal, ich blute.“ 
„Wo denn?“ – „Im Schritt.“ 
„Igittigitt!“ 
„Es tropft da raus.“ 
„Genug! Schluss, Aus!“ 
„Kurz gesagt, ich menstruiere.“
„Das geht mir ganz schön an die Niere!“
„Es fließt und flutet, strömt und rinnt …“
„Ich bin hier gleich vor Ekel blind!
Könn’ wir nicht von was anderm reden?“
„Na gut. Es regnet heut in Schweden.“
„Puh, danke.“ 

Die Kuh, die lacht, der Bulle flennt:
So hat man sich im Stall getrennt.
Damit er wieder lächelt bald 
zahlt sie ihm etwas Unterhalt. 

https://archive.org/embed/e-werner-tiergedichte-2

Heute starb ihr zwölfter Mann – gezogen ihm des Lebens Stecker!
Die Schwarze Witwe flennt zu Gott: „Warum sind die Kerls so lecker?“ 

Herr Seepferdchen gebar ein Kind
und macht darum ein bisschen Wind.
„Hey Leute, ich hab krass gebärt!“,
bis es das halbe Meer erfährt, 
„so hart gebärt! Gedrückt! Gepresst!
Mich vollgekackt und eingenässt,
und dann, nach dreißig Höllenstunden
kühn und gnadenlos entbunden!
Per Kaiserschnitt. Seht her, ich habe
‘ne geile Harry-Potter-Narbe! 
Drum muss ich jetzt beim besten Willen
die nächsten 20 Jahre chillen.“ 

Unter dichten Nebeldecken 
in geheimnisvollen Schluchten
hört man geile Tellerschnecken
mit viel Geschrei sich selbst befruchten. 

https://archive.org/embed/e-werner-tiergedichte-3

aus: Ella Carina Werners Der Hahn erläutert unentwegt der Henne, wie man Eier legt (Kunstmann, 2025)

Katrin Rauch: wawiwië

vater mutter kind kegel haus hund
vater mutter kind kegel haus hund
vater mutter kind kegel haus hund

kater futter rind schlegel haut huhn
pater luther sind flegel chaos kund
vater mutter kind kegel haus hund

water kutter wind pegel raus rund
dater butter find wegel laus mund
vater mutter kind kegel haus hund

mater vutter grind egel graus schund
zater zutter zind zegel zaus zund
vater mutter kind kegel haus hund

lager gucker bim efe paut lund
 a e   u  e   i    e e   au   u
vater mutter kind kegel haus hund

wawe wuwwe wIw wewew wau wu
error error error error error error
vater mutter kind kegel haus hund
vater mutter kind kegel haus hund

https://archive.org/embed/k-rauch-wawiwie

Christian Knieps: Ertrinkendes Europa

Schweißgebadet wälzt sich Carl Gustav Jung in seinem Bett hin und her, schreit innerlich nach Erlösung, krampft in seinem Wesen, kämpft mit aller Macht gegen sich selbst an und kann am Ende diesen Kampf nicht gewinnen. Das weiß er, das weiß sein Unterbewusstsein, und das weiß er auch in seiner Traumwelt, die er dennoch mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen, verfluchen, ja, gar zerstören will. C. G. Jung will seine Träume zerstören, die seit der von ihm eingeleiteten und streng forcierten Trennung von seinem geistigen Übervater Sigmund Freud immer gewalttätiger werden, immer härter, immer bösartiger, Träume, die von Zerstörung, Vernichtung, Ausrottung, Rache und Folter geprägt sind. Die Grundfarbe ist blutrot. Nasstriefend laufen die Traumgestalten in ihrer erdachten Umgebung umher, und nicht selten nimmt er Toni, dann Emma, dann wieder mal beide zusammen und ist beinahe schon an seinem sexuellen Höhepunkt, als etwas Rotes, Festflüssiges auf ihn zurollt, eine Welle aus Blut, und C. G. Jung versteht nicht nur, dass er bei seiner Theorie im Recht ist, die ihn von Freud entfernt hat, sondern er versteht auch, dass seine Libido, die freie schweizerische Liebe, ein Symbol für die Freiheit der Europäer ist, die alsbald in einem Meer aus karminrotem Blut versinken wird, hellem, pulsierendem Blut – wie aus dem kämpfenden Körper eines getroffenen Soldaten.
Doch dieser Blutstrom, der Europa in Zukunft ertrinken lassen wird, ist nicht das einzige deutliche Anzeichen für eine sich verändernde Zeit. Auch die menschlichen Bindungen werden in der nächsten Zeit hart auf die Probe gestellt werden, so prophezeit ihm sein Unterbewusstsein, und im Vorgriff auf einen Kongress, der im September 1913 stattfinden wird, ahnt C. G. Jung, dass das Leben, das er in geistiger Verbindung mit seinem Mentor Sigmund Freud die letzten Jahre verbracht hat, endgültig aus und vorbei ist – die Trennung als einzige Möglichkeit einer Befreiung seines Geistes von den Fesseln seines Lehrers. Denn dieser hat nicht in allen Punkten seiner Psychoanalyse recht, und das weiß C. G. Jung, und eben jenes Wissen ist es, das ihn zu der Annahme führt, dass eine Entzweiung unausweichlich ist, denn die Optionen, die er besitzt – schweigen und sich selbst erniedrigen oder etwas sagen und den Bruch heraufbeschwören – sind beide nicht von der Qualität von Entscheidungen, wie sie Menschen gerne und mit einem beruhigten Herzen treffen wollen.
C. G. Jungs Alpträume sind die Reproduktion dieser bevorstehenden Entscheidung, die er zwar instinktiv mit jedem Brief, mit jedem veröffentlichten Text, mit jeder Vorlesung an der Universität trifft, aber offen kann er mit dem ebenfalls körperlich und geistig schwächelnden Freud nicht brechen, nicht nachdem dieser in München am Ende des vorigen Jahres vor den Augen Jungs zusammengebrochen war. In seinem Traum sieht Jung sich vor einem Altar niederkniend, direkt unterhalb der gestrengen Augen seines geistigen Vaters, den Kopf gesenkt, in tiefer Andacht. Doch als er seinen Kopf erhebt und dem geistigen Vater entgegenblickt, bemerkt er dessen Augen, die wie so manche Madonnenstatuen zu weinen beginnen, und als C.G. Jung in seiner Verwunderung bemerkt, dass es Blutstränen sind, weiß er, dass er schuldig ist – und wie sehr ihn diese Schuld quält, bis tief in die Träume seiner Welt hinein, erschüttert bis ins Mark – da überkommt ihn das Gefühl der Einsamkeit, der Unzufriedenheit, und diese Welle der Angst, gepaart mit einer gegen sich selbst gerichteten Wut, gebiert einen wallenden Zorn, der ihn von den Stufen vor dem Altar aufstehen und zu seinem geistigen Vater aufrecken lässt, ehe er diesem mit einer Lanze nicht nur in die Seite sticht, sondern in alle Körperteile, die dazu auserkoren sind, die Libido zu beherbergen. Blutschwalle treten aus den Wunden, überfluten die Kirche, überfluten die Nachbarschaft, überfluten das Reich und schließlich Europa, während C. G. Jung beim Ausbrechen der Flut tapfer auf dem Boden vor dem Altar niedersinkt, allein, um Vergebung bittend, dass er keine andere Wahl hatte, denn fehlerhaftes Schweigen wöge für ihn schwerer als jeder Verrat, da es ein Verrat an einem selbst wäre – und welcher Mensch könnte schon Freund eines ertrinkenden Europas sein, wenn er sich selbst kein Freund mehr sein kann?