Schweißgebadet wälzt sich Carl Gustav Jung in seinem Bett hin und her, schreit innerlich nach Erlösung, krampft in seinem Wesen, kämpft mit aller Macht gegen sich selbst an und kann am Ende diesen Kampf nicht gewinnen. Das weiß er, das weiß sein Unterbewusstsein, und das weiß er auch in seiner Traumwelt, die er dennoch mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen, verfluchen, ja, gar zerstören will. C. G. Jung will seine Träume zerstören, die seit der von ihm eingeleiteten und streng forcierten Trennung von seinem geistigen Übervater Sigmund Freud immer gewalttätiger werden, immer härter, immer bösartiger, Träume, die von Zerstörung, Vernichtung, Ausrottung, Rache und Folter geprägt sind. Die Grundfarbe ist blutrot. Nasstriefend laufen die Traumgestalten in ihrer erdachten Umgebung umher, und nicht selten nimmt er Toni, dann Emma, dann wieder mal beide zusammen und ist beinahe schon an seinem sexuellen Höhepunkt, als etwas Rotes, Festflüssiges auf ihn zurollt, eine Welle aus Blut, und C. G. Jung versteht nicht nur, dass er bei seiner Theorie im Recht ist, die ihn von Freud entfernt hat, sondern er versteht auch, dass seine Libido, die freie schweizerische Liebe, ein Symbol für die Freiheit der Europäer ist, die alsbald in einem Meer aus karminrotem Blut versinken wird, hellem, pulsierendem Blut – wie aus dem kämpfenden Körper eines getroffenen Soldaten.
Doch dieser Blutstrom, der Europa in Zukunft ertrinken lassen wird, ist nicht das einzige deutliche Anzeichen für eine sich verändernde Zeit. Auch die menschlichen Bindungen werden in der nächsten Zeit hart auf die Probe gestellt werden, so prophezeit ihm sein Unterbewusstsein, und im Vorgriff auf einen Kongress, der im September 1913 stattfinden wird, ahnt C. G. Jung, dass das Leben, das er in geistiger Verbindung mit seinem Mentor Sigmund Freud die letzten Jahre verbracht hat, endgültig aus und vorbei ist – die Trennung als einzige Möglichkeit einer Befreiung seines Geistes von den Fesseln seines Lehrers. Denn dieser hat nicht in allen Punkten seiner Psychoanalyse recht, und das weiß C. G. Jung, und eben jenes Wissen ist es, das ihn zu der Annahme führt, dass eine Entzweiung unausweichlich ist, denn die Optionen, die er besitzt – schweigen und sich selbst erniedrigen oder etwas sagen und den Bruch heraufbeschwören – sind beide nicht von der Qualität von Entscheidungen, wie sie Menschen gerne und mit einem beruhigten Herzen treffen wollen.
C. G. Jungs Alpträume sind die Reproduktion dieser bevorstehenden Entscheidung, die er zwar instinktiv mit jedem Brief, mit jedem veröffentlichten Text, mit jeder Vorlesung an der Universität trifft, aber offen kann er mit dem ebenfalls körperlich und geistig schwächelnden Freud nicht brechen, nicht nachdem dieser in München am Ende des vorigen Jahres vor den Augen Jungs zusammengebrochen war. In seinem Traum sieht Jung sich vor einem Altar niederkniend, direkt unterhalb der gestrengen Augen seines geistigen Vaters, den Kopf gesenkt, in tiefer Andacht. Doch als er seinen Kopf erhebt und dem geistigen Vater entgegenblickt, bemerkt er dessen Augen, die wie so manche Madonnenstatuen zu weinen beginnen, und als C.G. Jung in seiner Verwunderung bemerkt, dass es Blutstränen sind, weiß er, dass er schuldig ist – und wie sehr ihn diese Schuld quält, bis tief in die Träume seiner Welt hinein, erschüttert bis ins Mark – da überkommt ihn das Gefühl der Einsamkeit, der Unzufriedenheit, und diese Welle der Angst, gepaart mit einer gegen sich selbst gerichteten Wut, gebiert einen wallenden Zorn, der ihn von den Stufen vor dem Altar aufstehen und zu seinem geistigen Vater aufrecken lässt, ehe er diesem mit einer Lanze nicht nur in die Seite sticht, sondern in alle Körperteile, die dazu auserkoren sind, die Libido zu beherbergen. Blutschwalle treten aus den Wunden, überfluten die Kirche, überfluten die Nachbarschaft, überfluten das Reich und schließlich Europa, während C. G. Jung beim Ausbrechen der Flut tapfer auf dem Boden vor dem Altar niedersinkt, allein, um Vergebung bittend, dass er keine andere Wahl hatte, denn fehlerhaftes Schweigen wöge für ihn schwerer als jeder Verrat, da es ein Verrat an einem selbst wäre – und welcher Mensch könnte schon Freund eines ertrinkenden Europas sein, wenn er sich selbst kein Freund mehr sein kann?
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Bastian Kienitz: STEHENDE RÜSTUNGEN
(aus der Serie Rüstkammer-Phantasien, Blankosonett)
du schweigst im Schatten, Dasein, Vielgesagtes
ALT vor den der, im Kreis der Wirklichkeit
glänzt Altes neu und neues Umkehrbar
durchleuchtet und durchdrungen, Feinabrieb
der lieben Leiden Wiederholungsmuster
und Rüstzeug, um uns wärmer anzuziehen
erst gestern war es Frühling, heute Winter
geknickte Blumen und geknicktes Gras
schon glänzt das Altmetall in trauter Runde
Gouache-Grau und Bleistift auf Papier
den Winkel alter Taten neu zu leben
Traumfolge I: Rüstkammer-Phantasien
die von der Minne bis zur Muse reichen
sang schon die Nachtigall tandaradei…
David Telgin: Vergangen
Vergangen
Vorüber
Längst vorbei
Schnee
der vergeht
sagst du
Doch unter deinen Füssen
klebt der Matsch.
David Telgin: Erinnerung
Die alte Postkarte
vom Meer
grüßt mit
verblasster Tinte
Mein Bruder
war dort,
vor Jahren.
Das Meer
verschlang ihn
lautlos in seiner Tiefe
Ich vermisse
ihn sehr.
Carsten Stephan: Nachlasspfleger Volker Naake
Stirbt wer einsam, pflegt den Nachlass
Naake, braucht kein’ Dr. jur.,
Aber Herzblut und natürlich
Bunges Möbelpolitur.
Er putzt auch die Silberlöffel,
Staubt die Bücher ab konform,
Setzt sich in den Ohrensessel,
Dass die Kuhle bleibt in Form.
Des Verstorbnen dritten Zähne
Wollen nachts ins Wasserbad,
Tags der Krückstock auf den Gehsteig,
Droh’n dem Knaben auf dem Rad.
Äußerlich ist nicht die Pflege,
Sieht man hier, auch ideell.
Flott ertönt der Plattenspieler
Mit einhundert Dezibel.
Spielt Soldat am Wolgastrand er,
Ist Herr Naake obenauf,
Und in schönen grauen Schlüpfern
Frischt er Nachlassstreifen auf.
Hält die Uniform in Ordnung,
Eisern Kreuz am bunten Band.
All das zählt nun endlich wieder,
Weil’s des Glückes Unterpfand!
Christian Knieps: Rauchende Schuldscheine
Eine Legende
Ein Mann im besten Alter seines Lebens, gekleidet in feinstem Brokat, golddurchwirkt und edelsteinbesetzt, viel reicher als alle Menschen, die heutzutage leben, und dennoch ist er nur der mächtigste Mann im Raum, jedoch nicht der Allermächtigste, eine Konstellation, die sich so oder so ähnlich vielleicht schon mal ergeben hat, aber niemals in dieser diametralen Ausrichtung – der eine hält einen Großteil der bekannten westlichen Welt in seiner Hand, der andere Mann hält ihn in der Hand. Es ist die Ausgeburt eines aufkommenden Weltalters, dessen Auswirkungen noch bis weit in die heutige Zeit hineinwirken und tief im Kapitalismus Wurzeln geschlagen haben; jedwede Grundausrichtung heutiger Märkte und Marktrealitäten fußt im Kern auf dieser Entwicklung, die sich nicht nur in diesem speziellen Raum, sondern in vielen Ecken Europas ausbreitete und weiterhin ausbreitet.
Im Augenblick aber hält der feine Herr im Brokatmantel eher ein Bündel Schuldscheine in der Hand, gerollt, auf feinstem Papier für die damalige Zeit geschrieben, geschnörkelte Schrift, feinste Kunst, die die Machtverhältnisse, aber vor allem die Abhängigkeiten zementiert. Es wird in diesem Raum und zu dieser Zeit nicht gesprochen – die Zeit des Redens ist längst vorbei – und als Konsequenz dieser Vorbei-Zeit handelt der reiche Mann, kramt in seiner Tasche nach etwas, das alle im Raum zum Staunen bringen wird, und als er drei Zimtstangen hervorholt, wissen die wenigsten der Anwesenden, dass diese drei Stangen der Verdienst eines einfachen Mannes für mehrere Jahre bedeuten, doch der Kenner ahnt, dass diese drei Stangen, die wohl zwischen 12 und 15 Gramm schwer sind, gut eine Golddukate an Wert besitzen – aber pah!, sagt sich der Mann, was ist schon eine Golddukate! Auch der Allerwichtigste weiß, was diese drei Stangen sind und woher der Mann im Brokat sie geliefert bekommen hat – aus den verheißungsvollen Landen im weiten Osten, die von den Venezianern kontrolliert werden –, und als er die drei Stangen an seine Nase hebt, riecht er den fremdländischen, betörenden Geruch des Zimts, dieser vom Stamm des Baums abgeschälten Rinde, die durch kunstbegabte, feingliedrige Hände mehrfach ineinandergelegt und getrocknet wird.
Mit diesen drei Stangen, deren Wert immensen Reichtum darstellt, würzt der in Brokat gekleidete Mann jedoch kein Wasser oder Kaffee oder Tee oder eine Speise, sondern – vermaledeit, er wird doch nicht! Doch, er wird! – er geht zu einer Fackel in der Nähe und hält die drei Stangen direkt hinein, sodass sie gleich Feuer fangen, der starken Trocknung sei Dank. Sie zündeln stark, die Zimtstangen, und kaum, dass sie sich eingebrannt haben und sich eine Mischung aus beißendem Feuergeruch und fremdländischen Sinneseindrücken im Raum verteilt, zieht der Brokatmann seinen Arm nach oben, während er zeitgleich die Hand mit den gerollten Papieren nach unten senkt, bis sie sich vor seinem Bauch treffen und in ein flammendes Meer übergehen. Alle blicken gebannt auf die rauchenden Schuldscheine, die Jakob Fugger eine Weile brennend anstarrt, ehe er zum Kamin an der Seite des Raums tritt und sein Vermögen, das er gerade vernichtet hat, ins offene, knisternde Feuer wirft, als wäre es ein Holzscheit, das den armen Mann auf dem Thron, seines Zeichens Kaiser Karl V., wärmen soll. Dieser Moment wird zur Legende, wie auch die Beziehung dieser beiden Männer zur Legende wird.
blumenleere: ist hungerkunst echt widerstand?!
past, present & future, the shangri-las, singen, nein, sangen die etwa schnurstracks von dem, was ist, was kommt oder doch viel mehr vom verlorenen paradies – our paradise lost –? o, ja! & schon erbluehen dunkle phantasien wie erbsuenden, die uns all die korrupten taten unserer vorfahren auferlegten, in den genen & mittels deprimierender schutthalden, deren fragmentarische natur uns zum hoffentlich – & das zugehoerige nomen starb nicht zuletzt, sondern bereits zuvor – anders wiederaufbauen noetigte. & daher gern ein kurzer exkurs gen geschichte; waren die methoden, mit denen sich wenige menschen auf kosten vieler bereicherten nach geltendem recht nicht zutiefst widerlich? & dennoch mit wenigen marginal nachhaltigen ausnahmen nie eine komplette tabula rasa – ok, ok, die kirche wurde mal ein wenig beschnitten (& vergessen wir nicht unsere franzoesische revolution), ausbeuten lassen wir uns allerdings weiter, nicht lediglich via die nachfahren der damaligen reichen, leider naemlich ebenso durch die aktuelle oppressionselite & statt sie zu koepfen, kuessen wir ihr, dummglaubend, ihre scheisze muesse sicher goldwert etablieren, den ueberfetten, stinkenden arsch, aus absurder angst, das unmoegliche zu verwirklichen & noch tiefer zu sinken. daher vielleicht lieber in der gosse verhungern, als solche kacke zu ertragen & zu fressen!
Bastian Kienitz: Über den Dächern von Vršac
auf einem
Grauanstrich folgt
das Rot
vergangener
Tage,
wie das Salz
im Farbanstrich
unserer
T
R
Ä
N
E
N
nach
Jahren
in Luft aufgelöst…
Bastian Kienitz: THE STOREHOUSE
Vergessen liegt in alten Kartonagen
vergilbt am Grau, dass sich erinnern will
erst war es still, dann hörten wir Licht krachen
nein, eine leere Dumpfheit war es, die
dazwischen Worte suchte, ein Geräusch
das etwas blechern und eintönig klingt
erwacht aus einem hohlen Farbenraum
der monochrom im Geisterhaften steht
nie wieder, hieß das Unscharf aus den Zweifeln
der Bruchstücke, die wie ein stummer Film
vorüberziehen und sich überschreiben
die alte Schreibmaschine macht klick klick
um aus dem Staub den Untergrund zu schlucken
der brach nach Lethe schmeckt im Morgenlicht…
Bastian Kienitz: Pleasantville II
früher: das Monochrom einer gelebten Wahrheit im Dezimalrausch der RÖHREN GLAS OBERFLÄCHE bis zum kleinsten Geräusch hinein auf Nu l l / T o n gestellt und heute: die bewegten Bilder von damals wie ein Déjà-vu aus alten Begebenheiten heraus. es war der Schnee. fällt leise, weil…