Man hatte ihn gewarnt, natürlich hatte man das, auf eine beinahe beiläufige Art, wie man einen Hund vom Abgrund zurückruft, nicht aus Fürsorge, sondern weil man das Geräusch des Aufpralls nicht ertragen will – und trotzdem war Terzfeld an jenem Dienstagmorgen, noch bevor die Sonne ihre erste Schicht aus bleierner Feuchtigkeit über die Dächer des Hafenviertels gelegt hatte, wieder durch die Hintertür der alten Papierfabrik geschlüpft, die inzwischen eher an eine Kathedrale des Schmerzes erinnerte als an irgendeinen Ort, an dem je gearbeitet, geschwitzt oder geschrien wurde, und stand nun mit zitternden Lidern vor einem Körper, der, so wie er dalag, mehr Aussagekraft besaß als sämtliche Protokolle des Dezernats für Kapitaldelikte der letzten drei Jahre zusammen.
Die Leiche war weiblich, ungefähr Mitte dreißig, trug weder Ausweis noch Unterwäsche, aber dafür einen perfekt sitzenden Lippenstift in einem Ton, den man früher als „Blutkirsche“ bezeichnet hätte – ein Detail, das Terzfeld nicht aus stilistischen Gründen notierte, sondern weil er wusste, dass sich Mörder selten um Lippenfarbe kümmern, es sei denn, sie wollten, dass jemand ganz bestimmtes die Leiche fand, oder sie inszenierten den Tod wie ein makabres Stillleben, das etwas erzählen sollte, was mit Worten nie gesagt werden konnte.
Dass die Frau keine Zähne mehr im Mund hatte, war kein Unfall – die Wurzeln waren sauber ausgehebelt worden, als hätte jemand mit chirurgischer Präzision einen Beweis zerstören wollen, während die Fingerkuppen – ebenso sorgfältig – mit feinem Schleifpapier behandelt worden waren; doch was Terzfeld mehr beschäftigte als all das, war der Blick, den die Tote ihm zuwerfen würde, wenn sie noch sehen könnte – diesen nicht mehr existierenden, aber doch spürbaren Blick, der ihm sagte, dass sie wusste, dass er zu spät kam, weil er immer zu spät kam, nicht aus Faulheit oder Mangel an Talent, sondern weil er tief in sich selbst etwas kultivierte, das jeden Fall, jede Suche, jede Aufklärung sabotierte: eine Schwäche für das Dunkle, für das Halbgesagte und für das Schweigen der Toten, das mehr verrät als das Geschwätz der Lebenden.
Die Spurensicherung tat, was sie immer tat – sie verpackte die Welt in Plastiktüten und analysierte sie auf Spuren, deren Bedeutung sich meist nur dann zeigte, wenn sie längst irrelevant geworden waren – und so verließ Terzfeld den Tatort, ohne sich von jemandem zu verabschieden, stieg in seinen Wagen, der nach altem Kaffee, kaltem Schweiß und vergessener Hoffnung roch, und fuhr in jene Gegend, die man in der Stadt nur „die grauen Kilometer“ nannte, weil es dort keine Häuser mehr gab, sondern nur noch Betonflächen, auf denen früher einmal Fabriken standen, und zwischen diesen Flächen bewegten sich Menschen, die aussahen, als wären sie von einem Roman übrig geblieben, den niemand zu Ende gelesen hatte.
Dort, in einem Container mit drei Schlössern, fand er „Fräulein Nola“, die keine Fräulein war, sondern eine Informantin, die ihm seit Jahren Hinweise gab, die so vage und gefährlich zugleich waren, dass jeder andere sie längst für nutzlos erklärt hätte, doch Terzfeld wusste, dass Information nicht aus Klarheit bestand, sondern aus Mutmaßung, Andeutung und vor allem: aus dem Klang, den Worte erzeugen, wenn sie in einem Raum voller Schuld ausgesprochen werden.
„Sie wollte raus“, sagte Nola, ohne dass Terzfeld eine Frage gestellt hatte, und es war diese Art von Antwort, die ihn glauben ließ, dass alles, was man brauchte, um einen Mord aufzuklären, bereits in den ersten fünf Minuten gesagt wurde, nur dass niemand wusste, welcher Satz der entscheidende war – man musste ihn aufspüren wie ein verlorenes Organ im Bauch eines Unbekannten, den man niemals sezieren durfte.
Sie erzählte ihm von einem Mann, den sie nur „den Vater“ nannte – ein Schleuser, ein Mörder, ein Menschenhändler, niemand wusste genau, wer er war, aber alle wussten, dass man nicht über ihn sprach, und wenn doch, dann nur in Halbsätzen und mit Blick auf den Boden – und Terzfeld verstand sofort, dass die Tote in der Papierfabrik keine anonyme Prostituierte war, sondern eine Frau, die zu viel gewusst hatte, vielleicht auch geglaubt hatte, dass Wissen Schutz bedeuten würde, obwohl es in dieser Stadt nur eine Wahrheit gab: Je mehr du weißt, desto eher stirbst du.
Die nächsten Tage waren ein Vexierspiel aus Akten, Gesprächen und Lügen, denen man ansah, dass sie gelogen waren, aber die trotzdem notiert werden mussten, und Bildern, die in seinem Kopf aufstiegen wie Gas aus einem alten Sumpf – Gesichter, Stimmen, Gerüche – und immer wieder tauchte dabei dieser Name auf, „Vater“, nicht als Titel, sondern als Drohung, als Fluch, als Konstrukt, das alle fürchteten und keiner je gesehen hatte, bis Terzfeld irgendwann begriff, dass der Mann, den er suchte, nicht gefunden werden wollte, sondern nur gespürt – als Schatten, als Druck und als Präsenz hinter den falschen Zeugen, den korrupten Kollegen und den stummen Beweisen.
Es war eine dieser Nächte, in denen man nicht mehr weiß, ob der Regen von außen gegen die Fensterscheibe schlug oder von innen gegen die Stirn hämmerte, als Terzfeld in einem Keller am Stadtrand stand, die Pistole gezückt, die Taschenlampe in der anderen Hand, der Magen seit Stunden leer, aber das Herz voll mit einem dumpfen Wissen, das sich nicht in Worte fassen ließ – und dann sah er ihn: einen Mann mittleren Alters, glatt rasiert, mit der Stimme eines Seelsorgers und der Kälte eines Chirurgen, der sofort wusste, wer Terzfeld war, und der nicht flüchtete, nicht schrie, sondern nur sagte: „Wenn Sie mich verhaften, machen Sie die Welt nicht besser – Sie machen nur das Dunkel sichtbar.“
Terzfeld schoss nicht. Er verhaftete ihn auch nicht. Er stand nur da, während hinter ihm jemand die Tür zuzog – und wusste, dass es vorbei war, bevor es wirklich begonnen hatte.
Denn das ist das Wesen der Ermittler in einer Welt, in der das Verbrechen nicht mehr im Moment des Mordens beginnt, sondern im Schweigen davor – sie sehen, sie wissen und sie sammeln, aber sie retten niemanden; sie sind Archivare der Verdammnis.