Immanuel Reinschlüssel: Stundendiebe

Wir können beide nicht alleine sein, haben es versucht.
Aber wir haben zu viele Messer in der Schublade, um uns etwas kochen zu können, haben zu viele Flaschen im Kühlschrank, um Musik zu hören, haben einen Föhn zu viel, um ein Bad zu nehmen und einen zu großen Berg an Tabletten angesammelt, um uns ins Bett zu legen.
Doch wir können auch nicht unter Menschen, weil uns jedes Wort weh tut, wir unsere Kiefer zu jeder Silbe zwingen müssen, um am Ende doch vor dem Nichts eines Gesprächs zu stehen, das wir so schon viel zu oft geführt haben – mit unterschiedlichen Menschen oder mit denselben, wer weiß das schon?
Und deswegen haben wir uns gesucht, stapfen durch den knisternden Schnee und genießen die Geräusche, die er nicht mehr gehen lässt und in sich aufsaugt wie ein gieriger Säugling. Wir müssen gehen, immer weiter gehen, von Bank zu Bank, von Zigarette zu Zigarette, von Bar zu Bar durch die Nacht, die unser einziger Verbündeter ist und manchmal doch unsere größte Sorge.
„Ich habe verlernt, alleine zu sein“, du sprichst aus, was wir beide denken und ich antworte dir nicht, weil es keine Antwort gibt und diese die einzig Richtige ist.
„Ich konnte das mal wirklich gut, stunden- und tagelang, einfach alleine sein.“ Und auch darauf bleibe ich stumm und spüre an deinem gleichmäßigen Atem neben mir und den wintertanzenden Rauchwolken, die sich zwischen uns vereinen, dass du Nichts anderes erwartet hast.
Die nächste Bar, der nächste Tresen, ein eingespieltes Team, obwohl wir keine Übung haben, keine Generalprobe abhielten, keine gemeinsame Vergangenheit in diesen Dingen des Lebens kannten. Doch wir sind eine Einheit, bestellen routiniert wie ein Zwillingspaar die Drinks, die uns näher an den Morgen bringen, die uns dem nächsten Tag einen Schritt entgegenstoßen, ohne uns eines Blickes zu würdigen.
Wodka, braune Flaschen, eine Gurke in deinem Gin-Tonic, für einen Moment treffen sich unsere Gläser, für einen Herzschlag unsere Augen, für eine Nacht pulsieren unsere Herzen in perfekter Harmonie, ohne von sich zu lassen, ohne von sich lassen zu können, weil die Loslösung das Ende bedeutete.
Blicke ruhen auf unseren Schultern, die meisten auf deinen schmalen, weißen, die eindringlichsten auf meinen, von der südlichen Sonne eines fremden Kontinents braungetränkten Schultern und wir spüren ihre Fragen auf unserer Haut, hören ihre unausgesprochene Sehnsucht in unseren Ohren, fühlen ihr Verlangen auf unseren Seelen, die viel zu alt sind für unsere jungen Körper.
„Wenn ich aufs Klo gehe, werden alle Frauen einen Schritt näher kommen und sich doch nicht trauen, etwas zu sagen.“ Deine Worte zaubern ein Lächeln auf meine Lippen.
„Und wenn ich aufs Klo gehe, werden alle Männer über dich herfallen wie die Schakale und doch wissen, dass ihr Krieg bereits verloren ist.“
„Dann müssen wir wohl zusammen bleiben, bis die Sonne uns trennt.“ Einer dieser Sätze, für die man dich küssen müsste.
Doch ich küsse dich nicht, werde es nie tun und du wirst es nie tun, eine unsichtbare Barriere – von  der Vergangenheit gezogen und unserer letzten Hoffnung auf die Zukunft konserviert.
Ihre Blicke schieben uns zurück auf die Straße, ein Griff in die Tasche, zwei Zigaretten und ein Feuerzeug, ich lege beide in meinen Mundwinkel und zünde sie zeitgleich an, reiche eine an dich weiter – auch ein neu entdecktes Ritual, so selbstverständlich wie das Atmen und einst auch die Liebe, bevor wir ihr den Rücken zuwandten, jeder auf seine eigene Weise. Der Dezember dringt durch unsere Reißverschlüsse, möchte unsere Haut erreichen, doch wir verscheuchen ihn mit unserem Rauch, blasen ihm unsere Verachtung entgegen, eine Verachtung, die ihm und jedem anderen Monat und jedem anderen Jahr gilt, das noch kommen mag. Zwei Zigaretten lösen sich von zwei Händen, segeln glitzernd durch die Dunkelheit wie ein Neujahrsfeuerwerk, schlagen auf dem Asphalt auf wie Meteoriten und zerstäuben doch mit einem kaum wahrnehmbaren Zischen und nicht dem Knall, den sie verdient hätten.
Ein neuer Tresen, neue Menschen, manche altbekannt, manche fremd wie die Sahara. Sie umringen uns, sprechen plötzlich auf uns ein und wir umarmen sie, trinken mit ihnen, lachen mit ihnen – und doch merken sie nicht, dass wir zu laut sind, zu lustig, zu schnell, in einem eigenen Tempo leben, uns einen Kokon teilen, in dem nur wir Platz haben und der mit dem ersten Sonnenstrahl platzen wird wie eine Seifenblase.
Doch bevor wir zurück müssen in unsere beendeten Leben werden wir rauchen, werden wir trinken, werden wir uns in den Armen liegen und die Gedanken des anderen aussprechen, werden wir tanzen als wäre es die letzte Nacht auf Erden, werden wir uns gegenseitig die Burger-Soße von den Wangen streichen, werden wir uns in der U-Bahn aneinander kuscheln und uns nicht mehr trennen wollen, im Wunsch vereint für immer auf den Plastiksitzen durch den dunklen Tunnel zu brausen.
Und doch wir trennen uns irgendwann, müssen uns trennen, müssen die Seifenblase zum Platzen bringen, müssen zurück in unsere getrennten Leben.
Aber bis dahin kämpfen wir ein letztes Mal, auch wenn wir verlieren.
Und wer weiß, vielleicht sind wir genau dafür geboren.


 

SprecherInnen:
Lukas Münich, Selina Früchtl

Christine Wiesel: Auflösung in der Nacht

Kontaktlos verbringen wir die Zeit
Raum bleibt molekularlos
Galaktische Körper schwirren umher.
Blockaden im Kopf
das Herz im Asphalt
wird wortlos umverteilt


Sprecherin: Selina Früchtl

Lisa Neher: Life is a rollercoaster

In der Popmusik der Neuzeit werden Leben und Liebe oft mit Abenteuerspielplatz verglichen. Schon Ronan Keating wusste: „Life is a Rollercoaster you just gotta ride it.“ Oder Kimya Dawson singt: „My Rollercoaster’s got the biggest ups and downs – as long as we keep moving it is unbelievable“. Sie sind allgegenwärtig, die Ups, die Downs – aber manchmal fühlt sich das ganze weniger wie eine gaudigen Achterbahn an, sondern vielmehr nach „Riding Solo“. Nach schäbigem Geräteturnen. Betrachten wir als Beispiel mal eine Wippe. Schon mal jemanden beobachtet, der einsam auf einem dieser frustrierenden, nach Zweisamkeit schreienden Pärchengeräten saß? Lächerlich, wie das aussieht. Hilflos. Man könnte auch denken: Er oder sie will nur da sitzen. Die Wippe zweckentfremden, blockieren, damit kein Team der Welt dort Spaß haben kann. Ich stelle mir vor, auf so einem Spielplatz zu sein und beobachte mich selbst, wie ich auf dieser Wippe sitze – allein – und mal jammere, mal ganz zufrieden aussehe.
Das denke ich, wenn ich jammere: Toll, niemand ist da, der mit mir spielen will. Oder niemand ist da, mit dem ich spielen kann. Vorhin hat zwar Martin aus der 5a gefragt, aber der hat ein gebrochenes Bein, wie soll denn der wippen können? Ist doch viel zu gefährlich, soll er in drei Wochen wieder kommen, wenn sein juckender, stinkender Gips weg ist, er ihn sorgfältig in einen gläsernen Schrein verstaut hat und wenn man 50 Cent in ein Kästchen wirft, geht das Licht an. Dann sieht man all die Unterschriften darauf, die ihn bis an sein Lebtagsende daran erinnern werden, wie beliebt er in seiner Jugend war, so überhaupt nicht allein und Get Well Soon und HDL.
Das denke ich, wenn ich zufrieden aussehe: Ist das nicht schön, draußen in der Natur, die Gänseblümchen, die meine nackten Zehen kitzeln hahaha, die Sonne scheint und oh da fliegt eine Hummel, die erste dieses Sommers (und der ist noch nicht alt). Fliegt viel zu schwer für die Luft, die sie trägt, viel zu schwer, so wie ich für dieses Spielzeug auf dem ich sitze aber das macht mir gar nichts aus, denn das Milcheis in meiner Hand – das zwanzigste dieses Sommers (und der ist noch nicht alt) ist köstlich und eins will ich sowieso nicht und zwar: Wippen.
Denn vorausgesetzt da käme jetzt jemand an, ein Freund vielleicht und mit dem wippt man dann so durch die Gegend: Dieses ständige Aufschlagen auf verformtem Kautschuk – meist einem ausrangierten Autoreifen – der an der Unterseite des Wippensitzes befestigt ist, um die Stöße abzufedern. Autsch. Man spürt jeden einzelnen Aufprall in der Wirbelsäule. Die waren auch nie das, was sie mal hätten sein sollen, die Reifen. Früher war alles besser, als sie noch zu einem Auto gehörten, als Quartett an einer Karosserie und nicht einsam und halb im Boden versunken. Sie sind verantwortlich für den Schmerz, der mir vom Steißbein hoch bis ins Genick schießt, während mein Gesäß hart ummantelt wird von einer verkrusteten, ausgeblichenen roten Plastikschüssel, die obendrein noch viel zu klein ist für meinen weißen Milcheisarsch. Aber ich hätte jemanden zum Spielen.
Aber was, wenns doch kein Freund ist, der da kommt? Ich erzähle euch was dann passiert: An einem dieser Sommersonnennachmittage, an denen man sich versehentlich mit einem „gemeinen“ Kind eingelassen hat. Nichtsahnend und voller Vertrauen – nur das gemeine Kind, die Gravitation und ich – wippen wir so, dass unsere Sorgen gen Himmel katapultiert werden und STOPP Mitten in der Luft bleibe ich stehen. Werde stehen gelassen. „Haha!“ schreit das gemeine Kind. Es hat sich mit der Schwerkraft verbündet. Rien ne va plus, nichts geht mehr. Mit der Gummikappe seiner schmutzigen Converse-Sneakers hat es sich unter dem Gummireifen festgekrallt. Gummi zu Gummi, Staub zu Staub. Ich hänge in eineinhalb Metern Höhe und bin auf erstaunlich freie Art gefangen. Wer braucht schon Boden unter den Füßen? Ich kann die Welt von oben sehen und werde das noch eine ganze Weile können, denn gemeine Kinder sind geduldige Kinder. Ich hab jemanden
zum Spielen.
You’ve really got me flying tonight You almost got us punched in a fight But, baby you know The one thing I gotta know
We found love So don’t fight it Life is a rollercoaster Just gotta ride it

Felix Benjamin: Filme

In der vierten Klasse dreht sich alles nur noch um den Übertritt aufs Gümminasium. Mama sagt: „Mein Kind geht nicht auf die Hauptschule!“
Was passiert, wenn ich es nicht aufs Gümminasium schaffe?! Bin ich dann nicht mehr ihr Kind?! Das frag ich mich nachts im Bett, lieg deshalb lange wach und komme in der Schule noch schlechter mit.
Mama bringt mich jede Woche zur Frau Göllner. Das ist eine komische Frau, die will, dass ich meine Familienmitglieder als Tiere male und sich dazu Notizen macht.
Ich gehe trotzdem gern zu ihr, weil sie einen Abreißkalender hat, wo jeden Tag ein anderes Filmfoto drauf ist und auf der Rückseite immer eine Inhaltsangabe vom Film steht. 365 Blätter voll Action und Abenteuer. In diesem Kalender darf ich jede Woche schmökern.
Aber vorher muss ich mich immer eine Ewigkeit auf eine Matratze legen und die Augen zumachen. Frau Göllner sagt ständig: „Deine Arme werden schwer, ganz schwer…Deine Beine werden schwer, ganz schwer“ und so weiter.
Niemals, während ich da so liege, wird irgendwas schwer. Nur das Warten darauf, mir wieder den Kalender schnappen zu dürfen, ist schwer.
Ich liege mit geschlossenen Augen rum und male mir all die tollen Filme aus, die in dem Kalender drin sind, und all die noch tolleren Filme, die ich machen will, wenn ich groß bin.
Endlich darf ich die Augen wieder aufmachen, zu Frau Göllners Schreibtisch gehen und mir den Kalender anschauen, bis ich ihn schweren Herzens aus der Hand geben muss, weil Mama mich abholen kommt. Jede Woche das Gleiche.
In der letzten Sitzung schenkt mir Frau Göllner den Kalender. Den kenne ich zwar mittlerweile längst auswendig, nehme ihn mir aber jeden Abend zur Hand, wenn Mama aus meinem Zimmer geht und sagt, dass ich noch Autogenes Training machen soll. Ich wüsste ja jetzt, wie`s geht.
Mein Schlaf ist weiterhin scheiße, aber letztlich schaffe ich es aufs Gümminasium und darf Mamas Kind bleiben.

Ruben Trawally: Salat

Scheppernd flogen die Fensterläden des kleinen Nürnberger Bungalows, der Wind blies feurige Flöten, als bei dem Sturm auch noch die Familienkutsche abhob und krächzend auf Nachbars Trampolin landete.
Geläufig war einem dies Getöse ja nicht, und geheuer ebensowenig. Was für ein Spektakel – zumindest aus dem Wintergarten.
Am nächsten Morgen konnte sich die Nachbarschaft ein Wunder hoffen, denn sämtliche Wege waren aus Salat.
Es hat in der Nacht eben gestürmt und die Kohlfelder zuerst auf den Windpark, dann in den Hühnerhof, dann übers Möhrenfeld und dann noch etwa 3 Stunden in den Kreisverkehr geweht, womit sich ein durchaus angenehm duftender Teppich aus knackig triefendem Gemüsebrei auf dem Asphalt niederlegte.
Einen Tag später gingen die Schipparbeiten immer zäher voran, da viele Nagetiere aus allen Ländern sich zu kleinen Gangs zusammenrotteten und die Spatenstiele systematisch zerlegten. Andere Viecher suhlten sich in der gärenden Brühe die in den Niederungen der Stadt vor sich hin blubberte. Doch intensiver Sonnenschein wärmte die Sandsteinfassaden so gut an, womit sich ein Krautbierlikör zu entwickeln begann, welcher über die vielen Freiflächen natürlich gefiltert ins Grundwasser gelangen konnte.
Etwa 30 verschiedene Quellen kennt man nun im Reichswald, wo noch immer Krautbierwasser gezapft werden kann, da bei jedem Regen das Wasser, welches die Kohlköpfe benetzt, wieder frischen Geschmack mit in die Tiefen der natürlichen Krautbiersalatquelle nimmt.
Gemahlen zu einem Puder kann die Erde nun ins Müsli gemischt werden, um so auch einen Beitrag zur morgendlichen Fitness zu leisten. Sollten sie jedoch eher auf passive Fitness stehen, kann man genauso Kohl auf der Krautbierwassererde anbauen, welcher dann alkoholisch wird, doppelt so stark nach Kohl riecht, halb so stark danach schmeckt, doppelt so viele Kalorien hat, weniger kostet, besser aussieht und keine Nachteile hat.
Unsere Nachbarn (ich nenne keine genauen Namen) erquicken sich gerne an dem alkoholischen Saft der Erde, wieso nicht auch der Rest der Welt?
Bei einem richtig guten Salat, ist doch der Sud am Ende das Beste!
Salat gehört zu den gesündesten Errungenschaften der menschlichen Kultur, neben Joggen und Yoga.
Die Natur hat nicht immer nur Böses im Sinn wenn sie es Regnen lässt, sie will uns damit nur etwas Freude zurückgeben, die sie uns im gleichen Moment wieder nimmt.

Tibor Baumann: Volition – brennt hinter dem Rubikon

Er sagte: „nun“ Es gibt keine Entschuldigung. Ich erinnere mich gut, plastisch. Die Sonderausgabe wog schwer, limitiert, Fadenbindung. Es ist nur ein Schritt über den Fluss ohne Wiederkehr.
Wussten Sie: Es wird ein System entwickelt, um Autoren pro angefangener Seite zu bezahlen. Flatratelesen. Spannung ist die Motivation. Wie oft ein Spannungsmoment aufgebaut werden muss, wie viele Zeichen es braucht, bis der nächste Coitus Interruptus stattfinden muss, errechenbar. Dann schreibt man nur mit Ziel; Volition, klar so weit?
Mir war das nicht klar. Es tut mir so leid. Ich hatte schon immer Angst, dass ich einfach so – eines Tages – versuche sanft umzublättern, ein mir ganz kostbares, geliebtes Buch, eine Sonderausgabe; und ich bekomme einfach die Seite nicht zu fassen. Es geht einfach nicht. Und dann stehe ich auf, ganz ruhig. Stelle das Buch an seinen Platz, gehe hinaus – und zünde das Haus an.
Wussten Sie: zu verfassen kann sich an keinen Zweck binden außer der Tat. Klar soweit? Es ist nur ein Weg – nur Motivation; nie Volitation!
Und er…er sagte „nun“. Eine Phrase. Weniger! Eine Hülse; nur noch Betonung.
Ereignisse geschehen immer, wenn man sie liest. Aber verfasst man sie, ist es eine Tat: Ich hätte das nicht tun dürfen. „Nun“ – eine kalte Nadel durch weiche Membran. Mein Schritt über den Fluss.
Wussten Sie: für mein erstes Manuskript, haben sie mir angeboten, es zu beobachten. Das wilde Tier. Frei verfügbar auf einer Literaturplattform. Klar soweit? Klickklickklick – klickt es oft, dann ist es gut. Vielleicht druckwert. Neoliberalliteratur.
Er sagte „nun“ – und es klang beinahe antiquiert. Umblättern, zivilisiert, mit Ziel, kontrolliert: Das entglitt mir. Nur für einen kurzen Moment. Ich fühlte mich, als würde ich ganz plötzlich, ganz schnell meinen Kopf schütteln; so schnell, das ich nur noch ein Farbklecks bin – ohne, dass ich damit begonnen hätte. Ohne Anfang. Nur die Tat. Nur im Verfassen. Nur verfassen und suchen. Nur erfassen und die Ungreifbarkeit des Moments akzeptieren. Die Seite loslassen. Den Fluss ohne Umkehr übertreten.
Ich habe den Entwurf erklärt und er sagte: „Das klingt ja alles sehr spannend – wer ist denn nun die Zielgruppe?“
Ich habe das Buch genommen, bin zu ihm hinter den Schreibtisch – und habe ihm die Sonderausgabe so lange ins Gesicht geschlagen, bis die Treffer klangen wie Schritte im Matsch am Flussufer.
Es hat gebrannt und ich habe kein Wasser geschöpft um zu löschen.

Anja Gmeinwieser: Die Welt

In den Killerwalen sammelt sich die Welt. Ich meine das wörtlich, alles, alles was ist auf der Erde endet letztlich im Inneren eines Killerwales. Also, wirklich alles. Sie sind „Spitzenräuber“, ganz oben in der Nahrungspyramide, in der weltweiten Fressordnung, sie fressen Fische, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die kleinere Fische fressen, die Plankton und/oder Pflanzen fressen. Und wahrscheinlich fressen die Killerwale selbst auch ihrem Fressen das Fressen weg, fressen also auch selbst Plankton und die Fische, die Plankton fressen und die Fische, die diese Fische fressen, und die Fische, die diese Fische fressen und so weiter. In Killerwalen sammelt sich, ich sage das nochmal, ich sage das wiederholt, ich unterstreiche das: die Welt.
Deshalb können Killerwale sich nicht mehr fortpflanzen, weniger wegen dem Plankton oder den Fischen, sondern wegen den Giften in dem Plankton und in den Fischen, Dioxin, Weichmacher, Glyphosat, Erdöl.
Um über den Zustand der Welt im Bilde zu sein, blicken Sie mit mir in einen Killerwal, soeben gestrandet, unwiederbringlich, er ist von uns Menschen umringt, die es wissen, und er weiß es selbst. Ich gebe dem Wal einen letzten Kuss auf seine fischige Nasenfläche.
Er blickt uns mit traurig halbtoten Augen an, es sind ja auch halblebendige Augen, dies zur Steigerung der Laune, die angesichts sterbender Wale oft ins Melancholische driftet.
Skalpell!
Tupfer!
Nein im Ernst:
Kettensäge!
Der Bauch des Wales öffnet sich und wir blicken und finden: Klar, Blut, klar, Organe, klar, Magen, Leber, Milz, wie bei uns, nur größer. Und auch klar, darauf haben wir uns eingestellt, wegen der Nachrufe auf gestrandete Wale in den Medien: Wir finden, Plastikplanen, klar, Autoreifen, klar, Surfbretter, klar, Bagger, klar, Abrissbirnen, klar, Bügelbretter, klar, Kräne, klar.  CO2, klar, Angsthormone, klar, alte Geldscheine, klar, Gliedmaßen unserer Artgenossen, klar.
Und jetzt – q.e.d. – auch den Rest der Welt: Winzige Zeichen von – man könnte fast sagen, „Hoffnung“, aber das wäre so pathetisch wie übertrieben – also winzige Zeichen von Intaktheit, eine Flaschenpost,  die die Liebe zur Welt in verschwommener Tinte in den Wal hineingespült hat, eine Waldlichtung, mit Tautropfen im Gras und Himbeeren an ihrem Rand und tatsächlichem Wald außenherum, ein Bienenschwarm auch und natürlich ein Imker, und hier und da Neugründungen bisher unbekannter Ökosysteme, außerhalb eines Killerwales so nicht vorstellbar, Symbiosen aus Bobbycars, Rankgewächsen und Dachsen und insgesamt ganz neue Lebensformen, bisschen wie Axolotl, aber eben keine Axolotl, genau so, aber anders.
Steht und schaut und staunt.
Und ihr werdet denken, wir werden einen Gedanken denken, einen Kollektivgedanken, und er wird sein: Wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, und der letzte Fisch gefischt wurde, dann gibt es im inneren des letzten Killerwales immer noch den allerletzten Baum, den allerletzten Fluss und den allerletzten Fisch. Und erst, wenn der letzte Killerwal unfortgepflanzt versiecht ist, erst dann werden wir merken, dass die Welt kein Abflussrohr hat.
Vielleicht.
Das dauert aber noch.
Bestimmt bis 2050.
Mindestens.
Und Killerwale sind jetzt auch nicht so gut erforscht.
Nee.
Da geht was, da geht schon noch was.

Frau Lärm: Ihr sagt

Ihr sagt,
das ist doch ganz einfach.
Die schaffen es nicht,
weil sie persönliche Probleme haben.
Da muss man einfach an sich arbeiten.
Alle haben schließlich die gleichen Chancen.
Die Plattformen sind da.
Die versuchen es nur nicht genug,
haben kein Herzblut investiert.
Es wäre schön, wenn das selbstverständlich wäre
und wir darüber nicht reden müssten.
Ihr sagt das,
weil euch nie Steine in den Weg gelegt worden sind,
weil ihr alle Privilegien, alle Unterstützung und
alle Macht habt, diese zu behalten.
Weil ihr nicht in andere Schuhe schlüpfen könnt.
Oder warum?

Gerwin Weinknoth: Spießdeutsche Pretiosen V – Der Kloß

Oh, güldengelbe Seele vom Potack,
aus Bulwens Leib geborenes Gezier,
von Erdenäpfeln bestgeratner Erb,
Die Götter lachten und es strahlte schier
der Himmel, als Bramburo dich gebar.
Schneeweiß liegst du auf unsern Tellern hier
wie Alabaster oder Marmor gleich.
Oh, feisteste der Speisen, sieh dich an!
Gibt es ein Ding auf Koches weiter Flur,
das Rundungen so reizvoll hat wie du?
Wie Meißners Porzellan, so schön und pur
liegst du wie Aphrodite in der Schal.
Noch nicht wie sie, oh unschenante Hur,
gehst schwanger du, mit Brot in deinem Leib.
Wir blicken deine Rundung an und nur
der Anstand hält uns fern, dass gierig wir
dich händisch in den Schlund uns stopfen rein.
Derweil saust uns das Blut aus Kopf und Hirn
und kindlich-reine Freude ins Gebein.
Du brandest unsre darbend Kehlen an,
die Lippen kräuseln sanft sich um das Dein.
Die Zunge, sorgenschwer benetzt dich gut,
der Zahn dringt ohn Erbarmen in dich ein
der eisge Speichel netzt dein weißes Fleisch.
Die Speiseröhr, die derbe, drückt dich klein.
Du wartest bis man Zutritt dir gewährt,
gemessnen Schrittes gehst du alls hinein.
Der Magen schließlich haucht dein Leben aus.
Du lässt es tapfer, ohne Kummer, zu
und schenkst dich her, du selbstlos nobler Schmaus.
Dein Opferwill bald größer als sichs ziemt:
„Oh, Heiland!“, rief so mancher schwärmend aus,
weil Leben und Erquickung du ihm gabst.
Augapf der Götter, schön bist du und gut.
Du schützest uns vor Pommesfritzens Harm.
Schon Omas von gebrechlichstem Gebein,
dich bargen unter ihrem weichen Arm.
Wes Vater mahnte nicht vor Schmerz durch Reis?
Wes Mutter schlug bei Nudeln nicht Alarm?
Oh, Kloß, du lieber, sakrosankter Glob,
Wir danken dir.
Vom Teller bis zum Darm.

Gerwin Weinknoth: Spießdeutsche Pretiosen I – Lied an die Leimfliegenfalle

Du Todesleimgespinst, wie filigran,
hängst du doch an der Küchendecke dran.
Als Pendel des Verderbens und der Qual,
dem flatternden Gefleuche ein Fanal,
drehst Du Dich in des Fensters engen Spalts
und wer Dich kennt, der weiß: schon bald verhallt’s,
der freudig schwirrend Mücken heitres Spiel.
Den argen Kleister intressiert nicht viel,
nicht Fliege oder Wespe oder Gnu,
ein Jedes führt er seinem Schöpfer zu
bis eine Fibonacci-Locke hängt,
ganz dicht an dicht mit Opfern vollgedrängt.
Vereinzelt zucken Beine von Getier.
Vivat! Oh Klebedings, wir danken Dir!