Andii Weber: Daten


Meine Armbanduhr zeigt 17:08 Uhr an, der Bus ist bereits zwei Minuten zu spät. Der Bahnhofsvorplatz wirkt übersichtlich: Eine Bushalteschleife, ein etwas in die Jahre gekommener Gasthof und irgendwo den Hügel hinunter die große Sehenswürdigkeit: Eine Pyramide aus Trinkgläsern, aufgestellt von der örtlichen Glasfabrik, um sich einen Platz im Guinnessbuch zu sichern. Über die Jahre sind mehr als ein paar dieser Gläser durch bloße Langeweile zersprungen, jetzt hat diese Dorf-Monstranz Löcher und Mäkel und sieht eher traurig als repräsentativ aus.

Ich schaue noch einmal auf den Busfahrplan; Abfahrt 6 nach, stimmt schon. Und sicherlich ist in den letzten 10 Minuten hier kein Bus abgefahren, das hätte ich mitbekommen. “Wo soll’s denn hingehen?” Eine krächzende, zigarettenrauchbelegte Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ich wende meinen Kopf vom Fahrplan ab und blicke in ein Gesicht mit  grau-braunem Schnauzbart, einem Bluetooth-Headset und einer runden Nickelbrille, aus der ein gelbes und ein trübes Auge in unterschiedliche Richtungen herausschauen. Ich möchte nicht reden müssen, aber der knubbelige Mann schaut mich erwartungsvoll an. Vielleicht kann ich einen ortskundigen Rat gerade gut gebrauchen. „Nach Rottenbach, Tiefecker Straße.“ „Ah, da kannst du gleich bei mir mitfahren.“ Der Mann wippt nach vorn, bläst Rauch in die Luft und nickt in Richtung eines geräumigen VW-Busses. „Danke, aber ich glaube, mein Bus müsste gleich kommen. Den nehme ich dann einfach.“ – „Was für ein Bus ist das denn?“ – „Die Linie 13 nach Steigen am Berg.“ – „Ja, das ist meine Linie und wenn du die nehmen willst, steig ein, ich fahr jetzt nämlich los!” Weder der Mann noch das Gefährt sehen nach Linienbus aus: Die Duftbäume im Fenster, die Aufkleber mit Wildmotiven am Heck des Wagens, das schmierige Bluetooth-Headset am Ohr des Mannes, das schiefe Grinsen. Doch es ist bereits 10 nach, und Unpünktlichkeit widerstrebt mir so sehr, dass ich wortlos die Schiebetür des Wagens öffne und mich auf einen der Sitze installiere. Der Mann nickt, steigt ein, dreht das Radio auf und startet.

Zu meinem Erstaunen hält der Bus tatsächlich an jeder planmäßigen Haltestelle, wartet für einige Augenblicke und bewegt sich dann träge weiter zur nächsten. Manchmal stehen auch Menschen an der Bushaltestelle, doch sie scheinen nicht einsteigen zu wollen und blicken nur weiter die Straße hinauf, von wo der Bus herkam. So geht das viele Stationen lang. Ich presse meine Nase gegen die rußverschmierten Fenster und sehe den Schatten der Bäume zu, wie sie am Fenster vorbei getragen werden. Ein kleiner Bachlauf rauscht braun parallel zur Straße. Der immergraue Himmel scheint festgepinnt zu sein von den einzelnen herausragenden Bäumen an den wulstigen Steinkissen, die sich in die Laubhaufen hineinfragmentieren. 

Eine eigenwillige Idee, mich in ein Jagdhaus einzuladen für ein erstes Date. Warum wohnt man in dem Alter wohl so weit draußen im 0? Aber auf eine Art passt es: Lili versteht es, durch eine bemerkenswerte Offenheit und punktuelle Informationslücken eine mysteriös vibrierende Aura um sich zu radiieren. Oft genug blinken die 3 Punkte unterm Namen stundenlang auf, die Schreibaktivität anzeigen, ohne Nachricht. 

Der Bus fährt vorbei an einem verlassen wirkenden Grillhaus und hält dann schließlich. Der Bluetooth-Mann dreht sich eulengleich nach hinten um und bedeutet mir, auszusteigen. Ich blicke auf mein Handy. Unweit der Bushaltestelle muss es einen Eingang in den Wald geben. Der Pfad ist wurzelig, asynchron und windet sich um zahllose gefallene Bäume.

Nach etwa 23 Minuten (laut Google) muss ich den Weg verlassen, um das Haus zu erreichen. Ich vertraue der Triangel auf meinem Display, die mich bisher noch an jedes Ziel gebracht hat und biege ab Vorbei an gefallenen Bäumen mit tetraedrischen Schnittstellen. Auf einer Lichtung dann :::: Ein etwas in die Jahre gekommenes, doch durchaus hübsches Blockhaus mit einer kleinen roten Bank davor und einem Ziegenschädel mit Hörnern, der einen dreieckigen Schatten über die Tür wirft. Es gibt keine Klingel, mein Klopfen hilft nichts. Die Vorhänge sind zu. VVVielleicht gibt es ja einen Hintereingang. Aus der Rückwand kommen dicke, Rote Leitungen aus den Holzwänden und bohren sich wie Würmer in den tiefschwarzen Waldboden. Sind das Starkstromleitungen? Ich gehe wieder zur Tür und klopfe erneut. Es tut sich wieder nichts. Ich drücke die Türklinke hinunter, die Tür gibt nach und geht auf.

Innen riecht es transistorisch-klamm nach feuchtem Filz und angesengtem Plastik. Es ist außerdem erstaunlich warm, obwohl der Ofen nicht eingeheizt ist. Einige pixelige Ölbilder von Wildtieren hängen an der Wand, und am Boden liegen auf dem grünen Teppich Kabel, die von allen Seiten des Raumes Richtung Treppenaufgang laufen. Die Treppe selbst ist steil und klein und kaum benutzbar mit all den bunten Kabeln, die an ihr hoch ins Obergeschoss führen. Vor allem sind es diese gelben LAN-Kabel, die ich nur zu gut von meiner Arbeit kenne. Einmal hat der komplette Server meines Büros den Geist aufgegeben, und es hat mich mehr als 1 Woche gekostet, den Server wieder zum Laufen zu bringen. Das waren die schlimmsten Tage meiner bald 20-jährigen Karriere. In meiner Erinnerung bin ich tagelang damit beschäftigt gewesen, eben solche LAN-Kabel an- und abzuklemmen, bis ich das fehlerhafte Datenkabel endlich ausfindig gemacht hatte und durch ein neues ersetzen konnte. Es war nur ein 1 Meter langes Datenkabel, das meinen Hoheitsbereich, die digitale Infrastruktur meiner Firma und somit den gesamten Betrieb lahmgelegt hatte. 

Die kleine Treppe scheint schier endlos weiter nach oben zu führen, und es werden mit jeder Stufe mehr Kabel um mich herum. Sie winden sich um das Treppengeländer, hängen von der Decke, und je höher ich komme, desto orientierungsloser werde ich. Lange Kabelkanäle knicken ab, führen wieder nach unten. Die Luft wird schwerer und trockener mit jedem Höhenmeter. Ich kann nun nicht mehr aufrecht die Treppe hinauflaufen, sondern muss mich immer weiter herunter bücken, dann schließlich kriechen aber ich suche ja nach nichts festem. Zunehmend verengt sich das Treppenhaus, die Kabel werden größer und dicker, entweder das oder ich werde immer kleiner und dünner. Ich koche gerne. Meine Uhr wird unerträglich heiß und die Ziffern spielen verrückt. Ich meine, neben all dem schmorenden Plastik nun auch eine Note von verbranntem Gras und Salbei zu riechen. Fieberoptik.

Welchen Menschen würdest du gerne einmal treffen (tot oder lebendig)? Da die Stufen nun Schicht um Schicht von Kabeln bedeckt sind, ziehe ich mich mit den Händen an ihnen empor :::  Sunken Cost Fallacy, eigentlich sollte ich umkehren. Ich steige weiter hinauf. Lili muss mich empfangen, ich bin extra diesen Turm hinaufgestiegen, das muss sie doch zumindest anerkennen. Strom zu Binärgold. Einen Kaffee nur, oder was man eben mindestens so macht, wenn ein Gast einen so langen Weg auf sich genommen hat. Schon lange kommt kein Tageslicht mehr in den Schacht doch tausende gelbe und grüne LED-Lichter morsen ein wenig Licht  hinein. Die Profilbilder haben rostrotes Haar, manchmal burschikos und kurz, manchmal fällt es in wallenden rosskastanienfarbenen Lockensträngen bis tief den Turm hinunter ::: Ich werde immer unwichtiger und klettere weiter nach oben. Sie hatte sich als eher konservative Kreatur zwischen den haarfeinen Spalt ::: Entschuldigung für die Unterbrechung. Hier ist die Fortsetzung: weltoffene Träumerin. Neben den zu erwartenden Bands wie Alt-J, Deichkind und The XX fand ich auch Dimmu Borgir und Summoning im Spotify-Profil verlinkt, zusammen mit blinkenden Glasfaserlichtern. Ich bin weltoffen und träumerisch, es könnten nur noch ein paar Mikrometer sein, so hoch war das Jagdhaus doch gar nicht. Vegan, Nichtraucher, keine Kinder, will auch keine. Ich schlüpfte durch die Hohlräume, und immer größer wurde die Menge, die schiere Menge vor mir, hinter mir, unter mir. Untentop, Obenbottom, Switch, Master- und Slaveplatte. Keine Haustiere. Immer mehr Kraft ist nötig, um im Kabelknäuel voranzukommen. Meine Glieder werden kälter und kälter, meine Blutbahnen sind abgeklemmt. Es tut richtig weh, sich durch die haarfeinen Spalten zu pressen. Die Isolationen, die mich vom glühroten Kupfer trennen, werden immer dünner, erscheinen unwichtig —

Als ich die letzte Stufe übertrete, stehe ich am Bahnhofsplatz. 17 Uhr 6. Der Linienbus ist Pünktlich. Der einäugige Busfahrer nickt mir zu. Ich steige ein „Da bist du ja. Schön, dich endlich leibhaftig zu sehen.“

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