Lena Speckmann: Unter Wasser

Der erste Eindruck, als ich aus dem Wald trete ist weiß. Weites Weiß, so weit das Auge reicht. Ich schirme meine Augen mit den Händen ab.
Das Weiß des Horizonts mischt sich mit dem Weiß des Nebels, der über dem See liegt. Es ist still, das passt zum Nebel. Und zum Weiß.
Etwas fällt ins Wasser und durchbricht die makellos spiegelglatte Oberfläche des Sees. Vielleicht eine Maus, die einem Habicht aus den Krallen entglitten ist, vielleicht auch nur Habichtkacke. Den Ringen, die sich jetzt auf dem Wasser bilden, ist das egal.
Wie auf Kommando wird auch die Stille von einem Specht durchbrochen. Das Geräusch reißt mich aus meinen Gedanken. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, ich bin noch müde und meine Augen noch nicht ganz an das Weiß gewöhnt. Ich schüttele mich und mein Rucksack mit dem Angelzeug klappert. Ich laufe hinunter zum Ufer des Sees.
Dort liegt, an einer in den See ragenden Baumwurzel angebunden, mein Ruderboot und leuchtet durch den Nebel hindurch. Es ist rot, ich habe es selbst lackiert. Es heißt Pippilotta und der Name steht groß auf dem Bug. Links Pippi, rechts Lotta. Ganz vorne an der Spitze, in weißer Schrift.
Ich greife das Seil, an dem es festgebunden ist und hole Pippilotta zu mir heran. Ich lege erst die Angel hinein, löse dann das Seil vom Baum und steige ein. Ich liebe es, wie das Boot schaukelt, wenn man einsteigt.
Ich setze mich und nehme die Ruder. Mit langen und kräftigen Schlägen bewege ich mich vom Ufer weg, zur Mitte des Sees. Letzte Woche hatte ich drei Hechte rausgezogen und gewinnbringend verkauft. Davor geschlagene sechs Wochen gar nichts gefangen und stattdessen im Boot geraucht.
Ich lege die Ruder zurück ins Boot und lasse mich treiben, während ich beginne, den Blinker an der Angel zu befestigen. Wie jedesmal, wenn ich das tue, bin ich fasziniert von dem schönen Regenbogenschimmer des Köders. Ich behalte ihn eine Weile in der Hand, lasse meine Finger über das Relief der imitierten Schuppen gleiten und betrachte ihn von allen Seiten. Wäre ich ein Fisch, ich würde sofort anbeißen.
Der Blinker ist dran. Ich kurbele ihn hoch, bis er circa einen halben Zentimeter unter der Spitze frei baumelt, hole aus, werfe und lasse ihn über den See fliegen. Knappe zehn Meter vom Boot plumpst er ins Wasser. Ich kurbel-ziehe, lasse locker, kurbel-ziehe, lasse locker. Immer wieder, in unregelmäßigen Abständen. Gleichzeitig nehme ich die Stille wahr, meine Atmung, die tief und ruhig ist.
Beim dritten Wurf beißt einer. Ich drille ihn leicht an, aber er haut ab. Einen Moment lang ärgere ich mich über meine Überstürztheit, und muss dann aber lachen. Das ganze Ärgern bringt ja den Fisch nicht zurück. Ich werfe die Angel wieder aus.
Nach zwei Stunden und einigen halbherzigen und letztlich erfolglosen Anbissen habe ich auf einmal etwas Großes an der Angel. Sie biegt sich derart, dass ich einen kurzen Moment lang versuche, mich an meinen Kontostand zu erinnern, falls ich mir eine neue kaufen muss. Ich kurbele, lasse nach, ziehe, lasse nach, kurbele. Das Miststück an der Angel ist kräftig und hat nicht vor, aufzugeben. Mir wird warm, das Boot schaukelt, Wasser schwappt hinein, der Fisch ist jetzt nur noch anderthalb Meter weg. Ich lasse locker und gebe mehr Schnur, drei Meter vom Boot weg beginne ich das Spiel von neuem und ziehe ihn ans Boot heran.
Er wehrt sich erbittert.
Ich kann ihn schon direkt unter der Wasseroberfläche sehen. Er ist ziemlich groß für einen Hecht, ein stattliches Exemplar. Ich traue mir zu, ihn zu kriegen. Ich will ihn kriegen.
Ich kurbele und ziehe, und das macht ihn wütend. Er zerrt so ruckartig an der Schnur, dass ich die Angel fast verliere. Ich erschrecke mich, gerate ins Wanken. Es ist niemals eine gute Idee, in einem Ruderboot ins Wanken zu geraten. Die Idee wird zunehmend schlechter, je kleiner das Boot ist. Meine Pippilotta ist kaum drei Meter lang.
Es kommt, wie es kommen muss, ich verliere letztlich doch zuerst die Angel und dann das Gleichgewicht.
Das 15°C kalte Wasser umfängt mich, meine Klamotten saugen sich voll wie ein Schwamm und ziehen mich nach unten. Mit aller Kraft schwimme ich der Schwerkraft entgegen, doch es geht nur langsam aufwärts. Nach einer empfundenen Ewigkeit taucht mein Kopf aus dem Wasser auf, ich schnappe nach Luft. Pippilotta wartet ruhig schaukelnd auf mich. Erst jetzt begreife ich, dass ich wirklich und wahrhaftig ins Wasser gefallen bin. Zum ersten Mal.
Irgendwie schaffe ich es, mich wieder ins Boot zu ziehen. Mir wird die Schwere meiner Glieder bewusst, es waren kaum zwei Minuten, die ich im Wasser war, aber die Kälte und der Kampf haben mir die Kraft geraubt. Ich bleibe kurze Zeit quer über dem Boot liegen, atme schnell und heftig, meine Augen geschlossen. Als meine Atmung ruhiger wird, richte ich mich langsam auf. Ein eiskalter Wassertropfen perlt aus meinem Pony auf meine Wimpern, dann meine linke Wange hinab, wie eine kühle Träne.
Ich setze mich auf und lasse den Blick über den See schweifen. Meine schöne Angel, denke ich wehmütig. Mein Lieblingsblinker, einfach weg.
Ich streiche mir das nasse Haar aus dem Gesicht und rudere zurück. Mir wird kalt und ich bin frustriert.
Kaum eine halbe Stunde später in der heißen Badewanne denke ich nicht mehr daran und bestelle mir im Internet genau die Angel, die ich gerade opfern musste. Selbst zwei Wochen Lieferzeit und die 180 Euro, die ich dafür hinblättern muss, ändern nichts an meiner guten Laune.
Ich bin ins Wasser gefallen.
Aber ich bin nicht untergegangen.

Lena Speckmann: (Un)Ordnung

„Ordnung ist das halbe Leben!“

Junge, wie ich diesen Spruch hasse. Ich weiß gar nicht mehr, ob das Mama war oder Papa, aber diesen Spruch bekam ich früher ständig zu hören. Meganervig. Was ich am meisten daran hasse? Auf der einen Seite, dass er stimmt. Man spart wirklich wahnsinnig viel Zeit, wenn man immer weiß, wo was liegt. Auf der anderen Seite frage ich mich seit meiner Kindheit, woraus denn nun aber die andere Hälfte des Lebens besteht, wenn Ordnung als solche einfach mal 50% einnimmt. Aus Steuern? Bonbons? Oder am Ende ganz profan: aus Unordnung? 

Ordnung ist praktisch. Sie spart allerdings nur dann Zeit, wenn man sie konsequent anwendet, „konsequent“ being the operative word. Denn wenn man – wie ich – eher zur Unordnung neigt und irgendwann ausnahmsweise mal etwas vernünftig und ordentlich wegsortiert, dann aber vergisst, dass man zur Abwechslung mal ordentlich war, tja, dann ist die Ordnung vollkommen unnütz. Wie oft mir das schon passiert ist, vermag ich gar nicht zu sagen, denn ich bin, richtig, sehr unordentlich.

Ich betreibe Ordnung auf andere Art. Ich sortiere lieber meine Gedanken als meine Gegenstände, und wenn sie sortiert sind, schreibe ich sie auf, das funktioniert eigentlich ganz gut. Auch bei Serien ist mir Ordnung wichtig. Ich kann Serien nicht so gut bei Folge zwei oder drei anfangen. Eigentlich ist das ja wurst, weil man fast immer super auch später in Serien einsteigen kann, die Drehbücher sind ja oft absichtlich so geschrieben, aber ich mag das einfach nicht. Das muss schon seine Ordnung haben. Einmal bin ich bei Staffel zwei einer Serie eingestiegen, die mein Freund schon kannte. Ich konnte die Serie aber erst wirklich genießen, als ich unabhängig von meinem Freund die erste Staffel nachgestreamt hatte. Bei so einem banalen Mist ist Ordnung auf einmal relevant, bei meiner Steuer und den gesammelten Belegen scheiß ich drauf.

Als Teenager stieß ich irgendwann auf den sogenannten „Sponti-Spruch“ „Wer aufräumt, ist nur zu faul zum Suchen“ und so hielt ich es mein Leben lang. Hab es ohne größere Zwischenfälle bis zur 50 geschafft.

Ich mag Ordnung als Konzept. Ich liebe auch Symmetrie. Sehr. Aber Asymmetrie liebe ich genau so. Allerdings nur, wenn sie ordentlich umgesetzt wird. Auch die Asymmetrie hat einer gewissen Logik zu folgen, damit man merkt, dass man es hier mit Asymmetrie zu tun hat und nicht mit irgendeinem Zufallsprinzip. Aleatorische Anordnungen machen mich verrückt, die mag ich nicht. Die erfordern zu viel Aufmerksamkeit. Zu viel Denkleistung, die vorausgesetzt wird. Asymmetrien sind als solche offensichtlich, bei Randomness versucht man instinktiv erst mal eine gewisse Ordnung darin zu finden. Selbst wenn es nur ein oder zwei Sekunden sind, die man vergeudet, diese Sekunden sind weg und über eine Zeit von fünfzig Jahren läppert sich das. In Summe zu viel verschwendete Gehirnkapazität, über die man noch verfügen könnte, wenn Dinge symmetrisch gewesen wären.

Wie gesagt, ich mag Ordnung. Aber ich möchte sie nicht selbst herstellen. Das verlangt mir zu viel ab. Geduld und Lebenszeit. Wenn ich sie brauche, bring ich die Geduld halt auf und quäl ich mich durch (Steuererklärung einfach jedes Jahr ein Drama, seit 25 Jahren…), ansonsten erfreue ich mich an einem außerordentlich unordentlichen Leben.

Und das ist völlig in Ordnung.

Lena Speckmann: (Un)Ordnung

„Ordnung ist das halbe Leben!“

Junge, wie ich diesen Spruch hasse. Ich weiß gar nicht mehr, ob das Mama war oder Papa, aber diesen Spruch bekam ich früher ständig zu hören. Meganervig. Was ich am meisten daran hasse? Auf der einen Seite, dass er stimmt. Man spart wirklich wahnsinnig viel Zeit, wenn man immer weiß, wo was liegt. Auf der anderen Seite frage ich mich seit meiner Kindheit, woraus denn nun aber die andere Hälfte des Lebens besteht, wenn Ordnung als solche einfach mal 50% einnimmt. Aus Steuern? Bonbons? Oder am Ende ganz profan: aus Unordnung?

Ordnung ist praktisch. Sie spart allerdings nur dann Zeit, wenn man sie konsequent anwendet, „konsequent“ being the operative word. Denn wenn man – wie ich – eher zur Unordnung neigt und irgendwann ausnahmsweise mal etwas vernünftig und ordentlich wegsortiert, dann aber vergisst, dass man zur Abwechslung mal ordentlich war, tja, dann ist die Ordnung vollkommen unnütz. Wie oft mir das schon passiert ist, vermag ich gar nicht zu sagen, denn ich bin, richtig, sehr unordentlich.

Ich betreibe Ordnung auf andere Art. Ich sortiere lieber meine Gedanken als meine Gegenstände, und wenn sie sortiert sind, schreibe ich sie auf, das funktioniert eigentlich ganz gut. Auch bei Serien ist mir Ordnung wichtig. Ich kann Serien nicht so gut bei Folge zwei oder drei anfangen. Eigentlich ist das ja wurst, weil man fast immer super auch später in Serien einsteigen kann, die Drehbücher sind ja oft absichtlich so geschrieben, aber ich mag das einfach nicht. Das muss schon seine Ordnung haben. Einmal bin ich bei Staffel zwei einer Serie eingestiegen, die mein Freund schon kannte. Ich konnte die Serie aber erst wirklich genießen, als ich unabhängig von meinem Freund die erste Staffel nachgestreamt hatte. Bei so einem banalen Mist ist Ordnung auf einmal relevant, bei meiner Steuer und den gesammelten Belegen scheiß ich drauf.

Als Teenager stieß ich irgendwann auf den sogenannten „Sponti-Spruch“ „Wer aufräumt, ist nur zu faul zum Suchen“ und so hielt ich es mein Leben lang. Hab es ohne größere Zwischenfälle bis zur 50 geschafft.

Ich mag Ordnung als Konzept. Ich liebe auch Symmetrie. Sehr. Aber Asymmetrie liebe ich genau so. Allerdings nur, wenn sie ordentlich umgesetzt wird. Auch die Asymmetrie hat einer gewissen Logik zu folgen, damit man merkt, dass man es hier mit Asymmetrie zu tun hat und nicht mit irgendeinem Zufallsprinzip. Aleatorische Anordnungen machen mich verrückt, die mag ich nicht. Die erfordern zu viel Aufmerksamkeit. Zu viel Denkleistung, die vorausgesetzt wird. Asymmetrien sind als solche offensichtlich, bei Randomness versucht man instinktiv erst mal eine gewisse Ordnung darin zu finden. Selbst wenn es nur ein oder zwei Sekunden sind, die man vergeudet, diese Sekunden sind weg und über eine Zeit von fünfzig Jahren läppert sich das. In Summe zu viel verschwendete Gehirnkapazität, über die man noch verfügen könnte, wenn Dinge symmetrisch gewesen wären.

Wie gesagt, ich mag Ordnung. Aber ich möchte sie nicht selbst herstellen. Das verlangt mir zu viel ab. Geduld und Lebenszeit. Wenn ich sie brauche, bring ich die Geduld halt auf und quäl ich mich durch (Steuererklärung einfach jedes Jahr ein Drama, seit 25 Jahren…), ansonsten erfreue ich mich an einem außerordentlich unordentlichen Leben.

Und das ist völlig in Ordnung.