Andreas Lugauer: U-Bahn-Türen

Leute, die ihr bei manuellen U-Bahntüren nur einen Flügel öffnet – eure Strafe in der Hölle sei eine ewige U-Bahnfahrt, ohne Ausstieg, ohne Endstation, es möge dabei immer morgendlicher Werktagsverkehr herrschen, alle Sitzplätze sollen belegt sein, die Stehplätze auch und euer Kopf möge angeschmiegt werden von Schultern, Oberarme sollen euch einklemmen links und rechts und vorne und hinten, Hutkrempen mögen in einer Tour euer Gesicht streicheln und Pelzkrägen ebenso, Hunde eure Hände ablecken, sämtliche Handschlaufen mögen vollgeniest sein mit gelbem und grünem und meinetwegen auch weißlichem Lungenauswurf, Heuschrecken sollen durchs Abteil schwärmen, Frösche eure Hosenbeine hochschleimen, Mücken und Fliegen in eurem nassgeschwitzten Kragen sitzen, Stroh soll herumliegen und ihr euch fragen warum, an jeder Haltestelle mögen Abgase ins Abteil schwallen (und zwar durch vollständig geöffnete Türen!), der Schaffner möge fortwährend unverständliche Durchsagen machen, die verstanden zu haben ihr bestätigen müsst, nach jeder Station sollt ihr kontrolliert und wegen Schwarzfahrens zur Strafkasse geschickt werden, Harn- und Stuhldrang möge euch plagen bis kurz vorm Zerreißen und jede Haltstelle soll aus nichts als Toiletten bestehen (dumm nur, dass ihr ja nie aussteigen könnt), in Erbrochenem von Wochenendnachtfahrgästen sollt ihr stehen bis zu den Knöcheln, der Schweiß soll nicht nur die Fenster beschlagen, sondern auch von der Decke tropfen, der U-Bahnfahrer soll in die U-Bahnhöfe bremsruckeln, dass es euch fast auskommt, der Fahrgast neben euch möge Elektro hören, als sei Samstagnacht im Club, in den Kreißsaal sollt ihr dringend müssen und auf eine Beerdigung, zu einer Prüfung wie zur Konkursverhinderung eurer Firma, der Blinddarm möge euch plagen in der Größe vom Schoße bis zum Halse, die rettenden Insulinspritzen mögen in den U-Bahnhöfen bereitstehen (dumm nur, dass ihr ja nicht aussteigen könnt), euer Vater möge euch vom vorderen Abteilende beäugen und eure Mutter vom hinteren, die Lampen sollen flackern und [Fragment]

Andreas Lugauer

(*1986 in Straubing/Niederbayern) west in Nürnberg-West und studiert Geisteswissenschaftliches und Allzugeisteswissenschaftliches in Erlangen. Er würde aber nicht sagen, dass er nach Erlangen pendelt, weil das ja hieße, dass er sich sofort nach der Ankunft in Erlangen wieder auf den Rückweg nach Nürnberg machen würde, und das stimmt einfach nicht. Am liebsten hätte er geschrieben, er erledige seine Biographie hauptsächlich in Nürnberg usw., aber diese hübsche Formulierung hat sich Max Goldt ausgedacht und die nicht gekennzeichnete Verwendung wäre unredlich (die gekennzeichnete hingegen ungelenk).
Nur ungern geboren, schreibt er zur Verarbeitung der ganzen Scheiße komische Miniaturen, Allotria und Quisquilien ins Facebook hinein, was die Leute mit durchschnittlich 0–9 Likes honorieren. Seine größten Hits: 3+x Beiträge im endgültigen Satiremagazin »Titanic«.
In einer Art fortlaufender Gesammelter Schriften veröffentlicht er seine Texte auf seinem Blog Salon du Fromage.
Anmerkung: A. Lugauer ist bis heute bester und einziger* erster WordPress-Abonnent von Eisi und Meisi. Dafür kriegt er unter Umständen bald einen Orden verliehen. Wahrscheinlich aber nicht (keine Zeit). Gez.: H.K.E.
*aberkannt etwa November 2018


Andreas Lugauer bei EBMD:

Andreas Lugauer: Der Kokon des Philosophen

Weniges ist so gehaltlos und doch so unterhaltsam wie Klatsch und Tratsch. Dies gilt freilich auch für die Damen und Herren Philosophinnen und Philosophen. Gassenhauer im Philosophen-Gossip ist seit je das privathäusliche Verhalten des berühmtesten deutschen Idealisten, Immanuel Kant aus Königsberg. Was für eine wunderliche, neurotische Type er gewesen sein muss: Sein Tagesablauf war streng geplant, vom pünktlichen Aufstehen um 5 Uhr morgens über die nach dem Frühstück abgeleistete Arbeit in der Studierstube, die Vorlesungstätigkeit an der Universität und das Mittagsmahl im Kreis von Freunden – alles ging so pünktlich vonstatten, dass Zeitgenossen raunten, nach Kants Gewohnheiten könne man die Uhr stellen. Lagen die Schreibutensilien nicht an ihrer zugewiesenen Position oder stand ein Stuhl nicht dort, wo er sollte, befiel ihn schon die Unruhe. Dass Kant zeitlebens unverheiratet und kinderlos war, es lag wohl auch daran, dass mit der Zahl der Hausbewohner die Gefahr steigt, dass Gegenstände entwurzelt werden. Also lachte er sich nur einen Diener an.
Dieser Diener, Martin Lampe, hatte ihn jeden Morgen pünktlich zur selben Zeit zu wecken. Wie berichtet wird, war die Schlafenszeit in Kants Stundenplan wie alles andere genau geregelt: jede Nacht von 22 Uhr bis Viertel vor fünf Uhr. Mehr, das wäre Kant gefährlich erschienen. War er doch der Ansicht, jedem Menschen sei vom Schicksal eine bestimmte Portion Schlaf zugemessen worden. Wer in seinen besten Jahren zu viel Zeit damit verbringe, verbrauche sein Kontingent zu schnell und brauche sich gar nicht einzubilden, alt werden zu können – denn wer sein Pensum verschlafen hat, muss sterben.
Sterben, so scheint es, wollte Kant offenbar im Schlaf. Wie ein unbekannt bleibender und wahrscheinlich auch unbekannt bleibend wollender Zeitgenosse enthüllte, hatte Kant eine besondere Fertigkeit, sich in seine Decke einzuwickeln: Er schwang sich in die Matratze, zog einen Zipfel der Decke über seine Schulter unter dem Rücken durch bis zur anderen und – so der anonyme Zeitgenosse: durch eine einzigartige Geschicklichkeit! – auf die gleiche Weise auch den anderen Deckenzipfel, diesen jedoch nach vorne bis zum Oberkörper, sodass er schließlich eingesponnen dalag wie in einem Kokon; und damit für den Fall des nächtlichen Ablebens gleich praktisch eingewickelt zum Abtransport ins Leichenhaus. Kenner der Kantischen Philosophie mögen zustimmen: ebenso, wie man sich diesen Einwickelvorgang nur schwer vorstellen kann, kann man sich allzu oft kaum vorstellen, was Kant mit dem, was er schrieb, meinte, weil er seine Sätze derart über die Zeilen wand und schraubte und verschachtelte und, ja, wickelte, dass du dir beim Lesen meist wie eingesponnen vorkommst und dir, an besonders schwierigen Stellen, durchaus auch den Abtransport ins Leichenhaus wünschst.
Aber – was geht’s uns eigentlich an, wie sich dieser berühmteste aller deutschen Philosophen ins Bett legte? Richtig, die Anonymität des Ausplauderers legt es schon nahe: nichts. Wie es ja, außer der Familie und sonstigen Intimbekanntschaften, eigentlich überhaupt niemanden etwas angeht, wie sich irgend jemand einbildet, sich ins Bett legen zu müssen. Nahe liegt jedoch auch der Verdacht, dass es sich bei der Kolportage von Kants Marotten und Neurosen um eine Art Vergeltung all derer handelt, die, den Verfasser eingeschlossen, letztlich doch nicht so ganz kapieren, was Kant philosophisch zustande brachte. Die aber, wenn die Rede auf den Königsberger Philosophen kommt, immerhin sofort etwas daherzureden wissen, und wenn’s auch nur die Bettgeschichte ist. Klatsch und Tratsch gehen schließlich immer.