Harald Kappel: Hochgeladen

die Leiche
meines Vaters
riecht nach dem Telefunkenapparat
meiner Mutter
das Niveau am Sterbebett
wird peinlich genau protokolliert
die Fotografie
des aufgeschnittenen Herzens
zeigt an seinen Rändern
unverdauten Spinat
die sectionale Präparation
vermittelt den Eindruck
als wär er noch da
fieberhaft knacken Schädelknochen
intensives Denken setzt ein
die Augennerven kratzen von innen heraus
am Klavier wird ein läppisches Lied gespielt
ich lade seine Facebookseite hoch
und zeige sie
am offenen Sarg
seine Freunde sind drei
er hat zwei Likes
in viertausend Stunden
ich hatte ihn blockiert
die Leiche meines Vaters
wird peinlich genau hochgeladen
sie riecht nach dem Telefunkenapparat
meiner Mutter

Harald Kappel: MolekülWolke

im polyzyklischen Kohlenwasserstoff
der Sterne
entdecke ich das Aroma deines Aufgesetzten
hinter dem Thresen
lagern Meteoriten
bringen chemisch
die Evolution in den Biergarten
ich relativiere die Theorie
allgemein korrekt
zur Feier des Tages
öffne ich
praktisch die nächste Flasche
fantasiere vom Nobelpreis
stopfe mir
nicht rechtzeitig
das Maul
und verdampfe
am Ereignishorizont

Harald Kappel: FischBrötchen

Masse ist
im Universum
kein fester Ort
das Ticken
der Atomuhr
ein metrisches System
es sprengt
den Klang
der Strahlung

still
wird Ursache
zu Wirkung
das Seltsame
zum Alltag
der Meridian
zum Ereignishorizont

die Glut der Sterne
beizt
Lärm und Leere
zu Rauchaal
am Morgen
riecht ein Brötchen
nach Mutters Locken

die leise Zeit
brennt im Ofen
die Bombe
tickt gewöhnlich
das System
wird
zur Wirkung
ein Fischbrötchen
wird
zur Ursache

Katrin Rauch: 42 verse zur lage der g-fläche

luft dunkler nebelsache
begreifen was da ist
liegt streicht schwebt
sich räkelt um die taille
nasses knistern verteilt
mit küssen geflissentlich beträufelt
das auge blitzt begehren umher
der blick flickt zusammen
was aus nähe nur vereinzelt
schichtet wangen in handflächen
und finger in den nacken
ins haar gleiten fassen
schwimmen strähnen
le lobe de l’oreille comme l’aube
le soleil a la veille de s’lever
chère chair de poule
moulée sur ton souffle
zungenspitzen in taillentälern
über schlüsselbeine ziehen
die hüfte erhebt sich
süße hügel zu bewandern
sanfter wellengang

wen interessiert schon das rohe
das pimmelgelutsche das unempfindliche
wenn ich dein aufbäumen gegen
brachiale mythen haben kann
wie das jungernhäutchen
das es auch noch zu verletzen gelte
wer sich diesen schmarrn schon wieder ausgedacht hat
kann kein glücklicher mensch sein
wer sich das mit dem stecker in der steckdose
mit dem bleistift im spitzer
mit dem braten in der röhre
mit dem würschtel im apple pie
hat noch nie ein gefühl
und noch seltener eine fähige hand gehabt

luft dunkler nebelsache
zerfließe in strömen bitte
tauche meine handrücken
fest neben meinen ohren
in das weiche heiße rauschen
die wogen zu plätten.

Carsten Stephan: Backe, backe Kuchen

Nach einem Rezept
von Kenneth Goldsmith

Backe, backe Kuchen,
Der Bäcker hat gerufen:
Wer will guten Kuchen backen,
Der muß haben 144 Sachen:

E 100, E 101, E 102, E 104,
E 120, E 122, E 124, E 129,
E 131, E 132, E 133,
E 140, E 141, E 142,
E 150, E 151, E 153, E 155,
E 160, E 161, E 162, E 163,
E 170, E 171, E 172, E 173.

E 200, E 202, E 203,
E 214, E 215, E 216, E 217,
E 218, E 219,
E 220, E 221, E 222, E 223,
E 224, E 226, E 227, E 228,
E 260, E 261, E 262, E 263,
E 270, E 280, E 281, E 282, E 283,
E 296.

E 300, E 301, E 302, E 304,
E 306, E 307, E 308, E 309,
E 310, E 311, E 312,
E 320, E 321, E 322, E 325,
E 326, E 327,
E 330, E 331, E 332, E 333, E 334,
E 335, E 336, E 337, E 339,
E 340, E 341,
E 350, E 351, E 352, E 354,
E 380.

E 400, E 401, E 402, E 403,
E 404, E 406, E 407,
E 410, E 412, E 413, E 414, E 415,
E 420, E 421, E 422,
E 440, E 442, E 450,
E 460, E 461, E 463, E 464,
E 465, E 466,
E 470, E 471, E 472, E 475,
E 481, E 482.

E 500, E 501, E 503, E 508,
E 516, E 530, E 575,
E 620, E 621,
E 950, E 951, E 952, E 953,
E 954, E 959,
E 965, E 966, E 967.

E 1410, E 1412, E 1413, E 1414,
E 1420, E 1422,
E 1440, E 1442,
E 1518.

E 110 macht den Kuchen gehl!
Schieb, schieb in Ofen ’nein.

Carsten Stephan: Fachrechnen für Bäcker

Goldsmith-Variationen


1.
Zum Verbacken von 100 kg Mehl
sind 35 000 kcal notwendig.
Wieviel kg Braunkohlenbriketts
sind beim Brustofen unter
Berücksichtigung des
Wärmeverlustes erforderlich?

2.
Eine Konsumbäckerei erhält
ein Faß Trennemulsion im Gewicht
von 58,8 kg. Das Faß wiegt 12,25 kg.
Wieviel Kilogramm netto sind
geliefert worden?

3.
In einer Bäckerei sollen 185 kg Teig
hergestellt werden. Der Anstellsauer
beträgt 0,4 %, der Anfrischsauer
1,4 %, der Grundsauer 18 %, der
Vollsauer 55 % der Teigmenge.
Wieviel Kilogramm muß
jede Stufe wiegen?

4.
Auf der Beute liegen 82,5 kg
Weißbrotteig. Nach dem Abwiegen
werden 75 Weißbrote gezählt.
Wieviel Kilogramm beträgt
die Teigeinlage für ein Weißbrot?

5.
Eine Backbrigade hat täglich 1,2 t
Roggenmehl zu verarbeiten.
Die Gebäckausbeute beträgt
durchschnittlich 142,5 %.
Wieviel Kilogramm Brot
werden hergestellt?

6.
Wieviel Gramm Asche sind
in 80 kg Weizenmehl Type 812
bei einem Wassergehalt
von 14,5 % enthalten?

Harald Kappel: An der wilden Haltestelle

an der wilden Haltestelle
unter dem Fahrplan
sammle ich Herzschläge
küsse Worte
von deinen Eiscremelippen
betrete deine bunte Pupille
male Träume auf der Netzhaut
dringe durch den Sehnerv
ins Geschmackszentrum
meine Zunge
leckt die Erdnussbutter
aus deinen Erinnerungen
ich trinke das Hirnwasser
es verdunstet
als hübscher Nebel
auf der Kirchturmspitze
hängen die Gedanken
jeder kann unsere Sehnsucht sehen
auf dem Fahrplan
an der wilden Haltestelle

(aus Gedichtband „Stereotomie“ Harald Kappel)

Harald Kappel: Tiere in der Ausstellung

in der Glasmenagerie
stellen sie gefaltete Gedanken
und leere Bücher aus
ich wende mich ab
hinter den beschlagenen Fenstern
würgt ein eiserner Fasan
altbackene Liebesbriefe
in den Trinknapf
zwischen den Zeilen
schlummern Giftpilze
ich trinke
mit zusammengepressten Lippen
doch ich trinke
in meinem Kopf
gerinnt flüssiges Quecksilber
zu Erinnerungen
unten
in der Küche
zweihundert Jahre erbärmlicher Alltag
Gott sei Dank
ertrunken der Vater
ein langweiliger Specht
oben
am Nachthimmel
traumwandelnde Ansammlungen
ein silbernes Luftschiff
ein weißer Zwerg
ein schwarzes Loch
hübsche Fantasien
ich wende mich ab
mittendrin
ich
male
hübsch
ein hilfesuchendes Bildnis
ich stempele es
zur Sicherheit
fünfmal
unter dem nahen Brückengeländer
lebt ein dunkler Fluss
mit einer schimmernden Haut
zwischen den Wasserfällen
schwimmen ungestempelte Fische
aus der Unterwelt
ein ertrunkener Specht
in der Glasmenagerie
öffnen sie
die leeren Bücher
und stellen meine Gedanken aus

(aus Gedichtband  „Nasse Landstraße nachts“ Harald Kappel)

Katrin Rauch: We can always tell

Körper sind Spektren.
An manchen ist Speck dran,
an manchen Spinat,
Gewürze, Glutamat.
Gekocht und gebraten,
roh in Salaten,
mit Zimt und Zucker,
Butter und Panad‘,
und biologisches Geschlecht ist ein witziger Serviervorschlag.

Was du bist, ist ein Körper, leblose Materie, ein Zellhaufen, ein gewaltiger, zu gewaltig, wenn du mich fragst, da könnten schon ein paar Zentimeter weg hier und da, und dort ein paar dazu, das mundet dem Auge besser, das macht dich verständlich und einordenbar, denn das da,… das hat da ja eigentlich gar nichts zu suchen, denn …

We can always tell! Ich sag‘s mal so: Dein Körper ist eine Box und du ragst halt leider aus deiner heraus, denn …

We can always tell! 1. Nein. 2. Ähm, du, also, ähm, du hast da so einen, also, wie soll ich sagen, also … du hast einen Damenbart.

We can always tell! 1. Nein. 2. Hawara, das ist kein Damenbart, das ist ein Bad-Ass-Bitch-Bart.

We can always tell! 1. Nein. 2. Ich habe einen Körper und der wird mich verraten. Mein Körper wird dir sagen, ob das auch ja zusammenpasst, was du über mich annehmen magst.

Ich kann in einer Gruppe Cis-Dudes sitzen, drei davon haben längere Haare als ich, wir haben alle ähnliche Kleidung an, wir trinken alle dasselbe Getränk, sitzen alle gleich da, einer hat lackierte Fingernägel und ich bin ja eigentlich eh froh, deiner Trinkanimation zu entgehen, aber bitteschön 1. nicht mit den Worten „Du bist a Frau, du darfst aussetzen.“ und 2. werden meine Freunde trotzdem dazu genötigt, sich noch drei Stamperl in ihre maskulinen Münder an ihren maskulinen Stimmbändern vorbei in ihre maskulinen Mägen zu ballern, denn ihre maskulinen Lebern sind ja für sowas gemacht.

We can always tell! 1. Nein. 2. Ich habe einen Körper und der ist müde. Ich kann mich drehen und wenden, anders stehen, verändern, mit Füßen und Händen rudern und kentern, solange ich nicht an mir herumschnipseln lasse oder Substanzen zu mir nehme – und das kann man ja wollen, aber ich will es aber nicht wollen müssen – wird das erste, was Leute über mich glauben zu wissen, sein, dass … ja, was überhaupt …

We can always tell! 1. Nein. 2. Wofür? Was hast du davon? Was willst du mit diesem Halbwissen anfangen, wenn du nicht meine Ärztin bist? Dass mein Körper wenig bis gar nichts mit meinen Lebensgewohnheiten zu tun haben muss, es sei denn, jemand zwingt mich dazu, ist hoffentlich inzwischen bei halbwegs allen angekommen, also was willst du mir damit sagen?

We can always tell! 1. Nein. 2. Es ist wirklich nicht meine Schuld, dass ihr die Boxen so klein macht, dass kaum jemand reinpasst.

We can always tell! 1. Nein, das könnt ihr nicht 2. Ich weiß, dass die nun folgende Ausführung kein zielführendes oder diskursfreundliches Argument darstellt, aber haltet doch einfach die Fresse!

We can al [unterbrochen durch ein:] schschschsch…

Liebe Cis-Typen mit feinen Gesichtszügen,
Liebe Buben mit Manboobs,
Liebe Siegfrieds unter 1,70,
Liebe Ingrids über 1,70,
Liebe Damen, die mehr Bart als ihre Brüder haben,
Liebe Homofrauen mit Monobrauen,
Liebe Gören mit Girldicks,
Liebe men-struierenden Männer,
Liebe Mannsweiber, Zniachtl und verhunzte Burschen,
Liebe Kings mit kleinen Knien,
Liebe Queens mit kantigem Kinn,
Liebe Non-Binary-Dynasty,

Körper sind Spektren.
An manchen ist Speck dran,
an manchen Spinat,
Gewürze, Glutamat.
Gekocht und gebraten,
roh in Salaten,
mit Zimt und Zucker,
Butter und Panad‘.
und biologisches Geschlecht ist ein witziger Serviervorschlag.

So ein Rezept aus den USA, bei dem die Mengen nie stimmen und die halben Zutaten nicht erhältlich sind:
– „Oh, nein, zu dumm aber auch, da müssen wir wohl umdisponieren.“
– „Ach, scheiß‘ aufs Rezept, wir improvisieren.“