Wie jede gute Tiergeschichte handelt auch die folgende von Menschen. Doch keine Sorge. Kein Tier wird vernachlässigt oder verschwiegen werden. Jedenfalls, solange es sich um Wale handelt. Denn worum geht es? Es geht um den gefährlichsten Beruf der Welt, den Walzähler.
Pausenlos sind sie unterwegs, die Walzähler, auf hoher See, durch Sturm und Eis, zick und zack über Atlantik, Pazifik und Bodensee – und zählen Wale. Von Montag bis Freitag zwischen 9 und 18 Uhr (außer an Feiertagen) durchpflügen die Schiffe der Walzählerflotte die Weltmeere, unbeirrbar einem großen Ziele folgend: der vollständigen Erfassung und Befragung aller lebenden Wale.
Der Walzähler steht am Bug des Zählschiffes. Klar erkennbar im gelben Ölzeug und stets bereit, dem Wal den Stempel an den Kopf zu schleudern, den Hebel des Walzählapparates herum zu reißen und abschließend dem Wal noch ein paar Fragen zu Herkunft und Werdegang zu stellen.
Die Stempelharpune unter den Arm geklemmt, in der linken Hand das Klemmbrett, in der rechten den Kugelschreiber mit original Oktopus-Tinte, mit einem Sturmband um den Hals gesichert, so stellen leider bis heute viele populäre Darstellungen den Walzähler bei der Ausübung seines Berufes dar. Und entsprechen dabei auch noch absolut der Wahrheit.
»Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?« lautet die finale und wichtigste Frage eines Walzählers an den Wal. Doch nur wenige kommen je soweit. Eine falsche Bewegung, eine dumme Frage, und sowohl das Leben des Walzählers mitsamt Formblatt ist keinen Walpups mehr wert. Obwohl dieser immerhin den gleichen Brennwert wie zwei Kubikdezimeter Stadtgas hat.
Sagen und Legenden ranken sich seit unvordenklichen Zeiten um diesen Beruf. So wird mit Sicherheit jeden Abend irgendwo auf der Welt in einer Hafenkneipe die Geschichte vom schwarzen Wal zum Besten gegeben.
Der schwarze Wal, so munkelt und runkelt man nämlich, war einer der hartnäckigsten Antwortenverweigerer, die je einen Ozean mit der Schwanzflosse aufpeitschten. Er schlich sich jeden Frühling ins Mittelmeer ein, ohne sich zählen zu lassen. Dabei lauerte an der Straße von Gibraltar ein Großteil der mächtigen europäischen Walzählerflotte, die kühnsten Walzähler an Bord, ausgerüstet mit dem modernsten technischen Klingeling – und dennoch: der schwarze Wal wurde erst nach über fünfzehn Jahren gnadenlosen Stalkings in der Nähe von Alexandria von einem philippinischen Zähler gestempelt und entkam dann nach der dritten Frage …
Oder die inzwischen zum Kult avancierten Anekdoten über den Schlau-Wal – wer kennt sie nicht? Er antwortete stets mit einer Gegenfrage, niemandem gelang es, ihm eine persönliche Auskunft zu entlocken. Zeit seines Lebens brachte keiner seinen Namen in Erfahrung, weder seine Reisepläne für den nächsten Sommer, noch seine monatlichen Ausgaben für Krill und Musik-Kassetten (Die besten Walgesänge der siebziger, achtziger und neunziger Jahre).
Natürlich darf auch der Einfaltspinsel von Walzähler nicht unerwähnt bleiben, der Ende der 1970er Jahre über eine Stunde lang ein sowjetisches Atom-U-Boot befragte. Schließlich entstieg der Kapitän dem Turmluk und drohte dem unglücklichen Zähler mit einer Dachterrasse wegen Spionage. Und das, obwohl der Fragebogen noch komplett leer war …
Anfänger der Walzählerei schaffen es selten, mehr als vier oder fünf Antworten zu bekommen. Alter, Geburtsort und Familienstand, das Reiseziel, konfessionelle Vorlieben und die bevorzugte Marke der Bartenputzpaste – das war’s in den meisten Fällen dann auch. Dann haben die Wale die Schnauze voll und tauchen ab.
Unvergessen bleiben deswegen die wahnsinnig komischen Verwicklungen, welche die berühmt-berüchtigten Zwillingswale Marianne und Michael im Nordpazifik anrichteten. Ewigen Ruhm verdienten sich schließlich die Bezwinger dieses japanischen Walduos, das lange Jahre scheinbar nach Belieben die Walzählerzunft nach Finne und Flosse foppte. Solange, bis die Zunft den Spieß umdrehte und ein Drillingspack Walzähler anheuerte. Zu dritt legten diese die Walzwillinge aufs Kreuz, fragten sie erbarmungslos bis zur letzten Antwort aus und verpassten beiden die volle Salve von drei Stempeln, mitten auf den Rüssel.
Es mag heute kaum noch vorstellbar sein, aber vor dreißig Jahren stand der Beruf des Walzählers kurz vor dem Aussterben. Das lag vor allem daran, dass das Interesse des Publikums stark gelassen hatte. Ende der 1970er Jahre waren nur noch zwei Männchen und ein Weibchen übrig geblieben. Von diesen stammt die gesamte heutige Walzähler-Population ab, die sich mittlerweile wieder auf eine stabile Stärke von weltweit etwa 5.000 Exemplaren eingependelt hat.
Das Zuchtprogramm des World Whale Count Fonds WWCF war beispiellos erfolgreich. Der einzige Kritikpunkt mag bei genauerer Betrachtung überhaupt nicht als problematisch gesehen werden: rund die Hälfte der Wahlzähler, die heute den Planeten bevölkern, stößt beim Sprechen mit der Zunge an. Insbesondere tragisch, da im Fragebogen besonders viele »s« -Laute enthalten sind. Diese ganz besondere – und ein Stück weit irgendwie auch niedliche Eigenschaft – hat ihren Ursprung im Genom des einen Stammvaters der modernen Walzähler.
Wissenschaftler hatten zwar von Anfang an darauf hingewiesen, dass das betroffene Männchen während seiner gesamten Walzählerlaufbahn lispelte, daher von den Walen nicht ernst genommen, sondern gehänselt, gemobbt und ausgelacht wurde, ehe die Riesensäuger das Interesse verloren und den vertikalen Abgang machten, ohne sich zu entschuldigen. Dennoch gab es keine Alternative als auch dieses Walzähler-Männchen ins Zuchtprogramm aufzunehmen.
Die Gattung der Verkehrsunfallmaler ist bekanntlich vor einigen Jahren endgültig ausgestorben – allen Bemühungen des internationalen Programms zum Schutz bedrohter Berufsarten zum Trotz. Der Bestand der Walzählerei jedoch scheint heute gesichert. Ein großer Erfolg des Berufsartenzuchtprogramms, der den – viel zu vielen – anderen bedrohten Lohnerwerben wie Tunnelblickmechaniker oder Schwalbennestvergolder Mut und Hoffnung schenken kann und wird!
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Theobald O.J. Fuchs
Theobald Otto Johann Fuchs kam 1969 im schönen Dörfchen Artelshofen im oberen Pegnitztal auf die Welt. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Hersbruck zog er hinaus in die Welt und studierte Mathematik und Physik, bis er 1998 in Erlangen zum Doktor promovierte.
Fuchs tritt seit 15 Jahren regelmäßig als Verfasser von Hörspielen, Moderator verschiedener populärwissenschaftlicher Sendungen und Darbieter von Lichtbildvorträgen (»Tschernobyl«, »Die Zukunft der Vergangenheit«, »Das Gender-Gap in den MINT-Fächern« u.a.) in Erscheinung.
Seit 1997 schreibt Fuchs zudem Glossen für die Satirezeitschrift Salbader. Ein wenig später begann er, im Magazin TITANIC unter der Rubrik »Vom Fachmann für Kenner« lustige Miniaturen zu veröffentlichen, Beiträge für die Kolumne »Fürther Freiheit« in den Fürther Nachrichten zu erdichten und Glossen an die Tageszeitung taz zu schicken. 2014 gewann Fuchs mit seiner Geschichte »Der Tote im Wehr« den ersten Jurypreis des Fränkischen Krimipreises.
Dies ließ beim Nürnberger Magazin CURT den Wunsch aufkommen, monatlich eine bebilderte Kolumne aus seiner Feder abzudrucken. Ein Wunsch, dem Fuchs seitdem in enger Zusammenarbeit mit der Fotografin Katharina Winter gernstens nachkommt.
Es folgten zahlreiche Beiträge zu Kriminalkurzgeschichtenanthologien aus der Reihe Tatort Franken und anderen. Im Juli 2016 erschien Fuchs‘ erster Kriminalroman »Niemand ruht ewig«, im Dezember 2017 der zweite mit dem einprägsamen Titel »Altstädter Friedhof in Erlangen, 14. Mai, 10 Uhr 30, meine 35. Beerdigung, die zahlreichen Nachkommen streiten am Grab um den Fernsehsessel des 73-Jährigen«. Aktuell ist im Juni 2018 von Fuchs der Kurzkrimi »Kumpels über den Tod hinaus« in der Anthologie »Fränkischer Krimisommer« bei ars vivendi erschienen.
Theobald Fuchs bei EBMD
Autor
- Theobald Fuchs: Wenn die Zukunft mit voller Absicht am Wartehäuschen vorbeifährt
- Theobald Fuchs: Muggngiddafligga
- Theobald Fuchs: Trash
- Theobald Fuchs: Nukleares Epos (Auszug)
- Theobald Fuchs: Schwimmende Erinnerung
- Theobald Fuchs: Be-Fra-Gung
- Theobald Fuchs: Sabinchenstadt
- Theobald Fuchs: Wenn die Familie zum Überliefern anfängt
- Theobald Fuchs: Es ist nicht immer vorteilhaft, gut zu schmecken
- Theobald Fuchs: Denken, trocknen, sammeln, zu Staub, weiter.
- Theobald O.J. Fuchs – Garten
- Theobald Fuchs: Fernsehen
- Theobald Fuchs: Fliegen
- Theobald Fuchs: Tapezierer – Gefährder oder gefährdet, so viel ist unklar!
- Theobald Fuchs: Heißgetränk.
- Theobald Fuchs: Geist
- Theobald O.J. Fuchs: SEX (eine wahre Begebenheit)
- Theobald O.J. Fuchs: Langeweile
- Theobald Fuchs: Sucht
- Untot in Gostenhof: (6) Ida im Büro
- Untot in Gostenhof: (5) Kindervergrämer
- Theobald O.J. Fuchs: Frühstück
- Untot in Gostenhof: (4) Serban zockt
- Theobald O.J. Fuchs: Haarflugzeug
- Theobald O.J. Fuchs: Magie
- Theobald O.J. Fuchs: Ekstase
- Theobald O.J. Fuchs: Waldlagebericht
- Theobald O.J. Fuchs: Noisette
- Theobald O.J. Fuchs: Das Bett
- Theobald O.J. Fuchs: Das Diätdiktat
- Theobald O.J. Fuchs: Walezählen
Theobald Fuchs‘ Hörspielreihe „Untot in Gostenhof“
- Untot in Gostenhof: (1) "Besuch am Balkon"
- Untot in Gostenhof: (2) "Hochzeitsvorbereitungen im Wald"
- Untot in Gostenhof: (3) "Die große Angst"
- Untot in Gostenhof: (4) Serban zockt
- Untot in Gostenhof: (5) Kindervergrämer
- Untot in Gostenhof: (6) Ida im Büro
Sprecher
- Theobald Fuchs: Muggngiddafligga
- Bastian Kienitz: Treibstoff zum Feuern
- Carsten Stephan: Bauhaussiedlung Dessau
- Simon Borowiak: Bleib sauber!
- Harald Kappel: gebeizt
- Theobald Fuchs: Nukleares Epos (Auszug)
- Carsten Stephan: November
- Theobald Fuchs: Schwimmende Erinnerung
- Carsten Stephan: Eichendorff auf Abwegen
- Theobald Fuchs: Be-Fra-Gung
- Theobald Fuchs: Sabinchenstadt
- Theobald Fuchs: Wenn die Familie zum Überliefern anfängt
- Theobald Fuchs: Es ist nicht immer vorteilhaft, gut zu schmecken
- Theobald Fuchs: Denken, trocknen, sammeln, zu Staub, weiter.
- Theobald O.J. Fuchs – Garten
- Theobald Fuchs: Fernsehen
- Theobald Fuchs: Fliegen
- Theobald Fuchs: Tapezierer – Gefährder oder gefährdet, so viel ist unklar!
- Theobald Fuchs: Heißgetränk.
- Theobald Fuchs: Geist
- Theobald O.J. Fuchs: SEX (eine wahre Begebenheit)
- Theobald O.J. Fuchs: Langeweile
- Theobald Fuchs: Sucht
- Theobald O.J. Fuchs: Magie