Lisa Neher: Kunst.

Ich war 20 Jahre alt, als ich mich an der Akademie der Bildenden Künste bewarb
und ich will euch gar nichts vormachen, will gleich raus mit der Sprache: Ich wurde
nicht genommen. Aber nochmal ein paar Schritte zurück: Zumindest meine Mappe
wurde für interessant befunden, mein ganzes jugendliches Herz steckte darin,
meine Träume, meine Glaubenssätze. Schaut man heute in das Weltgeschehen,
das oft so groß und grausam ist, lässt sich meine Kunst von damals als ein braves
Aufbäumen zusammenfassen. Denn ich kam aus Bullerbü und da war die Welt ein
Bilderbuch, wie Schweden im Sommer, wo die Sonne immer scheint und die Nacht
niemals wirklich dunkel genannt werden kann.

Ich wurde zum Eignungstest geladen. Die Aufgabe, die mein Geeignetsein unter
Beweis stellen sollte, lautete: „WIR SCHREIBEN DAS JAHR 2035! WELCHER
TREND SCHOCKIERT UND FASZINIERT DIE MENSCHEN GLEICHERMASSEN?“
. Nun hatte ich es mal gar nicht so mit futuristischen Trends. Mir wollte einfach nichts einfallen. Der junge Mann, der mir gegenüber saß, schrieb unentwegt die Zettel voll, die vor ihm lagen. Und noch einen und noch einen. Irgendwann stand er auf und verließ den Raum, seine Idee vergrößerte sich, zog ihn raus unter die Leute. Er war mir sympathisch. Später dann, als alles vorbei war und sich die obligatorischen Grüppchen bildeten, fand ich ihn wieder und stellte mich zu ihm. So als wäre der Boden unter uns ein Pausenhof, so als hätten wir einen Biotest im Rücken und so als wären wir alle drauf und dran in die Runde
zu fragen, ob unsere Definition vom Endoplasmatischen Retikulum mit der der
anderen übereinstimmt. Er erzählte mir von seiner Trendvision: „Schönheits-OPs!
Die Leute werden total ausrasten! Keiner wird mehr aussehen wie vorher und
trotzdem alle gleich!“ Um die Aufgabe zu bewältigen, hatte er alle seine
Freund*innen zusammengetrommelt und sie gebeten, sich Tesafilm um den Kopf
zu wickeln bis ihre Gesichter zu deformierten Fratzen verknetet waren. Dann hat er
sie fotografiert. Er wurde genommen.

Der heutige Tag liegt elf Jahre hinter der Aufnahmeprüfung und zehn Jahre vor Halbzeit. Ich bin jetzt 31 Jahre alt und ich will euch verraten: Ich denke hin und wieder an den Tesafilmchirurgen. Es ist nicht wegen der Sympathie, ich muss euch enttäuschen, das hier wird keine romantische Geschichte. Es ist die Biologie, die mich nachdenklich macht. Denn seit geraumer Zeit, kommt es immer wieder vor, dass sich befremdliche Wörter in die Münder meiner Freundinnen legen. Fadenlifting, Hyaluron-Filler und (der-dessen-Name-nicht-genannt-werden-darf-und-wenn-überhaupt-dann-höchstens-im-medizinischen-Kontext) Botox. Minimalinvasiv & natürlich, natürlich.

Und während wir die zehnjährigen Mädchen, die wir mal waren, dafür verteufeln,
dass sie die Schminke aus der Wendy in ihre Gesichter geschmiert haben,
während wir kopfschüttelnd an unser zwölfjähriges Ich denken, das sich den Hello
Kitty Push-Up BH übergestülpt hat, während wir der mutigen, jungen Feministin
auf Instagram noch schnell ein Herz dafür geben, dass sie im letzten Post ihre
Achselhaare in die Kamera gehalten hat, rufen wir bei der Praxis an, die sich der
Ästhetik verschrieben hat, und lassen uns einen Termin geben.

Es war einmal eine Königin.
Die Königin war glücklich, denn sie war reich und schön, sie hatte eine kleine gesunde Tochter und keinen Mann, der ihr in die Suppe spuckte, nur ab und an ein paar Liebhaber, die sie zu sich in die Kutsche lockte, wenn sie auf Dienstreise war. Die Kutsche war ein Porsche 924 S. Es fehlte ihr an nichts. Wenn überhaupt, hatte sie ein bisschen zu viel von allem. Zum Beispiel die Falte auf ihrer Stirn, die zwischen den Augenbrauen, die war zu viel. In den ersten Jahren mit der Falte sagte die Königin: da mag eine Falte sein, aber sie steht für meinen Zorn. Und der hat mich dorthin gebracht, wo ich heute bin.

Ihre Berater waren anderer Meinung. Sie sahen neben dem Zorn auch das Alter auf der Stirn ihrer Königin, also erfüllten sie ihre Beratungsfunktion: Sollte eine Herrscherin wie sie nicht makellos sein? Sich niemals fügen müssen? Warum soll sie sich dem Lauf der Zeit ergeben, wo sie doch sonst alles unter ihrer Kontrolle weiß? Die Königin war selbstbewusst und klug, aber das gab ihr zu denken und so verkaufte sie ihren Zorn schliesslich an einen fahrenden Händler. Ihre Stirn war von nun an glatt wie der Marmor in ihrem Schlossgarten. Sie sagte: „Ich fühle mich toll. Niemand ahnt den Eingriff, man kommentiert nur mein frisches Aussehen.“

Da ertönte ein Lied in der Ferne. Wie ein Schwarm Mauersegler flochten sich die Töne mit einer Entschlossenheit in die Lüfte, die Hoffnung und Glückseligkeit versprachen, aber im Kern auch irgendwie traurig waren. Und als eine Bardin mit dem schönen Namen Adrianne den Weg entlang kam, sang sie mit einer Kraft, dass es das ganze Land hören konnte:

I’m afraid of getting older, that’s what I learned to say
Society has given me the words to think that way
The message spirals: Don’t get saggy, don’t get grey
But the soft and lovely silvers are now falling on my shoulder
My mother and my grandma, my great-grandmother too
They wrinkle like the river, sweeten like the dew
And as silver as the rainbow scales that shimmer purple blue
How can beauty that is living be anything but true?
So let gravity be my sculptor, let the wind do my hair
Let me dance in front of people without a care


Nun kann die Königin schnell als privilegierte Kapitalistin abgestempelt werden, die singende Bardin als barfüßiger Hippie. Doch der Gedanke, sich in den Lauf der Zeit zu schmiegen wie in eine lieb gemeinte Umarmung, gefällt mir deutlich besser, als ein halbes Leben lang gegen etwas zu kämpfen, das ohnehin im Kleingedruckten stand, als wir den Deal des Menschseins unterschrieben haben. Wir leben und wir welken. Wenn wir das nicht anerkennen können, lassen wir uns täuschen von einem System, das uns vorgaukelt, dass alles ewig sein kann. Dann blättern wir alle sechs Monate 250€ auf den Praxistresen, um die kleinen Zeichnungen unserer Abenteuer in unseren Gesichtern auszuradieren, denn überraschenderweise ist sogar die Wirkung von Nervengift vergänglich und muss
halbjährlich aufgefrischt werden. Somit steht langanhaltende Schönheit, in ihrer
modernen Definition, nur denen zur Verfügung, die es sich auch leisten können.

Ich hörte die Herzen vieler Frauen brechen, als das Alter ihre Bühne betrat. Der Grund dafür ist ein trauriges Rätsel. Sie sind so stark, aber sie sind auch erschöpft. Sie tragen ihr ganzes Leben lang das ewige Ungenügend huckepack. Manche bringen unter seinem Gewicht Kinder zur Welt. Alle schleppen es täglich zur Arbeit, vorbei an Bushaltestellen, an denen eine 52-jährige Heidi Klum ihnen in Unterwäsche zuzwinkert. Anstatt den alternden Körper zu feiern und zu ehren für das, was er alles möglich gemacht hat, wie das in Kulturkreisen außerhalb des Westens durchaus der Fall ist, mäkelt die kapitalistische Gesellschaft daran herum, sobald er die Spuren eines Lebens trägt. Wir machen es wie mit den vielen Gegenständen, die wir so lieben: Was alt ist, wird ausgetauscht, was kaputt ist, wird weggeworfen. Also gilt es, bloß nicht alt und kaputt zu sein. Wir halten fest: Der Kapitalismus schafft das Problem und verkauft auch die Lösung. Was für ein Geschäftsmodell!

Lieber Tesafilmchirurg,
bitte sieh es mir nach, dass ich so hart ins Gericht gehe mit deiner Vision. Ich meine: Es funktioniert ja. Deine Vorhersage schockiert UND fasziniert mich. Du wurdest zu recht angenommen. Wenn du das hörst, hast du deinen Abschluss schon in der Tasche. Du arbeitest vermutlich in einer Agentur oder bist freischaffender Künstler. Vielleicht bist du erfolgreich, aber in jedem Fall bist du älter geworden. Wie stehst du zu den neuen Linien in deinem Gesicht? Hortest du schon Klebeband? Wie geht es deiner Mutter? Vielleicht ist sie gerade in den Wechseljahren und könnte eine Umarmung gebrauchen. Vielleicht ist sie auch schon aus dem Gröbsten raus. Ruf sie trotzdem mal wieder an und sag danke für alles.

    Lisa Neher: Braun

    „So groß wie ein Fußballfeld.“ Ein Vergleich, den wohl jeder versteht, in einer Gesellschaft, in der ein Sport sich sogar auf das Kaufverhalten der Menschen im Supermarkt ausübt. Stell dir vor, es ist Weltmeisterschaft: Du hast zu viel von deinem Deutschlanddosenbier getrunken und musst auf die Toilette mit Deutschlandklositz, wo du deine Tchibo- Deutschlandunterwäsche ausziehst und deinen Hintern mit Deutschlandtoilettenpapier abwischst. Wenn es um Limited-Editions geht, ist jeder Fan. Denn es gibt Deutschlandbeutel, Deutschlandschnürsenkel, Deutschlandsüßigkeiten, Deutschlandzahnbürsten, Deutschlandshampoo, Deutschlanddeodorants, Deutschlandtaschentücher, Deutschlandkondome, Deutschlandkippen, Deutsch-land-spül-ma-schi- nen-tabs. Verbrauchen Druckereien mehr M Y und K, wenn irgendeine Meisterschaft ist? In dieser Saison würde ich gerne in die Farbschläuche der Druckmaschinen beißen wie ein Marder. Dann würden die drei Farben auf den Boden auslaufen und unten am Boden eine Pfütze bilden. Die wäre dann braun, braun braun. So wie alle Farben, die man als Kind im Wasserfarbmalkasten – welch ausgefallen kreative idee – mischen wollte, braun wurden. Und was wäre dann übrig? Alles, Bedruckbare würde Cyan. Cyan oh du Retterin des Friedens und der Freude. Klar wie ein blauer Himmel wäre dann alles ganz plötzlich. Und die Welt wäre eine bessere.

    Lisa Neher: Venus

    Das ist Nadja. Gerade sitzt sie an der Nummer drei von sechsundzwanzig. Die Arbeit an der Kasse mag sie sehr, das Fließband ist ihr Laufsteg, die Kassenbucht ihre Bühne. Pro Stunde rauschen rund zweihundert Kunden an ihr vorbei und allen schenkt sie ihr
    spiegelgeprüftes Supermarktlächeln, gratis zum Einkauf obendrauf. Die glossy
    geschminkten Lippen formt sie – nur leicht – zu einem rosa schillernden Halbmond,
    gerade so, dass die Faltenbildung sich auf ein Minimum beschränkt. Würde sie lächeln
    und es bei jedem dahergelaufenen Kunden auch wirklich so meinen, das ergäbe um die achthundert mal am Tag, würde die Muskelgruppe rund um ihre verlängerten Wimpern eine wichtige Hautpartie in Falten legen und das würde ihre Jugend, naja sagen wir ihr jugendliches Aussehen, versauen. Sie würde dann aussehen wie eine vierzig, aber sie ist neununddreißig. Und sie ist heiß, so heiß. Das weiß sie, weil die Blicke der richtigen Männer lüstern und die der richtigen Frauen beißend sind – wie saurer Regen sind. Doch eigentlich wird sich daran, selbst wenn sie bald vierzig ist, auch nichts ändern – spätestens dann wird sie genug Geld für notwendige Maßnahmen haben. Letztes Jahr um diese Zeit aber hat Nadja all ihr Geld und all ihre Urlaubstage auf einmal genommen.

    Einfach den Winter ausblenden und dorthin fahren, wo es warm ist, davon träumen sie, die Leute in Mitteleuropa. Im Internet gab es tolle Angebote für Fernflüge in die ganze Welt. Mit Schnäppchen kennt Nadja sich aus, also hat sie die Sparangebote
    durchforstet, geduldig wie die Göttin, die sie ist. Und so ließ sie sich nach Südamerika fliegen, wo sie in einem schicken Ferienresort residierte, um dort Muscheln zu essen,
    Gincocktails mit Beeren zu trinken und mindestens zweihundertfünfundzwanzig Tage zu bleiben. Am Ende waren es vierundzwanzig.

    „Wir öffnen Kasse vierundzwanzig für Sie.“ Endlich. Der Startschuss für den
    Feuerameisenhaufen am Marktende. Nervös analysieren die Kundenköpfe die Lage der Konsumation: Lohnt es sich stehen zu bleiben, oder soll ich noch wechseln? Wie viel hat der Typ da hinter mir? Wie groß ist der Einkaufswagen der Mutti, die sich ihren Weg zum Zahlen bahnt? Ob ich wirklich richtig steh? Eins, zwei oder drei. Die Schlange an der Nummer drei, an der Nadja sitzt, war viel zu lang geworden und der Druck hoch. Egal wie schnell man das Zeug über den Scanner zieht, die Kunden haben die Kontrolle. Sie trödeln, trödeln, trödeln und schmeißen damit Nadjas Kassenproduktivität über den Haufen, der sich am Ende des Pults in Form von Wildlachsimitat und Haarspray – zum Beispiel – stapelt. Jenga, Tetris, Mikado – alles ein Witz dagegen, denn die Arbeit an der Kasse ist kein Spiel. Sie ist ein sich ständig wiederholender Zweikampf, Dienstleister gegen Käufer und am Ende muss doch immer der Kunde König bleiben. Letztes Jahr um diese Zeit war Nadja die Königin. La Reina. So wurde sie immer von den Animateuren im Hotel genannt. Die haben Bikram Hot Yoga gemacht und Komplimente und die besten Drinks im – naja, im Land kann sie nicht sagen, denn sie hat das Resort eigentlich nie verlassen – wozu auch? Auf jeden Fall besser als alles, was sie zuhause je gekostet hatte.

    Erdbeeren im Dezember, denn im Supermarkt gibt es schon lange keine Jahreszeiten
    mehr. Sprühsahne aus der Dose, Kuh egal. Bananen. Ein Damenrasierer. Pinkes
    Markenprodukt, und für Marke muss man zahlen, für pink sowieso. Schön blöd, wo es
    doch Heißwachs gibt. Das schmerzt zwar, doch sitzengelassen werden nach einem
    perfekt vorbereiteten Date auch – denkt Nadja, während sie die Waren abkassiert, und
    Viel Glück. Dass Erdbeeren mit Schlagsahne ein gutes Sexleben und somit den Erhalt
    der Beziehung prophezeien ist ein Mythos, der schneller geschmolzen ist als ein
    Eiswürfel auf nackter Haut. Aber Nadja sagt: „Vierundzwanzig, fünfundsechzig, bitte.“
    Die Kundin hört das nicht, denn sie hat Kopfhörer im Ohr und glotzt auf die Preisanzeige.

    Sehr höflich. Wahrscheinlich hört sie George Michael oder irgendeinen Kuschelrock-Klassiker, um sich schonmal auf Erotik zu polen.
    Letztes Jahr um diese Zeit saß Nadja am Tresen des Club Tropicana. Die Himbeeren
    am Boden der Martinigläser waren schnapsgetränkt und einer der Animateure hatte
    Schichtende. Während sie da so gemeinsam allein unter den palmenförmigen
    Neonlichtern schwitzten, fragte er nach ihrem Leben in Deutschland und nach ihrem
    Mann. Er fragte nach Kindern und Nadja sagte „da ist keiner“. Aber sie erzählte ihm alles andere, vor allem von der Arbeit und er antwortete was von the stars … the moon … you… wow.

    Bananen, Olivenöl, Kleenex-Box, Kondome. Was hast du vor, du widerliches Arschloch, denkt Nadja und sagt „Neun, siebenundachtzig, bitte.“ Der Kunde streckt ihr seine geballte Faust entgegen, ignoriert die Kleingeldablage am Kassenband und lässt Münzen mit Körpertemperatur in Nadjas notgedrungen offene Hand fallen. Dass der Betrag, wie er mit süffisantem Lächeln beteuert, passen sollte, glaubt sie sofort und schmeißt das Geld ohne zu zählen in die Schublade. So ambitioniert wie er diesen
    Einkauf getätigt hat, muss er bereits zuhause zusammengerechnet haben, wie viel seine Anschaffung kosten wird. Dann hat er die Münzen aus seinem Sparschwein gekippt und sie in seiner schwitzigen Pranke durch die halbe Stadt getragen, durch die Straßen, durch die Gänge, durch die Schlange, um sie nun wie flüssiges Gold in die
    wohlgecremte Hand der Kassiererin träufeln zu lassen. „Die Nummer drei schließt, bitte legen sie keine Waren mehr aufs Band.“ Nadja greift zum Desinfektionsmittel.

    Letztes Jahr um diese Zeit wollte der Animateur vögeln, aber Nadja sagte „Ne ne,
    Amigo“. Immer wieder hat sie seine Hand von ihrem Oberschenkel genommen und mit ihren falschen Fingernägeln einen Kreis in die Luft um ihren Körper gezeichnet, um ihre Zone klarzumachen. Dann streckte sie ihre Handflächen in seine Richtung, um seine Zone zu definieren. My place, your place. Der Animateur nickte, Nadja kicherte, er griff neckisch nach ihren Fingern und wurde nicht müde.

    Pepsi Cola, Club Mate, Apfelschorle, Mineralwasser – still und spritzig. Stapelchips,
    Brezen vom Backshop, Trauben – rot und grün. Die Waren der Anarchie. Die Anarchie
    der Supermarktkunden. Sie nehmen sich ein Getränk aus dem Kühlschrank und trinken drauf los. Sie sprühen sich ein mit Testern und verlassen das Geschäft, in dem sie eine dicke Wolkenschicht aus Parfum hinterlassen. Sie pflücken sich Trauben – man muss ja schließlich sicher gehen, dass das, wofür man gleich sein Geld ausgeben wird, auch schmeckt – und stopfen sie sich in den Mund. Dabei fühlen sie sich wie die letzten
    Revoluzzer. Oder irgendwie erhaben. „Ich darf das, ich werde das ja gleich bezahlen.“
    Letztes Jahr um diese Zeit hatte Nadja plötzlich Panik. Ihr wurde mal wieder klar, dass
    ihre Schönheit vergänglich ist, da würden ihr auch keine Spas und Schönheitsfarmen im All-Inclusive-Programm weiterhelfen. Dass vielleicht schon in einem Jahr kein gut
    gebräunter Hotel-Animateur mehr ihre Hand am fackelumsäumten Bambustresen halten würde, machte sie traurig – war ihre Attraktivität doch alles, worauf sie sich ihr ganzes Leben lang verlassen hatte. Sie hatte weder finanzielle noch zwischenmenschliche Sicherheit zu bieten und da begann der Gin salzig durch ihre Tränenkanäle zu fließen.
    Auf ihre Wangen und auf das Polohemd des Animateurs.

    Hackfleisch, Joghurt, Fischstäbchen, Bourbonvanille Eiscreme. Kurz vor Feierabend
    geht Nadja durch die Gänge und schmeißt weg, was nicht mehr an seinem gekühlten
    Platz liegt. Den ganzen Tag über nehmen unentschlossene Einkäufer Produkte aus der
    Kälte, denken dann fünf Meter weiter Nein doch nicht und legen es zu den
    Herrenhemden. Oder zu den Eiern aus Bodenhaltung oder zu den Schnittblumen.
    Kühlschränke, die eigentlich Kühlregale sind, weil sie keine Türen haben, kühlen ja sowieso den ganzen Raum, oder? Die Sachen schmelzen trotzdem, erst im Markt, dannim Container. Nadja und ihre Kollegen diagnostizieren eine unterbrochene Kühlkette und gehen nach Hause.

    Letztes Jahr um diese Zeit war Nadja immer noch wach. Es war schon spät und sie
    konnte den Sekundenzeiger der Armbanduhr hören, die ganz nah an ihrem Ohr tickte.
    Der Animateur streichelte über ihre Stirn und ihr sonnengebleichtes Haar. In seinem
    Schoß. Die metallischen Kettenglieder um sein Handgelenk funkelten teuer. Moment
    mal. Sie hob den Kopf und musterte den Mann vor sich noch einmal genau, sein
    makelloser Teint, seine starke Brust, das gestickte Logo darauf. Das waren Luxusartikel, die mit Sicherheit nicht allein vom Trinkgeld eines Hotelangestellten finanziert waren.
    Was war seine Masche?

    Bananen, Kokosnüsse, Granatäpfel, Mangos. Die Leute glauben immer, das
    Warenangebot im Supermarkt sei ein Beweis für den Fortschritt der Welt. Aber eigentlich dreht sich das alles in die falsche Richtung. Es gibt kein richtiges Leben im Supermarkt.
    Avocados wachsen in Mexico, Tomaten in Spanien. Flaschensammler geben Pfand
    zurück. Salatgurken sind bio unter der Plastikfolie. Achtzehnjährige bezahlen die
    Zigaretten und geben sie an irgendjemandes kleine Geschwister weiter. Die LKW-Fahrer lassen sich auf den süßen Geschmack von Automatencappuccino einladen und
    schimpfen über den Stau auf der A9, wenn Nadja um fünf Uhr früh die Ware annimmt.
    Sie schiebt die Pappkartons über die Edelstahlrampe und biegt an diesem Morgen
    rechts ab statt links. Im Schatten eines Leerpalettenstapels öffnet sie die Bananenkisten, reißt das Plastik auf und räumt die halbreifen Früchte zur Seite. Am Boden der Schachtel liegen zehn vakuumierte Päckchen und Nadja lächelt. Sie lässt ihre Ringe über das einfolierte weiße Pulver streifen und muss richtig lachen. Die Partie um ihre braunen Augen legt sich in Falten. Jetzt wird es Geld regnen. Jetzt wird sie reich sein und für immer schön.

    Lisa Neher: Life is a rollercoaster

    In der Popmusik der Neuzeit werden Leben und Liebe oft mit Abenteuerspielplatz verglichen. Schon Ronan Keating wusste: „Life is a Rollercoaster you just gotta ride it.“ Oder Kimya Dawson singt: „My Rollercoaster’s got the biggest ups and downs – as long as we keep moving it is unbelievable“. Sie sind allgegenwärtig, die Ups, die Downs – aber manchmal fühlt sich das ganze weniger wie eine gaudigen Achterbahn an, sondern vielmehr nach „Riding Solo“. Nach schäbigem Geräteturnen. Betrachten wir als Beispiel mal eine Wippe. Schon mal jemanden beobachtet, der einsam auf einem dieser frustrierenden, nach Zweisamkeit schreienden Pärchengeräten saß? Lächerlich, wie das aussieht. Hilflos. Man könnte auch denken: Er oder sie will nur da sitzen. Die Wippe zweckentfremden, blockieren, damit kein Team der Welt dort Spaß haben kann. Ich stelle mir vor, auf so einem Spielplatz zu sein und beobachte mich selbst, wie ich auf dieser Wippe sitze – allein – und mal jammere, mal ganz zufrieden aussehe.
    Das denke ich, wenn ich jammere: Toll, niemand ist da, der mit mir spielen will. Oder niemand ist da, mit dem ich spielen kann. Vorhin hat zwar Martin aus der 5a gefragt, aber der hat ein gebrochenes Bein, wie soll denn der wippen können? Ist doch viel zu gefährlich, soll er in drei Wochen wieder kommen, wenn sein juckender, stinkender Gips weg ist, er ihn sorgfältig in einen gläsernen Schrein verstaut hat und wenn man 50 Cent in ein Kästchen wirft, geht das Licht an. Dann sieht man all die Unterschriften darauf, die ihn bis an sein Lebtagsende daran erinnern werden, wie beliebt er in seiner Jugend war, so überhaupt nicht allein und Get Well Soon und HDL.
    Das denke ich, wenn ich zufrieden aussehe: Ist das nicht schön, draußen in der Natur, die Gänseblümchen, die meine nackten Zehen kitzeln hahaha, die Sonne scheint und oh da fliegt eine Hummel, die erste dieses Sommers (und der ist noch nicht alt). Fliegt viel zu schwer für die Luft, die sie trägt, viel zu schwer, so wie ich für dieses Spielzeug auf dem ich sitze aber das macht mir gar nichts aus, denn das Milcheis in meiner Hand – das zwanzigste dieses Sommers (und der ist noch nicht alt) ist köstlich und eins will ich sowieso nicht und zwar: Wippen.
    Denn vorausgesetzt da käme jetzt jemand an, ein Freund vielleicht und mit dem wippt man dann so durch die Gegend: Dieses ständige Aufschlagen auf verformtem Kautschuk – meist einem ausrangierten Autoreifen – der an der Unterseite des Wippensitzes befestigt ist, um die Stöße abzufedern. Autsch. Man spürt jeden einzelnen Aufprall in der Wirbelsäule. Die waren auch nie das, was sie mal hätten sein sollen, die Reifen. Früher war alles besser, als sie noch zu einem Auto gehörten, als Quartett an einer Karosserie und nicht einsam und halb im Boden versunken. Sie sind verantwortlich für den Schmerz, der mir vom Steißbein hoch bis ins Genick schießt, während mein Gesäß hart ummantelt wird von einer verkrusteten, ausgeblichenen roten Plastikschüssel, die obendrein noch viel zu klein ist für meinen weißen Milcheisarsch. Aber ich hätte jemanden zum Spielen.
    Aber was, wenns doch kein Freund ist, der da kommt? Ich erzähle euch was dann passiert: An einem dieser Sommersonnennachmittage, an denen man sich versehentlich mit einem „gemeinen“ Kind eingelassen hat. Nichtsahnend und voller Vertrauen – nur das gemeine Kind, die Gravitation und ich – wippen wir so, dass unsere Sorgen gen Himmel katapultiert werden und STOPP Mitten in der Luft bleibe ich stehen. Werde stehen gelassen. „Haha!“ schreit das gemeine Kind. Es hat sich mit der Schwerkraft verbündet. Rien ne va plus, nichts geht mehr. Mit der Gummikappe seiner schmutzigen Converse-Sneakers hat es sich unter dem Gummireifen festgekrallt. Gummi zu Gummi, Staub zu Staub. Ich hänge in eineinhalb Metern Höhe und bin auf erstaunlich freie Art gefangen. Wer braucht schon Boden unter den Füßen? Ich kann die Welt von oben sehen und werde das noch eine ganze Weile können, denn gemeine Kinder sind geduldige Kinder. Ich hab jemanden
    zum Spielen.
    You’ve really got me flying tonight You almost got us punched in a fight But, baby you know The one thing I gotta know
    We found love So don’t fight it Life is a rollercoaster Just gotta ride it

    Lisa Neher: Sick of this flat

    In letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass meine Wohnung mich krank macht. Ich weiß nicht wie dieses Gefühl sich ausgebreitet hat, vielleicht zusammen mit dem Schimmelfleck unter dem Fenster direkt neben meinem Bett. Vielleicht ist der Schuld daran. Er hat sich im Verborgenen verteilt wie ein Ausschlag auf meiner sonst kalkfarben weißen Wand. Gestern habe ich ihn entdeckt. Direkt neben der Heizung, die eigentlich nur Attrappe ist.
    Daran könnte es auch liegen – in meinem Zimmer ist es chronisch kalt. Der Vermieter ist mehr kreativ als handwerklich veranlagt, denn ihm fallen stets neue Ausreden für die nicht angeschlossene Zentralheizung ein. Außerdem wohnt unter uns keiner, dessen aufsteigende Wärme wir nachhaltig mitbenutzen könnten, das heißt der Boden ist dementsprechend: Auch kalt.
    Vielleicht ist es aber auch mein Mitbewohner, der mich krank macht. Ich nenne uns Geschwister, wir erzählen uns alles, ich trage seine Jacken und wir uns gegenseitig. Doch seit einigen Wochen reden wir kaum noch. Das einzige was ich von ihm höre ist die Musik, die sich spät am Abend aus seinen Boxen durch die durchlässigen und somit nutzlosen Wände in mein Zimmer drückt. Jetzt ist es seine Songauswahl, die mir von seinen Gefühlen erzählt. Und seine geschlossene Tür. Er braucht Zeit für sich, ich weiß. Und die Grippe hat ihn auch.
    Trotzdem ist mein Kopf voller Gedanken, während ich versuche meine Freundschaft mit einer Kulanz zu betanken, die nur Eltern eines Teenagers kennen müssen, wenn dieser um 00:03 Uhr immer noch nicht zuhause ist und dann am Tag darauf schweigsam und nach Schnaps stinkend im Sonntagsbraten rumstochert.


    Lisa Neher

    Als Kurt Cobain 1994 den Stab im Staffellauf des Lebens weiterreichte, stieg die Einwohnerzahl eines kleinen Allgäuer Dorfs von circa 83 auf circa 84 Menschen. Dort, mit Löwenzahnfeldern in den Ohren und Kuhglocken zwischen den Zehen, wuchs Lisa Neher auf – wohlbehütet wie das Smartphone einer Vierzehnjährigen. Orte wie dieser, die vom öffentlichen Verkehrsmittel namens Bus nur zwei mal wochentäglich angesteuert werden (7:00 Uhr früh und 13:30 Uhr mittags), fördern die Kreativität und außerdem das Interesse für Literatur und Musik ungemein. Zumindest bei L.N. – also zog sie 2014 nach Nürnberg, um Kommunikationsdesign zu studieren, im Musikverein tätig zu sein und Bücher in der Buchhandlung Jakob an die richtigen Menschen zu verteilen.


    Lisa Neher bei EBMD

    Autorin

    Sprecherin