Ich war 20 Jahre alt, als ich mich an der Akademie der Bildenden Künste bewarb
und ich will euch gar nichts vormachen, will gleich raus mit der Sprache: Ich wurde
nicht genommen. Aber nochmal ein paar Schritte zurück: Zumindest meine Mappe
wurde für interessant befunden, mein ganzes jugendliches Herz steckte darin,
meine Träume, meine Glaubenssätze. Schaut man heute in das Weltgeschehen,
das oft so groß und grausam ist, lässt sich meine Kunst von damals als ein braves
Aufbäumen zusammenfassen. Denn ich kam aus Bullerbü und da war die Welt ein
Bilderbuch, wie Schweden im Sommer, wo die Sonne immer scheint und die Nacht
niemals wirklich dunkel genannt werden kann.
Ich wurde zum Eignungstest geladen. Die Aufgabe, die mein Geeignetsein unter
Beweis stellen sollte, lautete: „WIR SCHREIBEN DAS JAHR 2035! WELCHER
TREND SCHOCKIERT UND FASZINIERT DIE MENSCHEN GLEICHERMASSEN?“. Nun hatte ich es mal gar nicht so mit futuristischen Trends. Mir wollte einfach nichts einfallen. Der junge Mann, der mir gegenüber saß, schrieb unentwegt die Zettel voll, die vor ihm lagen. Und noch einen und noch einen. Irgendwann stand er auf und verließ den Raum, seine Idee vergrößerte sich, zog ihn raus unter die Leute. Er war mir sympathisch. Später dann, als alles vorbei war und sich die obligatorischen Grüppchen bildeten, fand ich ihn wieder und stellte mich zu ihm. So als wäre der Boden unter uns ein Pausenhof, so als hätten wir einen Biotest im Rücken und so als wären wir alle drauf und dran in die Runde
zu fragen, ob unsere Definition vom Endoplasmatischen Retikulum mit der der
anderen übereinstimmt. Er erzählte mir von seiner Trendvision: „Schönheits-OPs!
Die Leute werden total ausrasten! Keiner wird mehr aussehen wie vorher und
trotzdem alle gleich!“ Um die Aufgabe zu bewältigen, hatte er alle seine
Freund*innen zusammengetrommelt und sie gebeten, sich Tesafilm um den Kopf
zu wickeln bis ihre Gesichter zu deformierten Fratzen verknetet waren. Dann hat er
sie fotografiert. Er wurde genommen.
Der heutige Tag liegt elf Jahre hinter der Aufnahmeprüfung und zehn Jahre vor Halbzeit. Ich bin jetzt 31 Jahre alt und ich will euch verraten: Ich denke hin und wieder an den Tesafilmchirurgen. Es ist nicht wegen der Sympathie, ich muss euch enttäuschen, das hier wird keine romantische Geschichte. Es ist die Biologie, die mich nachdenklich macht. Denn seit geraumer Zeit, kommt es immer wieder vor, dass sich befremdliche Wörter in die Münder meiner Freundinnen legen. Fadenlifting, Hyaluron-Filler und (der-dessen-Name-nicht-genannt-werden-darf-und-wenn-überhaupt-dann-höchstens-im-medizinischen-Kontext) Botox. Minimalinvasiv & natürlich, natürlich.
Und während wir die zehnjährigen Mädchen, die wir mal waren, dafür verteufeln,
dass sie die Schminke aus der Wendy in ihre Gesichter geschmiert haben,
während wir kopfschüttelnd an unser zwölfjähriges Ich denken, das sich den Hello
Kitty Push-Up BH übergestülpt hat, während wir der mutigen, jungen Feministin
auf Instagram noch schnell ein Herz dafür geben, dass sie im letzten Post ihre
Achselhaare in die Kamera gehalten hat, rufen wir bei der Praxis an, die sich der
Ästhetik verschrieben hat, und lassen uns einen Termin geben.
Es war einmal eine Königin.
Die Königin war glücklich, denn sie war reich und schön, sie hatte eine kleine gesunde Tochter und keinen Mann, der ihr in die Suppe spuckte, nur ab und an ein paar Liebhaber, die sie zu sich in die Kutsche lockte, wenn sie auf Dienstreise war. Die Kutsche war ein Porsche 924 S. Es fehlte ihr an nichts. Wenn überhaupt, hatte sie ein bisschen zu viel von allem. Zum Beispiel die Falte auf ihrer Stirn, die zwischen den Augenbrauen, die war zu viel. In den ersten Jahren mit der Falte sagte die Königin: da mag eine Falte sein, aber sie steht für meinen Zorn. Und der hat mich dorthin gebracht, wo ich heute bin.
Ihre Berater waren anderer Meinung. Sie sahen neben dem Zorn auch das Alter auf der Stirn ihrer Königin, also erfüllten sie ihre Beratungsfunktion: Sollte eine Herrscherin wie sie nicht makellos sein? Sich niemals fügen müssen? Warum soll sie sich dem Lauf der Zeit ergeben, wo sie doch sonst alles unter ihrer Kontrolle weiß? Die Königin war selbstbewusst und klug, aber das gab ihr zu denken und so verkaufte sie ihren Zorn schliesslich an einen fahrenden Händler. Ihre Stirn war von nun an glatt wie der Marmor in ihrem Schlossgarten. Sie sagte: „Ich fühle mich toll. Niemand ahnt den Eingriff, man kommentiert nur mein frisches Aussehen.“
Da ertönte ein Lied in der Ferne. Wie ein Schwarm Mauersegler flochten sich die Töne mit einer Entschlossenheit in die Lüfte, die Hoffnung und Glückseligkeit versprachen, aber im Kern auch irgendwie traurig waren. Und als eine Bardin mit dem schönen Namen Adrianne den Weg entlang kam, sang sie mit einer Kraft, dass es das ganze Land hören konnte:
I’m afraid of getting older, that’s what I learned to say
Society has given me the words to think that way
The message spirals: Don’t get saggy, don’t get grey
But the soft and lovely silvers are now falling on my shoulder
My mother and my grandma, my great-grandmother too
They wrinkle like the river, sweeten like the dew
And as silver as the rainbow scales that shimmer purple blue
How can beauty that is living be anything but true?
So let gravity be my sculptor, let the wind do my hair
Let me dance in front of people without a care
Nun kann die Königin schnell als privilegierte Kapitalistin abgestempelt werden, die singende Bardin als barfüßiger Hippie. Doch der Gedanke, sich in den Lauf der Zeit zu schmiegen wie in eine lieb gemeinte Umarmung, gefällt mir deutlich besser, als ein halbes Leben lang gegen etwas zu kämpfen, das ohnehin im Kleingedruckten stand, als wir den Deal des Menschseins unterschrieben haben. Wir leben und wir welken. Wenn wir das nicht anerkennen können, lassen wir uns täuschen von einem System, das uns vorgaukelt, dass alles ewig sein kann. Dann blättern wir alle sechs Monate 250€ auf den Praxistresen, um die kleinen Zeichnungen unserer Abenteuer in unseren Gesichtern auszuradieren, denn überraschenderweise ist sogar die Wirkung von Nervengift vergänglich und muss
halbjährlich aufgefrischt werden. Somit steht langanhaltende Schönheit, in ihrer
modernen Definition, nur denen zur Verfügung, die es sich auch leisten können.
Ich hörte die Herzen vieler Frauen brechen, als das Alter ihre Bühne betrat. Der Grund dafür ist ein trauriges Rätsel. Sie sind so stark, aber sie sind auch erschöpft. Sie tragen ihr ganzes Leben lang das ewige Ungenügend huckepack. Manche bringen unter seinem Gewicht Kinder zur Welt. Alle schleppen es täglich zur Arbeit, vorbei an Bushaltestellen, an denen eine 52-jährige Heidi Klum ihnen in Unterwäsche zuzwinkert. Anstatt den alternden Körper zu feiern und zu ehren für das, was er alles möglich gemacht hat, wie das in Kulturkreisen außerhalb des Westens durchaus der Fall ist, mäkelt die kapitalistische Gesellschaft daran herum, sobald er die Spuren eines Lebens trägt. Wir machen es wie mit den vielen Gegenständen, die wir so lieben: Was alt ist, wird ausgetauscht, was kaputt ist, wird weggeworfen. Also gilt es, bloß nicht alt und kaputt zu sein. Wir halten fest: Der Kapitalismus schafft das Problem und verkauft auch die Lösung. Was für ein Geschäftsmodell!
Lieber Tesafilmchirurg,
bitte sieh es mir nach, dass ich so hart ins Gericht gehe mit deiner Vision. Ich meine: Es funktioniert ja. Deine Vorhersage schockiert UND fasziniert mich. Du wurdest zu recht angenommen. Wenn du das hörst, hast du deinen Abschluss schon in der Tasche. Du arbeitest vermutlich in einer Agentur oder bist freischaffender Künstler. Vielleicht bist du erfolgreich, aber in jedem Fall bist du älter geworden. Wie stehst du zu den neuen Linien in deinem Gesicht? Hortest du schon Klebeband? Wie geht es deiner Mutter? Vielleicht ist sie gerade in den Wechseljahren und könnte eine Umarmung gebrauchen. Vielleicht ist sie auch schon aus dem Gröbsten raus. Ruf sie trotzdem mal wieder an und sag danke für alles.