Nicolai Hagedorn: Unwahre Alltagsschurken

Häufig hört man, wirkliche Helden seien Leute, die unbemerkt Großes leisten.
„Held des Alltags“ kann demnach im Grunde jeder werden, der sich irgendwie nützlich macht. Besonders „stille“ bzw. „wahre“ Helden sind beliebt und wer nach ihnen Ausschau hält, findet sich bald in einer Stadt wieder, von der man nur hoffen kann, sie hätte keinen solchen, deren „Mannheimer Morgen“ aber meldet, es reichten oft „kleine Gesten, die Menschen zu Helden des Alltags – und damit zu „Kavalieren der Straße“ – machen.“ Kavaliere der Straße? Jepp, sagen die Mannheimer, man habe bereits über 60.000 als solche ausgezeichnet, sogar zwei Frauen (Eden und Lisa), die einmal ein entlaufenes Pferd eingefangen hätten. Es gibt auch eine FIT FOR FUN-Heldin des Alltags (70 Kilo abgenommen), Wuppertal hat einen „Alltagsheld in Fußballschuhen“, die Schreibwarenfirma „odernichtoderdoch“ vertreibt einen „Schreibtischorganizer A4 Alltagsheld“ und galileo.TV kürte kürzlich den „Gummihandschuh“ zum Alltagshelden, weil er „so widerstandsfähig“ sei: „Saubere Hände, griffige Finger, sterile Operationen: Das alles geht am besten mit Gummihandschuhen.“
Alles in allem, die Auflistung zeigt´s, sind Alltagshelden eigentlich Idioten. Wo und wann immer es hoch her geht, kommen sie angepacet und sorgen für Ruhe und Ordnung auf dem Schreibtisch, ziehen Verkehrsleichen aus den Straßengräben und nehmen dabei dutzende Kilo ab. Mannheim hat derweil offenbar eine Armee von 60.000 Vorbildern aufgestellt, die die Schurken des Alltags durch ihre einzige Superkraft „Schlechtes Gewissen machen“ besiegen sollen.
Ich hingegen bestelle hier noch ein Bier, bevor ich um vier Uhr morgens lärmend durch die Anwohnerschaft bösewichtern, lächelnd die angefahrene Omi auf dem Zebrastreifen liegen lassen werde, um endlich und schnurstrack zur Arbeit, nämlich ins Uniklinikum zu fahren, wo ich ohne Gummihandschuhe die anstehende Transplantation (war es Niere?) durchführe.
Prost am Tisch.

Horst Schulze Entrum: Wie ich das Ozonloch stopfte

Der folgende Text ist mein allererster Action-Text. Und deswegen wollte ich den eigentlich mit der Synchron-Stimme von Robert De Niro sprechen. Aber das darf ich nicht. Reine Rechtefrage. Der Text heißt:
Wie ich das Ozonloch stopfte
Irgendwo da oben musste ein großes Ozonloch sein. Ich beschloss, es zu stopfen. Doch ich war wohl wieder mal ganz auf mich allein gestellt: Im neuen Y-Heft fand ich so schnell kein passendes Gimmick, und auf meine alten Freunde Chuck Norris und Bruce Willis musste ich verzichten. Denn die sind nur reine Fiktion und werden selber von richtigen Schauspielern gespielt.
Aber zum Glück hatte ich noch ein paar olle Edeka-Tüten, eine Packung abgelaufener BigBen-Kondome und die Perlmutt-besetzte Badehaube meiner Omma. So eine Erdenrettung muss gut vorbereitet werden.
Deshalb besorgte ich mir beim Praktiker auch noch eine Leiter, ein günstiges Set Inbus-Schlüssel und eine Tüte Gummibärchen. Die Leiter benötigte ich zum Besteigen, die Inbus-Schlüssel waren einfach nur günstig – ich würde sie nie im Leben benötigen. Und Köttbullar gibt es halt nur bei Ikea, und die verstopfen bekannter Maßen alles – nur bei Ozonlöchern machen die irgendwie schlapp.
Oben auf der Leiter tackerte ich erst einmal alle Edeka-Tüten zusammen. Das war gar nicht so leicht wie sich das jetzt wieder so anhört, weil bei diesem Billig-Tacker jede zweite Klammer völlig verbogen herauskam. Ich hatte ihn bei einem Preisausschreiben meiner örtlichen Volksbank gewonnen, doch nun war es zu spät, ihn zu reklamieren. Da ist die Volksbank immer ganz hartkackig.
Bei stumpfen Anspitzern sind die völlig kulant. Aber wenn man den Tacker einmal benutzt hatte, gilt für die das Verursacherprinzip. Und auf einen langwierigen Rechtsstreit wollte ich es diesmal nicht drauf ankommen lassen; meine einstweilige Unterlassungs Klage gegen Volksbank-Luftballons, mit denen man keine Furzgeräusche machen kann, zieht sich jetzt schon 16 Jahre hin.
Und hier oben auf der Leiter lief mir einfach die Zeit weg. Sie krümmte sich sogar bereits, weswegen ich Einstein auch nur eine kurze SMS schickte: „Albert, alter Schweizer, die Achse krümmt sich tatsächlich.“
Die Edeka-Tüten hielten prima. Aber in meiner Euphorie muss ich mich einfach vertackert haben. Über Afrika gingen mir plötzlich die Kondome aus.
Ich versuchte es mit Laminat. Bei den Stammzeiten hatte ich damals höllisch aufgepasst: lamino, laminas, laminat. Aber damit die ganze Sache auch dauerhaft hielt, benutzte ich sicherheitshalber das Futur Eins: Laminabo. Und über der Schweiz den Imperativ; Laminate: Ihr schichtet. Warum? Ich weiß es doch auch nicht. Wenn man auf einer Leiter im Weltall steht, macht man sich als allerletztes Gedanken darüber, ob sich das so souverän gerettete Publikum auch mal mit einer faden Pointe zufrieden geben könnte.
Glücklich, wenn auch ein bisschen geschafft, stieg ich schließlich wieder zur Erde hernieder, wo wir Menschen wohnen. Und da sah ich, dass ich versehentlich den gesamten Mond in ein fluoreszierendes BigBen-Kondom einlaminiert hatte: Jedes Mal wenn der alte Knabe abnahm, wurde auch die terrestrische Schutzhülle kleiner.
Doch das beweist wieder mal nur eins: Kondome sind nicht immer sicher. Und der Mond leuchtet nur, weil die Sex-Industrie die grandiose Idee hatte, erigierte Schwänze in attraktive Selbstleuchter zu verwandeln.

Natalia Breininger: Neon

Ich frage die Katze, ob sie genug gekotzt hat, ja, meint sie, aber ich noch nicht; mein Hals ist geschwollen, die Nase läuft, Hartz IV bald auch; irgendwie ist alles kaputt und angeschlagen, abgeschlagen, mit Lichtern und Raumfahrten dazwischen, Größenwahnphantasien und Existenzängsten, Beziehungswracks und unrealisierter Romantik, ich bin – so viele, dass ich es gar nicht halten kann, und draußen sind – so wenige: wer klopft an die Tür, der klopft an die Tür, ich gehe in Tangenten die Welt ab, Entropien wie Berge um mein Gehäuse, ich esse die Suppe, weil ich muss, und wache auf, weil ich nicht anders kann – nach dreißig stellt sich der Sinn plötzlich tot, und ich weiß nicht, ob das schlecht ist – am Nullpunkt ist immer Ruhe, die besser scheint, als Amplituden der langweiligen Wiederkehr: Karriere machen, fragt mich einer, nein danke, antworte ich, ich wüsste nicht, worin und wozu, zudem niese ich ständig, oder bin kopfkrank, und nur die Sonne geht unter und ist schön und wieder auf und ist noch schöner, das ist alles, was sich zu sehen lohnt, und mit den Spatzen die Krümel zu klauen, und irgendwie zuhören zu können, ohne eine Strafpredigt zu halten, da zu sein, ohne nachlässige Ignoranz oder falsche Leichtigkeit – in Armut lebt es sich schwerer, aber auch ehrlicher, das Finanzamt zieht mir den letzten Teppichboden unter den Füßen weg: wie stellen die sich das eigentlich vor, wovon du leben sollst, fragt eine Freundin, ja, sage ich, weiß ich auch nicht, gar nicht wahrscheinlich – vor mir Berge und Mondkrater, über die ich zu lugen versuche: nur nicht unsichtbar werden, zurückgeworfen ins Negativ, auf sich aufmerksam machen, auch wenn der Globus vor meinen Augen riesig erscheint, ein Kreuz setzen, in Merkels Gesicht, um ihm klar zu machen: so nicht, meine Liebe, du hast keine Ahnung davon, wie wir leben, wer wir auch immer sein mag – die Verlassenen, Geflohenen und Entstellten, die Alten und die unglückseligen Künstler, die Hebammen oder einfach die mit einem vaginalen Loch zwischen den Beinen – was auch immer du mir erzählst, du kennst das Leben nicht, wo du Dostojewski liest und mit dem Masterabschluss putzen gehst, auf halben Stellen, wie halben Stühlen sitzt, desinteressiert und krank; ich weiß doch auch nicht, was mit meinem Körper los ist, oder mit meinem Herz, aber das Leben in diesem Land hat etwas Fahles, Glanzloses, ist fluoreszent, ich sehe, wie dort die Wärme evaporiert und keine Spuren hinterlässt, nur eine Fata Morgana – als wär sie nie da gewesen; ich lecke die eingefrorenen Fenster ab – draußen ist Winter, bald, und ein Jahr ging vorbei, nichtssagend und schwer, mit Gesellschaft dazwischen und der Einsamkeit, in buntes Neonlicht getaucht, kalt und schön – ein Licht, aus dem auch die Frauen kommen, die mir so ungleich sind, Bella, Gigi Hadid, Cara Delavigne, Rihanna, manchmal auch Heidi Klum, wenn sie nicht kreischt, ausgehungert und schön, mit Reichtum behängt, den sie hin und her tragen, wie Sträflingskugeln, Frauen, die zum Verkauf stehen, und irgendwie auch nicht, mit operierten, injizierten Gesichtern, die im Blitzlichtgewitter untergehen und von denen am Ende nur (ihre) Gespenster zurückbleiben: haben sie was gesagt, was gedacht, wer weiß das schon, dafür werden sie nicht bezahlt, sondern fürs Fitschlanknhappy, wie wäre es stattdessen mit Schlappfettnkrank, beides schenkt sich doch nichts und ist nur Ausdruck des Lebens, des Sterbens; ein Kreislauf, der vor sich geht, zusammen mit der Erdrotation und den Gezeiten, und viel mehr als das ist da nicht, obwohl – gestern hat ein Penner meinen Namen gewusst, oder es hat so gehallt, als ob, es hat mich entsetzt, er – in einer Güte, die mitten aus Verzweiflung erwächst: im Leiden noch Wärme geben, geht, geht ausgerechnet da, geht, während die Mode- und Unterhaltungsindustrie Mädchen castet, nach Farbe und Form und das Arbeitsamt neue Sklaven, der Klasse I, Klasse II in seinem asozialen Bürgerklassifizierungwahn heranzüchtet; Merkel erzählt mir irgendetwas davon, wie sie die Arbeitslosigkeit halbiert hat, aber nicht um welchen Preis, und welches Leben die Menschen fristen, in den Ghettos und der Peripherie in Armut, die unterm Strich aufs Gleiche hinausläuft, wie sie dann an Wochenenden in die steuerfreien Oasen des Starbucks strömen, in modischen Billigversionen und Masken aus perfektem Makeup, zum Schaumschlürfen und Kollegenbasching – für mehr reicht das Geld nicht, und im Vergleich dazu hat es selbst Kafka noch knallen lassen, war aber auch früher tot, so läuft es nun mal – wer ehrlich lebt, muss früher sterben – / ich rauchte meine Zigarette zu Ende.

Natalia Breininger: (My lost hometown #2)

Ich erinnere mich, an diesen Mann, wie wir nach Hause liefen auf der Brivibas iela, waren wir einkaufen, wahrscheinlich, meine Mutter hatte mich bei der Hand, ich war sieben und es war September, zu früh um Jacken zu tragen, aber nicht Pullover, Menschengewusel, und dann kommt aus der Kreuzungsecke, an der Gemüse und Blumen verkauft wird, ein Mann, er hat dieses weiche, menschliche Gesicht, das mich an meinen Vater erinnert und irrt ziellos umher, mein Blick senkt sich und er trägt diesen typischen Eastsidepullover, die es nur Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger gab, und ein burgunderroter Fleck zeichnet sich darauf ab, der immer größer wird, Blut, er stolpert und hält sich fest, stolpert und – die Ampel wird grün, ich schaue meine Mutter an, die mit seriösen Blick meine Hand fester drückt (ein Drogensüchtiger hätte ihn nach Kleingeld gefragt oder nach größerem und weil er zu lange brauchte, oder nichts, nicht genug dabei hatte, stach er auf ihn ein, munkelte die Nachbarin später an der Haustür zu meiner Mutter, als ich sie belausche), keine Spur von Panik, nur Spuren von Blut und hektisch werdender Menge, wir wechseln die Straßenseite, der Notfallwagen rollt ein, ich sehe den Mann niedersinken, aus der Ferne, die Sanitär rollen eine Trage heraus, er wird in den Krankenwagen gezogen (noch vor Ort operiert, dreieinhalb Stunden lang, die tiefsten Stichwunden, direkt in die Brust, kannst du dir vorstellen, Olga, dreifacher Familienvater… er hat nicht überlebt) und ich bin sieben und hab keine Angst, aber bete – ich bete vergeblich, dass er überlebt. Als wir zuhause ankommen und Nachbarin Tanja wieder geht, schaue ich aus dem Fenster und es tut mir – um dieses weiche Gesicht, diesen weichen, niedersinkenden Körper, der in den Händen des Chirurgen verblutet, unendlich leid.
(Epilog: Ich dachte, du erinnerst dich nicht, lächelt bedrückt meine Mutter. Da net, mam… ja pomnju. Pomnju vse.)

Andreas Lugauer: Das Videospiel der Kläranlage

2000 muss es gewesen sein, als ich in den großen Ferien zwischen achter und neunter Klasse zwei Wochen lang beim Gemeindebauhof arbeitete. Also bei derjenigen Einrichtung, die sich um alles, was im Ort so anfällt, «kümmert».
Zugeteilt war ich dabei dem Hermann. Hermann war Mitte 40 und Mitglied beim örtlichen Trinkverein «Fort Dimple» (Kenner kennen den gleichnamigen Whiskey). Da kam es sonntagnachts schon mal vor, dass er diesen als einer der letzten verließ mit den erstaunten Worten: «Ah ja, morgen ist ja Montag!»
Beim Bauhof war er zuständig u.a. fürs Mähen der örtlichen Grünanlagen sowie die Überwachung der gemeindlichen Kläranlage.
Am ersten Tag, an dem ich dort arbeitete, war er wohl etwas damit überfordert, dass ihm plötzlich ein Partner an die Seite gestellt wurde. Mit einem Einsatzfahrzeug des Bauhofs fuhren wir als erstes zur Kläranlage. Er wollte dort wohl anfangs der Woche mal wieder nach dem Rechten sehen.
Dort angekommen sollte ich mich zunächst einfach zu ihm ins gute Stübchen setzen, wo sein Kläranlagenwärterschreibtisch stand, ein Busenkalender hing und im Nebenraum die ganzen elektonischen Viktualienschränke für die Steuerung der Kläranlage aufgebaut waren. Weiter gab’s dann gerade nichts, einfach warten, bis sich was zu tun auftut.
Plötzlich ein Anruf. Hermann musste ausrücken, er wurde irgendwo gebraucht kurz. Mitzukommen brauche ich nicht extra, ich könne hier warten. «Da drüben in der Garage steht ein Besen – wenn jemand kommt, tust du halt so, als würdest du den Hof zusammenkehren.» Ich schwöre, ich lüge nicht! Die Anweisung lautete, so zu tun, als würde ich den Hof zusammenkehren.
Wenn mir jedoch langweilig werden sollte, dann könne ich ja was spielen. Und damit leitete Hermann DAS UNGLAUBLICHE ein: Wir gingen in den Nebenraum mit den Schaltschränken der Kläranlagensteuerung, wo er mir deren Farbdisplay zeigte. Dort drückte er ein bisschen herum und rief plötzlich ein Computerspiel auf. Kein Witz, ich schwöre!
Es war so ein altes Vierfarbspiel, in dem man ein Unterseeboot von links nach rechts durch einen Tunnel steuern musste und allerhand von oben und unten in die Fahrbahn ragenden Felsen auszuweichen hatte. Gewalt gab’s meiner Erinnerung nach keine, d.h. keine Gegner, die einen angriffen und auszuschalten waren oder so.
Jedenfalls dachte ich: «Geil ey, hoffentlich bleibt Hermann recht lang weg!», und aber auch: «Ich pack’s nicht mehr ey, das ist hier die Steuerung der Anlage zur Klärung der Gemeindescheiße, und da ist ein verdammtes Computerspiel drauf!» Videospiel sagte ich nie, immer nur Computerspiel oder, obwohl recht sperrig auszusprechen, Playstationspiel.
Auf den Gedanken, das Spiel zu beenden und Quatsch mit der Kläranlage anzustellen, kam ich leider nicht. Aber ich wollte ja beim Unterwasserspiel möglichst weit kommen! (Wie weit ich kam, weiß ich leider nicht mehr.)
Bevor Hermann wieder kam, schaute ich mir auch noch den Kalender an übrigens. Ein Glück, dass die Monate Januar–Juli nicht abgerissen, sondern nach hinten geklappt waren. Ob er «gut» war, weiß ich auch nicht mehr.
Ach, wo ich hier schon beim Erzählen bin, interessiert vielleicht die ein oder andere da hier auch noch: An einem anderen Tag nahm Hermann mich mit zum Rasenmähen. Er war derjenige, der mit dem coolen Rasenmähfahrzeug (mit Führerkabinchen!) seine Runden über die Fußballplätze zog. Dessen Lenkrad hatte so einen Knopf drauf, mit dem man so lässig einhändig lenken konnte.
Meine Aufgabe war es, mit dem Normalmäher (na toll!) die Stellen zu mähen, wo er nicht hinkam. Das war schnell erledigt und so ging ich zu ihm hin, um zu fragen, was ich nun tun solle. Dass ich «mal fahren» dürfe, sagte er leider nicht, aber: Ob ich eine Halbe Bier möge. Wie alt ich sei, 14, «ja OK, aber du musst mir versprechen, davon nicht betrunken zu werden.»
Das versprach ich ihm glatt und saß sogleich mit einer Halben Karmeliten Klostergold auf einer Bank.
Ein andermal waren die Rasen auf den örtlichen Kreisverkehrinseln zu mähen. Hermann fuhr mich zu den Inseln hin, wir luden alles ab, dann fuhr er wieder und beschied mir vorher: «Mähst alles fertig und wartest dann halt, bis ich dich wieder hole.» Naja, so Inseln sind schnell gemäht, Hermann ließ sich aber immer gut Zeit. Und so saß ich dann leicht mal 20–30 Minuten auf einem dieser halbmeterhohen Kreisverkehrbegrenzungssteine herum und langweilte mich fürchterlich. Es gab damals ja noch kein mobiles Internet, wie wir es heute kennen! Und deswegen – hier schließt sich der Kreis und schießt alles zusammen, Freunde – kann ich auch leider keinen Screenshot posten heute.
Ach, und einmal durfte ich sogar einen der Rasenmäher steuern, die einen Antriebsmotor hatten. Aber das ist eine andere Geschichte. (Offenlegung: Dazu fällt mir jetzt nichts Interessantes ein.)

Roland van Oystern: Die geile neue Grafik

Deutschland: August 1992. Endlich war Ritschi wieder da. Er rief mich sogar an: „Du kannst vorbeikommen.“
Ich schwang mich aufs Rad. In Ritschis Zimmer waren die Rollläden runter, diesmal ganz. Es leuchtete aus der Glotze, dazu Gedüdel. Normal beim Konsolenspiel. Kannte ich schon. Dass der Senker da war, kannte ich auch schon.
„Echt jetzt?“, moserte das Vieh. „Du hast da einen nagelneuen Super NES und lässt deinen besten Kumpel nicht spielen?“ Was hatte Ritschi bloß mit dem? Nur weil er sein Nachbar war. Ständig hing der einem auf der Pelle. Befruchtete mich null, der Typ. „Dass du den kleinen Scheißer lieber nicht ranlässt, kann ich ja verstehen, aber …“
„Ey, sülz mich nicht voll, Senker. Ihr müsst mich auch verstehen. Ich hab das Ding heute angeschlossen. Ich kann auf keinen Fall heute schon abgeben. Zuerst dachte ich, okay vielleicht. Aber ey, geht einfach nicht! Ich muss das locker erst mal eine Woche allein spielen. Vielleicht kann ich Ende der Woche mal abgeben, weiß ich jetzt noch nicht. Ihr könnt eigentlich schon froh sein, dass ihr zuschauen dürft. Ey, andere würden was darum geben, wenigstens zuschauen zu dürfen. Wenn’s euch nicht passt, könnt ihr ja draußen Würmer sammeln.“
Das galt aus meiner Sicht alles nur für den Senker. Ich wollte gar nicht drankommen. Ich bin bei der alten Konsole schon ein paarmal drangekommen, da war ich immer sofort Game Over. War mir ganz recht, nicht dranzukommen.
„Ey, das ist so abgefahren, wie ich gestern ernsthaft noch geglaubt hab, der NES hätte ’ne geile Grafik! Den kann ich halt wegwerfen jetzt. Oder einem von euch verkaufen. Obwohl, Raini hat ja keine Kohle als Erstklässler. Bekommst du jetzt eigentlich nicht mal bald Taschengeld? Bisschen was ist der nämlich schon noch wert. Was ist mit dir, Senker? Wenn man nicht an die geile neue Grafik gewöhnt ist, bringt’s die alte auch. Direkt schlecht ist die ja nicht. Für ’nen Hunderter geb ich ihn her.“
„Ey, ich hab keinen Hunderter!“
„Überleg’s dir. Du kannst jetzt gehen, dann gewöhnst du dich nicht an die neue Grafik. Ist vielleicht besser.“
„Ich hab keine hundert Mark.“
„Ich weiß genau, dass du noch mindestens Hundert hast. Letztes Jahr Weihnachten hast du Hundert gekriegt und dir seitdem so gut wie nichts gekauft. Da sind locker noch Siebzig übrig. Dann gab’s zum Geburtstag Fünfzig, damit hast du eh angegeben, und obendrein noch die ganze Firmungskohle! Weiß der Geier, wie viel du da noch übrig hast. Du bist echt so ein Lügner, Senker.“
„Bin ich überhaupt nicht!“
„Und wo ist die Kohle dann? Hundert Mark sind echt gar nichts, neu kostet so ein Teil viermal soviel! Weißt du, was andere gebraucht noch haben wollen? Hundert Mark sind der absolute Freundschaftspreis. Weißt du, was mich das kostet, doppelt so viel dafür zu kassieren? Das kostet mich ein müdes Arschrunzeln!“
„Ich hab trotzdem keine Hundert.“
„Lüge.“
„Nein, ehrlich.“
„Was hast du dann mit der Kohle gemacht? Sag schon.“
Der Senker kirchenstill. Senker und das Schweigen im Wald. Und gleich im Anschluss: Senker und das Schweigen im Wald Teil 2.
„Ey, sag schon, du Krüppel!“
„Zufällig ist die Kohle auf der Bank, fest angelegt!“
„Bist du bescheuert? Du hast die ganze Kohle angelegt?“
„Das war nicht meine Entscheidung!“
„Auf wie lang?“
„Was weiß ich.“
„Sag schon, auf wie lang?“
„Ich komm da nicht mehr ran. Ich kann auch nichts machen.“
„’ne schöne Pfeife bist du. Und ich bleib jetzt auf dem Ding sitzen, oder was?“
„Sorry, Mann.“
„Von wegen sorry, du hast deine scheiß Kohle doch absichtlich zur Bank gebracht!“
„Gar nicht!“
„Ja ja, sülz mich voll.“
Ritschi drückte auf Pause. Der Senker fläzte im Sessel, ich saß neben Ritschi auf der Couch. „Okay, ich brauch eine Verschnaufpause!“ Ritschi ließ seine Finger knacken, das hätte ich auch gern gekonnt. „Nach einer Zeit tun dir richtig die Knöchel weh, glaubt’s mir oder nicht, da hilft bloß ein bisschen Sport!“ Zack, sprang er auf die Couch, streckte sich bis zur Decke, setzte sich auf meinen Kopf und drückte einen ab.
„Hey!“, rief ich.
„Der drückt mich nicht mehr!“
Der Senker johlte, kriegte sich kaum noch ein: „Olé, olé. Bumsbomber, olé!“
„Ruhe jetzt“, sagte Ritschi. „Weiter geht’s!“
Und weiter ging’s. In meinem Schädel merkte ich die Vibration. Da war sie: ganz schwach, aber da. Ich hatte noch nie einen Furz auf den Kopf bekommen. Wäre es nicht blöd gemeint gewesen, hätte es sich vielleicht sogar gut angefühlt.

Andreas Lugauer: Wetterbericht

Und nun der Wetterbericht für morgen, Montag, den 10. Dezember:
Vormittags ist es heiter bis wolkig, der Wind weht schwach aus wechselnden Richtungen. Am Nachmittag treten vereinzelt Kieselschauer und Schwefelgewitter auf, abwechselnd gefolgt von flächendeckenden Feuerstürmen und Pestwinden am Abend. Die Flüsse führen vormittags Essig und ab Mittag Galle, abends Quecksilber. Die Temperaturen: vormittags Höchstwerte um 18 Grad, ab Mittag Hitze wie in der Sauna (finnisch, ganz oben) bei sinkender Luftfeuchtigkeit.
Nach einem rasch aufgezogenen Kältesturm mit schwallartigen Eisregenschauern, Harnsteinhagel und Kugelblitzen zur Abenddämmerung weht nach Sonnenuntergang kaum mehr ein Windhauch. Es herrschen eisige Stille und noch eisigere Temperaturen. Die Flüsse stocken zäh. Der Pestnebel gefriert über dem Boden. Asche regnet. Die Toten erheben sich aus ihren Gräbern und wittern die verbliebenen Todgeweihten. Kein Stern ziert das Firmament, der Mond sinkt schwarz. Menschen, Tiere, Pflanzen ersterben. Dunkelheit regiert.
Es fährt Freund Hein die Ernte ein,
Es freit allein der Sensenmann,
Es ziert die Erd’ nichts als Gebein,
Bar jeden Sinns sind ‹wo?› und ‹wann?›
Die weiteren Aussichten: Am Dienstagmorgen zieht das nächtliche Tief nach Skandinavien und macht den Weg frei für Warmluft aus der Sahara, welche uns einen herrlichen Arbeitstag bescheren wird! Dieses Hoch hält bis Freitag an, die Nächte werden weißbierkühl. Samstag und Sonntag dieselbe Scheiße wie morgen.

Elmar Tannert: Ins Land der Franken fahren

In den guten alten Zeiten klang das Wort „Budget“ nicht nur französisch-elegant, sondern durch das gedehnte „e“ am Schluss auch sehr großzügig: „Büdschee“. Im Zuge der Anglisierung Europas ist auch sein Stiefzwilling von der Insel bei uns bekannt geworden, den man genauso schreibt, aber barsch bellend „Batschitt“ spricht. Bezeichnenderweise hat sich das englische Batschitt in Koppelung mit dem Wort „low“ verbreitet, mit Vorliebe im Jargon der Cineasten. Ein low budget-Film ist, wie wir wissen, ein Film, der mit einem Minimum an materiellem Aufwand gedreht wurde.
Inzwischen sind wir soweit, dass Batschitt das „low“ gar nicht mehr braucht, um billig zu klingen. Eine Hotelkette hat dies als erstes bemerkt und flugs das Wort mit ihrem Namen kombiniert, und nun prangen die zwei Wörter, Hotelname plus Batschitt, an vielen grauen Gebäuden, die sozialistischen Plattenbau-Charme versprühen und oftmals in Gewerbeparks an Stadträndern auf verzweifelte Reisende mit schmalem Geldbeutel lauern – Leute wie mich also.
Die Gründe zu nennen, weshalb ich in Würzburg übernachten musste, und dies möglichst preisgünstig, würde hier zu weit führen. Kommen wir lieber gleich zur wesentlichen Feststellung, die ich etwa so umreißen würde: Ein solches Ausmaß an Trostlosigkeit auf gleichbleibend hohem Niveau, vom abendlichen Empfang am Rezeptionsautomaten bis zum industriell vorfabrizierten Frühstück, hatte ich für meine bescheidenen fünfzig Euro weder erwartet noch bisher so erlebt, nicht einmal in den Ländern, die man früher unter „Ostblock“ subsumierte. Um diesen Effekt zu erzielen, greift die Leitung des Hauses zu allen Mitteln. Ist man etwa nach Eingabe diverser Geheimzahlen ins Innere des Hauses vorgedrungen, oder, mit anderen Worten: Hat man per Kreditkarte das Zimmer bezahlt, ohne vorher prüfen zu können, wofür man sein Geld ausgibt, wird man bunter Broschüren ansichtig, die sich mit liebevoll ausgewählten Abbildungen der Würzburger Altstadt als besonders wirkungsvolles Kontrastmittel erweisen, um dem Gast vor Augen zu führen, in was für einer architektonischen Zweckmäßigkeitshölle er da gelandet ist.
Es fehlt dieser Sorte Hotel eigentlich nur eines: Der vollautomatische Gastroboter, der an rauhen Winterabenden noch frohgemut durch die zugigen Straßen des Gewerbeparks flaniert, um, bevor er sich zur Ruhe legt, seine Seele an den lauschigen Autowerkstätten und Speditionshöfen zu erbauen und seinen Hunger im drei Kilometer entfernten Schnellrestaurant zu stillen, und später, in seine Zelle zurückgekehrt, selig über dem Faltblatt einschlummert, das ihm eine Karriere als selbständiger Franchise-Hotelierroboter anpreist. Den menschlichen Gast dagegen versetzt die Lektüre in Weltuntergangsstimmung, denn nun hat er die Gewissheit: Dies Hotel, in dem er nächtigt, ist nicht etwa durch ein bedauerliches Versehen zustandegekommen, ist kein einmaliges Missgeschick, dessen Ausradierung kurz bevorsteht, sondern wird sich noch in unzähligen weiteren Exemplaren über die Welt verbreiten, wird Reisende mit vermeintlicher Preisgünstigkeit in Zimmer locken, aus deren Fenstern man sich stürzen möchte, und mit seiner puren Existenz den Begriff „Gastlichkeit“ verhöhnen. „Sowas lebt“, ist der letzte Gedanke des Reisenden, bevor er sich im Elend seiner sterilen Herberge, die ebenso artgerecht ist wie der Käfig einer Legebatterie, in den Schlaf weint, „sowas lebt, und das Parkhotel in Fürth musste sterben …“
Ein Batschitt-Hotel wird niemals sterben. Jeden Tag Punkt zehn Uhr vormittags, wenn der letzte Gast das Weite gesucht hat, wird es durch einen ausgeklügelten Mechanismus in die Hölle hinabgesenkt und von armen büßenden Seelen in seine Einzelteile zerlegt, mit siedendem Schwefelwasser gereinigt, desinfiziert und pünktlich zum Check-In am Nachmittag wieder zusammengesetzt und an die Erdoberfläche gehoben. So wird es mitsamt seinen Artgenossen die Zeiten überdauern, immerdar, und falls das nicht stimmen sollte, dann versteht es zumindest perfekt, den Anschein zu erwecken, als ob es so wäre.
Nichts gegen ein kleines Budget – aber vielleicht sollte man vom low budget-Film hin und wieder auch den künstlerischen Anspruch übernehmen. Damit die Realität nicht zum schlechten Film wird.

 

Franz Walser: Erstis verteidigen

Das hier ist ein Plädoyer für Erstis. Für die Innenseiter, für die, die es bald geschafft haben werden. Ich will sie endlich nicht mehr angreifen, sondern zumindest ein Mal in Schutz nehmen. Seit Jahren zieht man über sie her, Facebook-Seiten werden gegen sie erstellt, Hetze oft großgeschrieben. Sie sind Lachnummern und wir finden es gut. Warum eigentlich? Haben wir sonst nichts, worüber wir uns lustig machen können?
Waren wir nicht alle mal Erstis? Ich zumindest schon. Dreimal sogar. Kann ich weiterempfehlen, die Straßenbahn ist kostenlos, das Alkoholproblem auch (fast) man lernt neue Leute kennen und irgendwann ist man routiniert und garnix ist mehr peinlich.
Betrachtet doch ausnahmsweise die andere Seite, ihr Lieben. Hey, es ist wirklich nicht einfach. Jahrelang von Helikoptereltern großgezogen. Maßnahmen zu jedem Dreck in der Schule, Gewaltfreie Kommunikation zu erlernen ist überhaupt das Wichtigste. Zum Essen gibt’s Grünkernküchle (alter ich werd wütend wenn ich nur dran denk nix gegen Gemüse aber im Ernst was is los manchmal) und Schnitzel von Kälbern, die bei Vollmond zu Tode gestreichelt wurden. Und alle in der SMV mitgemacht, mit Leuten, die man seit der fünften Klasse kennt, außer Johnny, der war schon im Kindergarten mit am Start. KOMM EY! Kein Wunder, dass man da im ersten Semester gar nicht zurecht kommt mit uns abgebrühten Langzeitstudierenden. Das dauert halt einen Monat oder zwei, bis das gesparte Geld von Omas Abigeschenk verballert ist und man sich zum ersten Mal für das Billigpesto entscheiden muss. Das Saufverhalten passt sich auch erst nach der dritten WG-Party an und ey, dass der AK gegen Rechts mehr die Billovariante von der Jugendantifa ist und die geilen Leute da wenig Bock drauf haben und lieber in der Pilsbar ihren Lohn aus der Kneipe versaufen – das sind Lebenserfahrungen, die brauchen Zeit, da muss man sich erstmal drauf zu entwickeln, bis man ausreichend abgestürzt ist und keine Lust mehr hat auf die ganze soziale Scheiße, weil eh alles unausweichlich den Berg runter geht. Ausgrenzung von Eingegrenzten, nennt sich das, was da betrieben wird mit den Erstis, und es gefällt mir nicht.
Apropos Mobbing gegen Menschen, die alles haben: Work’n’Travel-Kids. „Boah voll schwer wieder deutsch zu reden, ich hab voll die Wörter vergessen, like seriously!!“ Ja, da haben wir alle schon herzlich drüber gelacht; diese Vollidioten, ne, haha. Perspektivwechsel: Da hängt ein Mensch, ausgestattet mit allem, was die gehobene Mittelschicht zu bieten hat, ein Jahr in einem anderen Land ab. Da gibt es dann auch alles, was man „von daheim“ schon so kennt: Freie Wahlen, schöne Natur (Räuberhose nicht vergessen), Großstädte, fremdenfeindliche Innen- und Außenpolitik, und Google. Man kann sich wirklich nicht beklagen. Okay, Riesenspinnen und Krokodile. Sonst chillig. Nach diesem Trip kommen die Leute zurück und beherrschen ihre Muttersprache nicht mehr? Ich lache da nicht drüber, ich mache mir Sorgen.
Ich stelle das jetzt mal ganz offen in den Raum: Gehen wir auf diese Menschen zu oder grenzen wir sie aus? Wollen wir so den Weg beschreiten, den Friedrich Merz uns bereiten wird, ist das unsere Vorstellung vom schönen Leben? Wo ist sie denn, unsere Willkommenskultur? Hey Ersti, komm‘ her, ich lad‘ dich auf ’nen Fernet ein und danach erzählst du mir was von Kängurubabys. Du zahlst mir ein Pils und ich erklär‘ dir, warum die Gesellschaft nicht das Stück Dreck ist, für das du sie mit 14 gehalten hast, sondern noch viel, viel schlimmer. Wird ’ne wilde Nacht am Tresen und danach schicken wir die Selfies nur uns selber.

Tibor Baumann: Im Fluss ist es still

And am I born to die?
And lay this body down?
And as my trembling spirits fly Into a world unknown
A land of deeper shade
Unpierced by human thought
The dreary region of the dead
Where all things are forgot

David Tibet / Current93 Idumae,
Black Ships ate the sky

Die Nacht umschloss sternenklar das Land.
Wie drohend schwarz-lilane Wolkenberge, die sich stürmend den Horizont erobern, versank er mit all seinem Leben, sein ganzes Ich, in einem Strudel, der ihn stumm wie den Kosmos machte. Mit kaltem Wind die Ahnung des kommenden Sturms, wie das Grollen, herannahender, preschende Pferde einer Streitmacht. Und dann war es immer still; in dieser Stille flog er. Klares Wasser, das war es schon immer gewesen, Wasser, dass ihn umgab. Und die Wolkenpferde, die preschten voran, Steine versprengend, trugen sie ihn und waren doch nur Gischt und Schaum. Es verstummte sein Vater, der alte Adler; eine Sternschnuppe die aufleuchtend verglühte. Und letztlich fühlte er, wie er gezeugt wurde, eine Nova, ein Aufkeimen, eine Vereinigung und ein vergehender Prozess im Moment seiner Entstehung.
Edgar schlug die Augen auf und starrte in das im silbrigen Dunkel liegende Schlafzimmer. Sein Inneres war aufgewühlt wie aufschäumendes Wasser, das den Fels hinabstürzt. Neben ihm, tief in den weißen, gestärkten Laken schlief entrückt seine Frau. Edgar fühlte deutlich das Zimmer, das Haus, den großzügigen Garten, die Stadt, jeden Raum um sich herum, als wäre er in spiralförmigen Muscheln eingebettet, die ein Außen kannten und doch kein Außen hatten, da sie sich in ewiger Wiederholung in einen neuen Raum verwandelten.
Edgar setzte sich unsicher auf, rückte auf die Bettkante. Über die breite Treppen, die dunklen hölzernen Stufen, schlich sich das Ticken der Uhr hinauf. Edgar hob den Blick und sah durch die Länge des Schlafzimmers, als ob er dem Geräusch entgegen sehen könnte.
Eine Weile saß er nur dort. Dann stand Edgar traumwandlerisch auf und verlies leise das Schlafzimmer. Nur eine schmale Shiloutte des Mannes, der am Tag so viel Macht und Kraft ausstrahlte.
Über die Balkonade die die beiden Flügel des Familiensitzes verband, ging er in sein Arbeitszimmer. Langsam, vorsichtig setzte er sich unter den ölfarbenen Augen des Familienporträts der Steins, in seinen Arbeitssessel. Sein Blick suchte etwas im Dunkel, an den Rücken der Bücher in den hölzerneren Regalen, in den rauschenden Blättern, die vor dem Glas der Fensterscheiben mäandernd das Mondlicht unterbrachen und wispernd von einem Draußen erzählten.
Plötzlich atmete Edgar ein, sich erinnernd dem Ersticken nahe zu sein, fliehend, sich an das Leben krallend, als wäre er beinahe Untergegangen, schöpfte er tief Luft.
Mit großen, festen Händen, strich er sich das dunkle Haar und die silbernen Streifen nach hinten. Ein Geste voll Würde, trotz des schief sitzenden Schlafanzuges. Dann knipste er die gelb schienende Schreibtischlampe an und zog mit energischer Geste die bereitgelegten Unterlagen zu sich.
So endete Edgar Steins Nacht bevor der Tag anbrach.
Es würde ein sonniger Tag werden; als ob der Herbst dem Sommer ein letzten, schwachen Glanz gewähren wollte, bevor das Grau sich über das Land legen würde.
Der alte Kern der Stadt thronte mit Schloss und Wehr über dem Fluss und verbarg die sich dahinter ausbreitende Bauten aus Stahl und Glas und die speienden Schlote, das Räderwerk, die Tonnen an Dingen und Material, die verschoben, genommen und wieder gegeben wurden, die sich in Betonadern ergossen, Schneisen durch das Grün und die Berge zogen, bis zur nächsten Stadt, dem nächsten Flughafen, den Bahnstrecken und den unsichtbaren Verbindungen der Menschen, die sich über alles legten: über Land, Fluss und Himmel, über Berge, Meer und Luft hinweg, hinein in die Ebenen der Impulse, der unsichtbaren Konstrukte der Metaphysik, der Gedanken und Informationen, in Überzeugungen und Willen gegossen, sinngebende Riesen ohne Körper, für die wieder aus Stein und Recht, aus Glas und Macht, gigantische Konstrukte und Türme und Mahnmale und Häuser und Plätze errichtet waren.
Die Kirchturmuhr schlug guten Morgen; auch an diesem Morgen. Ein Tag, der so wie jeder anderen im Strom der Zeit sich in die Abfolge aller Dinge reihte.
Tau netzte die Wiesen und Wälder deren Wipfel mit bunten Tupfen das Land färbten, die die Stadt einfassten. Wie ein Band zwischen Welten zog sich der Fluss am alten Kern aus mittelalterlichen Bauten entlang, erst weiß und wild, dann klar und blau und schließlich langsam und grün, die Stadt verlassen, in die Wälder verschwindend. Eine riesenhafte Schlange in ruhiger Bewegung, sich der eigenen Größe und Unumstößlichkeit dank der Anpassungsfähigkeit an Fels und Erde bewusst.
An diesem Tag, in dieser Stadt, an jenem Fluss, geschah der Anfang. Es geschah zum ersten mal. Nicht als Auslöser. Nicht in Verantwortung. Nicht als plötzliches Ereignis. Es geschah als Teil der Tatsachen, die sich aus dem mikroskopisch kleinsten Zusammenhang und denen kosmologischen Ausmaßes entwickeln. Unweigerlich und vollkommen; variabel, die Welt, die uns immer solche Angst gemacht hat, da sie, um so tiefer wir in sie blicken, ohne formende Macht, sich selbst bedingt und hervorbringt. Ein solcher Anfang war es.
Hätte jemand bemerkt, dass es hier tatsächlich zum ersten Mal geschah, hätten manche vielleicht von einem Auslöser, dem ersten Verlust, einer sich ausbreitenden Krankheit, vielleicht auch von einem Schuldigen gesprochen. Aber es war ein unbemerkte Anfang; das Gegenteil dessen, was sonst dem Ersten zugedacht ist:
Kein Ruhm, keine Ehrung. Kein Urteil und keine Anteilnahme.
Lilia und Edgar saßen an dem alten, großen Holztisch im Wintergarten, von dem der Blick über den wilden, großen hinteren Gartenteil schweifen konnte. Die bunten Köpfe der Eichen leuchteten bunt und die Sonne fiel glitzernd auf das Paares.
Lilia durchforstete ihre Nachrichten auf dem Tablet, trank gesüßten Kaffee und aß Obst und Nüsse zum Frühstück. Immer wieder sah sie auf und musterte heimlich forschend, ein wenig besorgt, nach einem Moment suchend, da sie seinen Blick fangen konnte, die Züge des Mannes, den sie so gut kannte. Edgar sah nicht auf. Es war keine Missachtung. Er war schon in seinen Tag verstrickt, las die Berichte zu den Vertragsmemo noch einmal und durchsah abwechselnd die morgendliche Zeitung, während er grünen Tee trank. Das Essen ignorierte er. Einer jener Morgen, an denen er nach einer Aufforderung Lilia etwas zu essen erwidert hätte, dass ihm das Leben bis in den Rachen stünde und sich sofort übergeben müsse, wenn er jetzt esse.
Die Keramik klirrte leise, als Lilia ihre Tasse abstellte. Edgar verwarf wieder die Zeitung. Sanft legte sie ihre Hand auf seine.
„Ich nehme den ersten Flieger wieder zurück.“, lächelte sie ihn ernst an. Edgar runzelte die Stirn.
„Nimm dir Zeit. Leopold freut sich.“, erwiderte er wegwischend. Er entzog seine Hand und leerte seine Tasse. Forschend sah sie ihren Mann an, der Aufstand und das dunkelblaue Sakko anzog, die Manschettenknopf gehaltenen Hemdaufschläge hervorzog, die Weste zurechtrückte, den linken Arm schüttelte und so die Uhr an ihren Platz brachte.
Seine strenge Haltung verriet nichts. Aber Lilia kannte ihn nun schon zu lange. Seine innere Unruhe war wie ein dunkles Tier, das im Augenwinkel lauert. Als wäre da eine Vorahnung, die er nicht zu benennen im Stande war.
Mit flachen, festen Händen strich er die dunklen, silber durchzogenen Haare zurück. Sich aufrichtend, sah er von den Papieren, dem Tisch auf, hinaus, in die Ferne. Seine Habichtgestalt warf den Schatten lang in das hinter ihm liegende Haus.
Mit einer Absage in der Geste griff Edgar nach dem Memo, der Zeitung, schob es in seine Ledertasche. Die Hand auf ihrer Schulter, küsste er Lilia auf die Stirn.
„Sag dem Jungen, ich bin stolz auf ihn.“ Lilia sah Edgar erschrocken an; es war ein Abschied. Ihre Hände legten sich kurz ineinander und das so vertraute Gefühl, den jeweils so ungleich empfundenen, aber geliebten Menschen gekannt zu haben, legte einen Zufriedenen Moment in die Gesichter der beiden. Und betonte die Vergangenheitsform, das Gefühl des geschehenen und nicht im Moment sich ereignenden. Edgar nahm Hut, Mantel und Tasche von der Garderobe und seine Schritte verhallten im langen, hohen Flur und verschwand nach draußen. Lilia konnte durch den schmalen Galsstreifen in der hohen Türe sehen, wie der Fahrer hinter Edgar die Türe des Wagens schloss. In seltsamer Art war das der letzte Blick, den sie auf Edgar legte.
Der Fahrer lenkte mit ruhiger Hand den Wagen, der wie ein schwarzes Schiff durch den Verkehr glitt. Edgar besah sich die Welt, von außen, getragen, durch das Vehikel. Die Unterlagen lagen nutzlos in seiner Hand, auf seinem Schoß verstreut.
Er blickte hinaus und sah das Treiben, das vorüber zog, wie ein getragenes Theaterstück.
Edgars Vater war ein strenger, aber liebevoller Mann gewesen, der von seinem einzigen Sohn – bedingt durch den Kindstot des ersten und dem tragischen Unfall, der Mutter und Tochter dem Leben entriss – alles verlangte. Bedingungslosen Erfolg und absolute Hingabe an die Familie und das Leben, also, alle Handlungen und Unternehmungen, die nicht geringer als groß sein durften. Edgar wusste schon früh um seine Privilegien – und das sie nichts wert waren, wenn man nichts damit tat:
„Dein Aufrechter Gang ist ein Geschenk der Evolution, Edgar.“ Sein Vater hatte wie ein alter Adler über den jungen, schmalen Edgar gebogen. „Dank dieser Entwicklung, hat dein Körper die Fähigkeit Energie umzusetzen, die ein so komplexes Gehirn füttert, das zu solch erstaunlichen Leistungen fähig ist.“, fuhr er fort. Es war ein Sonntag gewesen, der Vater im schwarzen Anzug. Tee auf einem Tablett. Ein schweres Buch auf dem kleinen Gartentisch. Der Siegelring an der krallenartigen Hand des Vaters, da er mit dem Zeigefinger auf die Stirn des keinen Edgar tippte, bestimmt, aber frei von Gewalt. „Wir können sprechen und denken und die Welt mit unseren Sprache anreichern; wir denken und formen die Welt, weil wir uns organisieren.“ sagte er mit tiefem Bass und griff die Hände, die kleinen Hände, mit seinen großen:
„Verstehst du?“ Das Haar stand Edgar ein bisschen wirr vom Kopfe, mit dem er ernst nickte. Der Vater strich ihm lobend über die Wange. Stolz den er sparsam ausgab.
Edgar schloss sein Architekturstudium mit Bravour ab und nicht, weil er der beste in den mathematischen Grundlagen, den statischen Eventualitäten oder in der historischen Betrachtung der Errichtung war, sondern weil er es zu einem neuen Gedanken zu konstruieren wusste. Edgar war noch keine dreissig Jahre, als er die Architektur mit dem Gedanken der strukturellen, zivilisatorischen Errichtung verknüpfte. Seine Überlegungen nutzte er um ein Architekturbüro aufzubauen, dass global und anthropologisch dachte. Das Errichten von Häusern, Brücken, Tempeln, das Planen von Netzen und Zusammenhängen von Behausung und Netzwerk, wurde in Edgars Händen mehr als die Planung von Bauunternehmungen. Es war die Idee der Überlegenheit des Menschen; die Architektur als Beweis, wofür anderen Götter, Propheten, Lenin, Kapital oder Erfolg benötigten. Er zog die Menschen in seinen Bann, mit seinen Ideen, seinem Blick und um so älter Edgar wurde um so mehr wurde aus dem Habicht der alte Adler, der mit scharfen Verstand und geschliffenen Worten die Menschen um sich herum mit seiner Idee zu verbinden wusste.
Die Mitarbeiter von „Stein&Stein“ waren Teil einer Idee; seiner Idee der Welt, auf die jedes Bauwerk zu einem besseren Nutzen und größerer Schönheit, effizienter Nutzbarkeit und klarer, zivilisatorischem Überlegenheitsbeweis führte. Architektur und Zivilisation, das Zeichen der Herrschaft des Menschen, ein Alleinstellungsmerkmal, dass es immer wieder neu zu denken galt. Von der hoch bezahlten Managerin bis zum letzten Putzmann, waren sie Teil einer Gemeinschaft, denen Edgar weltweite Privilegien einräumte, Wohn- und Reisemöglichkeiten, Bildung und Entwicklungsmöglichkeiten – im Sinne seiner Idee, die zur Bewegung wurde.
Er errichtete mehr als Gebäude. Er organisierter die Menschen, mit seiner Idee errichtete Edgar Stein eine Gemeinschaft im Glauben an die Geschichte, den Mythos. Von Erfolg waren all die großen Unternehmungen gekrönt, weil Gemeinsamkeit ansprach, die zu Identität durch Zugehörigkeit führt.
Edgars Arbeit führte ihn virtuell über drei Kontinente und in verschiedenen Lebenskontexte. Die Projekte und Absprachen mit hoher Priorität leitete er immer noch selbst. Edgar brachte diese Idee mit sich, wie eine Präsenz, die an ihm, seiner Haltung, seiner Wortwahl hing; der Mythos, die Geschichte die ihn durchdrang öffnete ihm und seinen Unternehmungen Tür und Tor.
Edgar sah auf; der Wagen hielt leise an einer Ampel, deren rotes Licht sich spitz auf die Gestalt des Fahrers legte.
„Ben, drehen Sie um.“ Edgars Stirn lag in Falten. Als wüsste er nicht genau weshalb, aber doch, dass es richtig war. Energisch legte Edgar die Unterlagen zur Seite.
„Fahren sie mich in mein Atelier.“ Der Fahrer nickte knapp und wendete mit grünem Licht den Wagen in die entgegengesetzte Richtung.
Jenes Haus, das Edgar als sein Atelier bezeichnete, hatte er als Ruine erworben, um es neu zu beleben. Jeden Strich, jede Leitung, jedes Stück Putz, alles hatte er selbst getan. Und im Tun, hatte er seine Gedanken ordnen können, die wilden Gedanken eines jungen Menschen. Und geordnet hatte er die Idee entwickelt. Hier hatte ersten Grundstein für sein Imperium, seine Auffassung, seine Geschichte zur Welt errichtet, während er das Haus neu erdacht und erbaut hatte.
Das Haus war schlicht eingerichtet, ein Gegenentwurf zu dem, was ihm das Erbe seiner Familie aufzwang. Keine pompöse, dunkel-eicherne Vergangenheit; Edgar hatte die alte Bausubstanz mit neuen, klaren Linien vereint, die in Glas mündete, so dass der vorbeiziehende Fluss, die wogenden, Bäume, das Gras des sanften Abhangs, der sich über die Wipfel spannende Himmel, Teil des großzügigen Hauptraumes werden konnten.
Edgar stand kaum atmend inmitten der Stille. Den Fahrer hatte er fortgeschickt. Starr, mit kurzen Bewegungen suchten seine Augen, irrten zwischen dem kleinen Tisch, dem dezenten Sofa, dem Draußen, hin und her. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als mochte es sich dafür entscheiden ihm herauszuspringen. Zu beenden, was es vorantreibt, voran, immer nur voran, immer diesem einen, diesem bestimmten, diesem letzten Schlag entgegen.
Vage erinnerte er: fernes grollen; schäumende Pferde, das Vergehen eines hellen Sterns.
Losreißend trat Edgar an die lange Glasfront. Mit leisem Klick löste sich der Hebel und mit elegantem Geräusch glitt die Tür zum Garten, zum Fluss, zur Seite. Der Wind griff nach dem Raum, zerzauste Edgars Haar. Das graue Sakko klappte nach hinten. Edgar trat auf das feuchte, grüne Gras, auf dem bunte Blätter getupft waren. Edgar folgte einem schmalen Weg aus flachen Steinen; in seinen Augen spiegelte sich plötzlich eine Sicherheit, ein folgsamer Instinkt, der ihn leitete, auch ohne zu Wissen wohin.
Zuerst an seinem Grundstück entlang, wo sich nach einer gemauerten Erhöhung der Holzsteg in den Fluss zog, dann zur Böschung wurde, als er durch eine geschlosserte Tür aus dem Grundstück trat.
Er war dem Fluss jetzt nahe. Das stete Rauschen des Flusses ließ ihm die Haare aufstehen; erotische Anziehung, mehr als Lust, aber Verlust des Bewusstseins. Der Pfad zog sich durch einige Büsche, die ihm in seinen Weg ragten, ihn sanft streiften. Das Wasser auf den welkenden Blättern hinterließ dunkle Sprenkel auf seinem Anzug. Und als sich die Büsche lichteten, wand sich der kleine Pfad noch ein Stückchen weiter, über einen Hügel, und verschwand dann nach unten.
Da schoss der Fluss entlang. Sein Herz schlug. Einmal muss es aufhören. Den Sinn erhält der erste Schlag davon, das ein letzter kommen wird.
Edgar trat auf den Buckel, den das Land aufwarf. Einige Schritte unter ihm rauschte das Wasser wild, wie jung, spielend, neckend, bald schäumend um Felsen und Brocken, schnaubte an den Rand seines Bettes.
Edgar trat die Schritte hinab und stand am Rand des schäumenden Gewässers. Die feinen, dunklen Herrenschuhe waren von einigen Sandkörnern hell getupft. Schmal ging Edgar in die Hocke und seine Hand hing in das Wasser, das eiskalt seine Haut zu einer dünnen Membran werden ließ. Trotzdem war er wie starr, die Hand im Kalten, den Blick auf das Weißwasser gerichtet, in dem schäumende Pferde davonstoben, nur um Platz für die nächsten, wilden Scharen zu machen.
Nur die kleine Bucht, an der Edgar stand, war ruhig, lud ein in den Fluss zu steigen.
In alten Zeiten hatten die Menschen sich davon erzählt, dass die Flüsse reinigen, dass ihr Wasser sanft davon trägt, was Unheil und Krankheit, was drohender Tod gewesen sein mag. Und Heilung nur dann erreicht ist, wenn das fortgespült, was von abgeschütteltem Siechtum übrig blieb. Die weißen Frauen und die Scharlatane, die Schröpfer und Pillendreher, die Doktoren der feinen Gesellschaft und die sich kümmernden Mönche, alle waren sie immer an diese Stelle am Fluss gekommen. Dem Wasser wurden Eiter und Verbände, Auswurf und geschröpftes Blut, Fäkalien und Schienen überlassen.
Fortgespült um dem Vergessen zu überantworten, was so viel Leid brachte.
Mit ruhiger Bestimmtheit entledigte sich Edgar seiner Kleidung; sorgfältig legte sie auf einen großen Quader in die Sonne. Dann stieg er ohne Erbarmen in das eisige, rauschende Wasser.
Die Kälte ließ ihn aufheulen. Seine Hoden zogen sich zusammen, die Haut spannte sich wie dünnes Papier über seinen ganzen Laib – tausend kalte Eisen durchgetrieben -, das Wasser wie ein Kokon. Das Rauschen erfasste ihn und er trieb hinab, entging knapp einem Felsen, ging kurz unter. Der Fluss rauschte gleichgültig. Edgar schnellte aus dem Wasser, das Haar hing ihm ins Gesicht, japsend spukte er Wasser, johlte etwas, ein Wort, einen Schrei, einen Jubel – und wurde von schäumenden Wasser erfasst wie ein Blatt im Sturm.
Nach einer großen Biegung, erschienen die hohen Spitze der Berge hinter den Bäumen. Die weißen Pferde und Fratzen aus Gischt verging in sanftes Strudeln; hell, in klarem Blau nahm sich der Fluss sein Bett. Mit entschiedener Kraft trieb er den Körper, den er umschloss, hinab; bis auf den Grund sah Edgar. Seine Füße im eiskalten Blau konnten den Grund berühren, streckte er sich. Im Vorbeigleiten berührte er einen runden Stein, der kurz und träge ein wenig unter Wasser rollte und wieder zum liegen kam.
Edgar hatte den wilden Lauf überstanden. Die Kälte trat zurück. Der Fluss trug ihn, schnell, aber gleichmäßig; vorbei an den letzten Häusern, dem Wald entgegen, der an den grünen Rändern des Flusses begann. Die Wipfel rauschten sanft und einige Blätter fielen in das durchsichtige Wasser.
Edgar machte einige Schwimmzüge und und brachte sich in die Mitte des Flusses, drehte sich vertrauensvoll auf seinen Rücken. Den Blick nach oben, trieb er dahin. Ein Vogel durchkreuzte den blauen Himmel, in Richtung eines Wolkenbergs. Edgars schlanke Gestalt war jede Anspannung genommen. Sein Geschlecht, seine Beine, seine Armee, glitten immer wieder sichtbar zur Wasseroberfläche, hielten sich natürlich im Gleichgewicht. Sein Blick war klar und ruhig.
Der Fluss nahm eine weitere Biegung und wurde tief und ruhig, von dunklem Grün. Und ohne ein Geräusch, ohne, dass es einen Moment des besonderen Ereignis gegeben hätte, verschwand Edgars Körper im Wasser, nach unten, zuerst blasser werdend, dann ganz und gar fort, so dass nur das träge Grün blieb.
Am Ufer hatte ein Alter Baum sein Haupt müde geneigt und einige Äste ragten ins Wasser, in ewiger, nie ausführbarer Vorwärtsbewegung gefangen. Die Wurzeln des Baumes entstiegen der Erde und krallten sich an einen Felsen, der trotzig seine alte, bemooste Haut aus dem Fluss aufhob.
Edgars Hände griffen aus dem dunklen Grün an den Fels. Zwei körperlos Arme. Krallend hielt er sich fest und zog seinen nackten Körper hinauf. Haut auf Stein, das Moos war weich.
Dann saß er dort. Die Sonne fiel durch das Blätterdach. Auf seiner Haut perlte das kalte Wasser. Er öffnet den Mund. Alle Worte waren ihm entwichen, alle Geschichte. Kein Mythos, kein Überzeugung.
Vögel stiegen auf – vielleicht erzählten sie sich vom Tag an dem Edgar die Idee der Geschichte, von Linie und Bau verlor:
Es saß ein nasser Mensch auf einem Stein und trank die Wärme der letzten Herbstsonne.
Edgar Stein wurde zwei Tage nachdem er auf dem Stein gesessen hatte von einer Polizeistreife in seinem Atelier aufgesucht. Frau und Sohn hatten sich Sorgen gemacht, er hatte Termine verpasst, war nicht erreichbar gewesen und auch in seinem Sportclub nicht aufgetaucht.
Die Polizei konnte aber nichts weiter feststellen, meldete aber, dass Edgar Stein nicht verschwunden sei. Aber auf gewisse Weise irrte man sich.
Lilia fand ihren Mann nicht wieder. Edgar wusste alles, kannte sie, aber er konnte nichts mehr von dem aufrechterhalten, was er einmal gewesen war. Etwas schien an ihm zu fehlen; er verstand seine eigene Firma nicht mehr, das Band zwischen den Meilensteinen, die er geschaffen hatte, die Verbindungen zu Menschen, die er nie gesehen hatte, die aber Teil des Stein Imperiums waren, all die Verflechtungen und die fundamentalen Erzählungen, die einmal aus ihm gekommen waren – verschwunden als würde man nach Tropfen aus einem Fluss im weiten Ozean suchen.
„Stein&Stein“ begann zu zerbrechen. Eine Notiz im Wirtschaftsteil.
Als Edgar Stein vor der Öffentlichkeit in die Einsamkeit und schließlich in den verwirrten Selbstmord floh, reihte sich diese Nachricht ein. Zuerst waren auch dies nur Randnotizen. Kurze Meldungen.
Als ein Attentat in der Hauptstadt nicht durchgeführt wurde, weil der junge Mann die Geschichten seiner Anführer vergessen hatte und damit auch den Sinn seiner Aufgabe, die sich in selbst gebauten Sprengsätzen um seinen Leib manifestiert hatten, begann die globale Gemeinschaft ihre Aufmerksamkeit auf das seltsame Verschwinden der Geschichten zu lenken.
Das Erschrecken kam, als Menschen mit Macht, in wichtigen Positionen, religiöse Führer, Konzernleiter, die in der Öffentlichkeit standen, Politiker und Kriegsherren den Sinn ihrer Geschichten verloren und die Zügel losließen.
Die Fälle häuften sich. Das Vergessen wurde immer größer.
Flugzeuge stürzten vom Himmel, Fabriken verwaisten, Züge standen still, das Internet wuchs nicht weiter, Menschen konnten nicht mehr mit mehr Menschen interagieren, als sie sich Gesichter merken konnten.
Unsere Fähigkeit, die uns überleben machte und uns die Geschichte erfinden ließ, wir seien die Krönung der Schöpfung – sie verschwand. Und die Erkenntnis, dass wir keine Krone sind, sondern verwoben, keine Herrscher, sondern Teil dieser Welt, dieser Tiere, dieser kosmologischen Momente, die sich genau zu uns hin entwickelt hatten um sich dann weiter zu entwickeln, diese Erkenntnis trat nie ein.
Wir hielten weiterhin unsere gesprochene Krone fest. Sprachen weiterhin als Herrscher und Bändiger, Bezwinger und Privilegierte.
Vom Ende der Welt wurde gesprochen und geschrieben. Von dem Untergang der Welt. Das Chaos wurde immer größer. Religionen versuchten die Ereignisse in ihre Erzählung zu integrieren, Halt, Trost oder den gerechten Zorn zu spenden; Wissenschaftler suchten fieberhaft nach Erklärung und Heilung, nach einem Modell des Verstehens. Die Politiker entwickelten Strategien, jene die gewählt werden sollten, erzählten ihre Geschichte, was sie tun würden um die verängstigten Menschen hinter sich zu vereinen, während versprengte Randgruppen ihre Stunde gekommen sahen und die verwirrten und alleingelassenen hinter sich sammelten.
Und dann verstummten auch diese Geschichten, die sich wegen der Ereignisse gebildet hatten.
Die großen Gemeinschaften zerbrachen. Die großen Unternehmungen verstummten. Langsam kam alles zum erliegen.
In dem Moment, da wir gezeugt werden, da Samen und Ei sich vereinen, beginnen wir. Ein Prozess. Ein Anfang eines Wunders aus exakten Gegebenheiten – das einem Ende entgegen sehen muss um diesen Anfang zu wagen. Ein erster Herzschlag meint, dass es einen letzten gibt.
Der Fluss entspringt und vergeht vergeht im Ozean. Und Edgar und dieser erste Moment, war vergessen im Meer der Ereignisse.
Der Fluss spült um den Felsen, der sein Haupt aus dem grünen Tiefen hebt.
An diesem Felsen trafen sich früher die Menschen um dem Fluss die Asche derjenigen zu übergeben, die in das Reich der Toten fuhren; eine Verbindung zwischen den Welt. Der Stein als Zeichen der Stelle, an der das fließende Gewässer den Übergang zu einer anderen Welt darstellt. Menschen kamen hier zusammen, um sich gemeinsam zu verabschieden, zu Trauern; Riten verbanden sie, selbst wenn sie sich nicht kannten, die Gemeinschaft wuchs und die Bedeutung wurde von Mund zu Ohr weiter und weiter gegeben.
Bis der Mythos dieser Gemeinschaft verschwand. Eine große, globale Geschichte, die wir uns immer wieder erzählten und die nun verblasst.
Es ruft ein Vogel im Wind. Der Fluss ergießt sich ins Meer und das Wasser vereint sich um aufzusteigen, zu jenen Wolken, die dem fliegenden Freund ein weißer Berg sein mögen. Wer mag sich schon erinnern?
Die Welt wird bleiben. Nur wir überqueren den Fluss. Und dann ist es ein Fels und ein Fluss, auch immer noch. Es wird nur eine weiße Seite bleiben.
Wer untergeht, der hinterlässt die Welt.


Erzähler: Felix Benjamin
Lilia/Stimme: Anja Gmeinwieser
Edgar: Chris Bellaj
Vater: Arthur Roscher

Musik:
Kai Engel
Jared C. Balogh
Daniel Birch